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Motherboard: Oktober 2022

Dass House, Techno und alles, was danach kam, zu diesem Zeitpunkt sämtlicher queeren, nichtweißen Wurzeln und Kontexte beraubt, vollständig kommerzialisiert und gentrifiziert sind, gehört zu den Gratisweisheiten, die in der Wiederholung zwar banal, aber leider nicht falsch sind. Dass es noch eine andere Sichtweise, persistent, underground und queer gibt, ist aber nicht weniger wahr. Im Discwoman-Zusammenhang weiß wo:man das sogar noch besser, fördert so brillante Produzent:innen wie Ariel Zetina, die als DJ in Chicago ein gut etablierter und hochgeschätzer Name ist und als Trans-Frau ihre Subjektivität in eben genau House, Techno und alles, was danach kam, legt. Die queeren und nichtweißen Wurzeln und Kontexte dieser Musik sind noch äußerst vital und laut und voll von Bedeutung. Sie werden gelebt und bewegen dabei die Hüften. Das macht Zetinas Albumdebüt Cyclorama (Local Action, 20. Oktober) nicht nur zu einem wichtigen Statement, sondern zu einem wunderbar frischen und zeitgemäßen House-Album in und außerhalb des Ballroom.

Malta mag nicht die erste, noch nicht mal die zweite oder dritte Insel sein, die spontan zum Thema mediterrane Elektronik einfällt. Good, You’re Here, It’s Time (100% Silk, 28. Oktober), Debüt des hiesigen Produzent Salvatore Munzone, sollte dies ändern. Aus erkennbar synthetischem Vogelzwitschern und Möwenkreischen, einer Drum-Machine ganz alter Schule und nach japanischer Vintage-Elektrik klingenden Pads wie gerade eben erst aus dem DX7 gezogen bastelt sich Munzone alias Malasso eine alternative Realität von balearischen Sundownern und Chill-House und schafft es, diese noch einmal klingen zu lassen wie neu.

Manche mögen sich fragen, warum in dieser Kolumne jedes noch so kleine musikalische Lebenszeichen der Tenniscoats einen Platz findet, sogar Reissues wie Tan-Tan Theory (Morr, 7. Oktober), das sie 2007 mit dem befreundeten schwedischen Ambient/Jazz-Trio Tape aufgenommen haben. Nun, es ist ganz einfach: die Tenniscoats sind musikalisch wie gesamtpersönlich die am wenigsten zynischen Menschen, die mir je untergekommen sind. Und nicht nur mir, denn offensichtlich haben sie ja in Markus Acher und Morr bzw. Alien Transistor ebenfalls Bewunderer und Freunde, die den unverstellten Humanismus ihrer warmen Klänge schätzen.

Ebenfalls sehr weit von jeglicher Bitterkeit entfernt spielt die Folktronica des Leipziger Gitarristen und Elektronikbastlers Markus Rom alias Oh No Noh. Nach einigen selbstverlegten Tapes ist Kanzi (Teleskop, 7. Oktober) so etwas wie sein Debüt auf einem Label mit höherer Reichweite. Die Spannung dieses hochinteressanten Neo-Glitch entsteht aus der Konfrontation der abstrakten, höchst verfeinerten Produktions- und Kompositionsweise (inklusive Roboter und Algorithmen) und der humanistischen Freundlichkeit und Simplizität der so aufwendig und durchdacht erzeugten Songs, die fast schon naiv wirken. Aber wie im Fall der Tenniscoats hat vermeintliche Naivität hier nichts mit Dummheit zu tun. Menschenfreundlichkeit und Schönheit sind eben Qualitäten für sich und an sich. Egal, wie artifiziell der Herstellungsprozess war.

Ohne den Frankfurter Ludwig Aaron Freimund Röhrscheid alias Ludwig A.F. ist der herbstliche Reigen der menschenfreundlichen Electronica allerdings noch nicht komplett. Denn der hat auf Air (Exo Recordings International, 7. Oktober) noch einmal (oder besser: schon wieder) alles aufgeboten, was das Genre seit den Neunzigern jenseits (und diesseits) von Aphex Twin und Boards of Canada zu bieten hat, in ein blitzsauber produziertes Album gepackt, das vielleicht einmal so etwas wie eine Referenz für Electronica werden könnte. Gerade weil nichts an diesen Stücken anders klingt als die alten Vorbilder, und doch spätvollendet über alle Vorbilder hinausgeht.

Kurze Anmerkung zu einem langen Album: Die Live Works (Lowfold Works, 9. September) des enigmatischen Yorkshirer Kraut-Modular-Synth-Wizards Craven Faults haben jetzt, um ein weiteres knapp 20-minütiges Stück erweitert, einen angemessene physikalische Veröffentlichung auf Doppel-Vinyl bekommen.

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