Better Together (Apron x Patta)
Better Together wird eröffnet von einem wahren Tusch, der eine Synthesizer-Ouvertüre einleitet und die Tür aufstößt zu einer selten-großartigen Compilation, für die sich die Labels Apron und Patta zusammengetan haben. Auf diesen die Geschmacksnerven öffnenden Opener von AshTreJinkins folgt mit System Olympias „Passi Mai“ ein Synthie-Pop-Kleinod mit dezentem und stilvoll bearbeitetem Gesang, gerahmt von gefühlvollen Akkorden. In einer Welt jenseits von Covid und militärischen Spezialoperationen würde solch ein Track die Pop-Charts anführen. Träum weiter? Aber sicher! Nur bestimmt nicht zu „Leven“ von Brassfoot, denn mit diesem Track kommt Leben in die Disco-Bude. Eine beschwipste Polizeisirene übernimmt den Groove, der Subbass das Standbein, und diverse wiederkehrende Stimmen sorgen für Struktur. Dieser Eingangs-Triptychon mündet in Shamos’ hyper-lässigem „737363“, in dem Acid-House durch mehrere Wände gefiltert auf eine ernste Bassdrum und tröstende Synth-Chords trifft. Die ersten vier Tracks des Albums sind geradezu beängstigend gut, da wirkt es fast ein wenig erlösend, dass Nummer fünf, J M S Khosahs „Lessons“ mit seinem durch den kompletten Track durchlaufenden Vocal-Sample etwas abfällt – was aber auch nur von notorischen Sample-Wiederholungsgegnern so empfunden werden dürfte, alle Liebhaber dieses Stilmittels werden dagegen gerade JETZT die Arme endgültig in die Luft reißen. So oder so, der folgende Track von Shy One bietet dann Erholung für die Sensibelchen unter der Hörerschaft, „Candy Floss“ ist freundlicher Beinahe-Easy-Listening-House, der Mr. Fingers ins Britische übersetzt und ein Gegenwarts-Update verpasst. Steven Juliens „E46“ verlängert diese Stimmungslage über Breakbeats mit einem leichten Schuss Melancholie, die sich in einer versöhnlichen kurzen und trotzdem wieder verschmitzt stolpernden Downtempo-Miniatur von nochmals AshTreJinkins auflöst. Mathias Schaffhäuser
Draw The Line (Semantica)
Ursprünglich sollte die Compilation Draw The Line ein Jubiläum des Madrider Labels Semantica begleiten, aber auch hier kam wie in so vielen anderen Fällen die Pandemie dazwischen. Labelmacher*in Enrique Mena Marin alias Svreca fasst dies in fast schon poetischen Worten zusammen: „This release was initially conceived as the 15th anniversary compilation of the label, but during the pandemic it turns into an anti-release. Draw the line to separate us against a plague of mediocrity.“
Mehr Informationen gibt es zu den zwölf Tracks nicht, keinen Info-Text, keine Marketingsprüche. Und so abgegriffen, wie der Satz klingt, so wahr ist er in diesem Fall doch wieder einmal: The music speaks for itself. Über drei Vinyl-Maxis entfalten Künstler*innen wie Jonas Kopp, Oscar Mulero, Claudio PRC & Blazej Malinowski, Anthony Linell und natürlich auch Svreca selbst eine Sicht auf Techno, die auf alle Aufmerksamkeit heischenden und populistischen Elemente verzichtet, die weder durch Wiederkäuen beliebter Reizmuster noch durch bemühtes Ringen um Originalität nervt. Und auch nicht durch die Härte und Dunkelheit, die in vielen heutigen Produktionen immer wieder eine zweifelhafte Ausstrahlung in der Musik mitschwingen lässt.
Die Tracks auf Draw The Line sind ernst, aber nicht aggressiv oder depressiv. Regis‘ „A Hollow Moment (Dub Version)“ bringt all dies exemplarisch auf den Punkt: ‘Dub Version’ meint hier kein Zitieren abgegriffener Delay-Effekte oder einschlägiger Protagonisten des Genres. Vielmehr wird Dub von dem Briten genauso individuell und subtil definiert, wie er auch den Track trotz seiner melancholischen Grundstimmung nicht ins Finstere kippen, sondern vom ersten bis zum letzten Takt auch PARTY ausstrahlen lässt. Das folgende Stück von Labelmacher Svreca, das der Compilation auch den Namen gegeben hat, führt diesen Geist eine Stufe energetischer fort, transportiert die Atmosphäre des großen, wild feiernden Dancefloors schon implizit im Subbass und spart sich ansonsten alle überflüssigen Mätzchen – der Sog entsteht durch die Aufgeräumtheit der Produktion und die mitschwingenden Subtexte, die von Haltung und Geschmack sprechen.
Gerade die letzten beiden Aspekte können eigentlich auf alle Stücke dieser Compilation übertragen werden, egal, ob sie stilistisch eher in Richtung Electronica, Ambient oder Techno tendieren. Vor allem die letzten Tracks auf Draw The Line von Kopp, Mulero, Stanislav Tolkachev und D-Leria bilden in ihrer Anordnung quasi schon eine perfekte Setlist, betonen noch einmal konzentriert den Feieraspekt und können als „Rave Against (hier ein Wort deiner Wahl einsetzen)“ gehört werden. Das finale „Pace“ spricht dann allein schon durch den Titel für sich selbst. Mathias Schaffhäuser
LOBSTER PLUR Vol. 5 (Lobster Theremin)
Bereits zum fünften Mal versammelt das Londoner Label Lobster Theremin unter dem plakativen Motto der Kandi-Raver eine beachtenswerte Anzahl an Künstler*innen, um gemeinsam für den guten Zweck zu sammeln. Der Erlös der 20-Tracks-starken Digital-Compilation kommt dieses Mal Hilfsmaßnahmen für die Ukraine zugute.
Dabei tummeln sich auf der Veröffentlichung nicht nur Artists verschiedenster Bekanntheitsgrade, auch genretechnisch wird einiges geboten. Reduzierter House geht Hand in Hand mit straightem Techno. Hier und da sorgen Breakbeats und sonstige Bass-Musik-Spielereien für eine erfrischende Vielfalt, die zwar zu überraschen weiß, aber niemals den Dancefloor aus den Augen verliert.
Nach einer ravigen Eröffnung von DJ Plant Texture folgen introvertierte Träumereien von unter anderem Thabo und Saturday Night Rush. Im Anschluss bringt die Ukrainerin Poly Chain breakige Electro-Vibes und DJ Bigspin tauscht sein Skateboard gegen drückende Basslines, um mit einem harten Rave-Tool die Hitparade der aberwitzigen DJ-Namen anzuführen. Zwei Tracks später übergießen DJ Heartstring ihren Soundentwurf mit einer extragroßen Portion Kitsch und DJ Javascript läutet mit einem sphärischen Perkussions-Gewitter die zweite Hälfte der Platte ein. Der Sound hellt sich auf und vor allem Desires „Make You’r Transition” sorgt für gute Laune. Zum Ende hin übernimmt dann Bass-Musik von beispielsweise DJ Sunroof, und pünktlich zum Abspann schließen sanfte Bassflächen von Charles Green die Compilation ab. Till Kanis
Needs (Not Wants) – Retrospective (Rush Hour Music)
Teile Deutschlands waren bis in die 1990er-Jahre ganz schön kaputt. Frankfurt am Main etwa lag irgendwo zwischen Crack-Central und Babystrich-Ausbeutung unter der Skyline bundesdeutscher Banken. Die Wiedervereinigung hielt neben der konservativen Leitkultur (Kohl-Ära/ Nine-to-Five-Job) wenig alternative Lebensmodelle für die Generation X der 1990er bereit. Zur Auswahl standen Punk, Ted, Mod, Slacker, Grunge, Heavy Metal, Hip Hop. Daneben existierte aber die noch undefinierte, erlösende, elektronische Musik im Post-Disco-Kontext. Dort suchte die weltoffene Jugend ihre Big-City-Lights-Träume in den mehr oder weniger verlassenen Innercitys in Clubs (wie dem Omen) oder an (post-)industriellen Orten (Dorian Gray, Robert Johnson), mit fiktiven Vorstellungen von nie bereisten Sehnsuchtsorten. London, Chicago, Manchester, New York und Detroit. In Plattenläden (Delirium, Freebase) erkundeten sie deren Soundarchitekturen. Und verorteten sich damit auf ihren eigenen sonischen Landkarten. Diese Ursprungsorte der elektronischen Musik und deren vorpolitische Diskotheken waren im transatlantischen Feedback jedoch ihrerseits durch westdeutsche 70s-Disco-Phänomene geprägt. „House … it’s not actually disco’s revival, it’s disco’s revenge”, raunte 1990 der House-Godfather Frankie Knuckles dem Musikjournalisten Jon Savage zu und spielte im Warehouse in Chicago doch Electronic-Disco. Was Giorgio Moroder für den Foor-To-The-Floor-lastigen Munich-Sound war, war Eurodance-Produzent Frank Farian für die Boogie-Disco von Offenbach und Frankfurt.
Der Disco-Gestus aus den Offenbacher Europasound Studios – in denen Farian seine Welthits produzierte – ging nie wieder ganz verloren. In diesem historischen Kontext stehen auch die Needs (Not Wants)-Labelmacher Marek und Lars Bartkuhn und Jan „Yannick” Elverfeld. Denn um 2000 lagen dort mit ihren Clubnächten im Robert Johnson und ihrem Boobjazz-Act auf C-Rocks Label Stir 15 ebenfalls ihre Wurzeln. Und in ihrem Grüne-Soße-House – ein Begriff, den ein Autor der GROOVE in Bezug auf ihre Stir-15-Musikproduktionen erfand – verrührten sie die deutschen Tanzflächen mit purer Electronic-Boogie-Attitude zu einem extrem stimmigen, sämig-deepen und geschmackvoll-heilenden 7-Kräuter-Mix. In Tracks wie Doctor M – „Jam Park” und Passion Dance Orchestra – „Discover The World” wird diese gut gelaunte Chicago-Boogie-Nähe heute noch einmal besonders deutlich. Sonst bietet die Labelretrospektive auf Rush Hour Music Westlondoner Broken Beats („We Are What We Are”), Balearisch-Detroiter-Disco-Piu-Triolenverspieltheit in der Art des Detroit Soul Project („Brother”), Discotrain-Laidback-Mover a lá Nettohouz („Dreams”), Larry-Heard-State-of-the-Art-Chicago-House-Stabs-Flächen-Groover und angejazzten NYC-Garage-Strictly-Rhythm-Synth-Xylophone (“Inner Glow”). Need! Mirko Hecktor
Planet Love Vol. 2 – Early Transmissions 1990 – 1995 (Save Trip)
Wer ein Sucker für schöne Akkordfolgen ist, verdrückt heimlich ein paar Ecstasy-Tränchen, weil Trance wieder so in ist wie Yeezeys von Kanye. Amsterdam’s finest, Young Marco, hat das schon letztes Jahr gecheckt und die Schleusen hochgerissen. Mit Planet Love erschien auf Save Trip eine Compilation, auf der sich Melodien wie Regenbogenfarben über der Vierviertelkick auskotzten. Denn: Mayday, Mayday, die Pille-Palle-People sind gelandet und bleiben jetzt erst mal hier. Schließlich beamt sich der Nachfolger Planet Love Vol. 2 über zwölf Trance-Tracks zurück in die Nineties. Den Null-acht-fuffzehn-Bums mit Piano-Geklimper aus der Rauchwarenhandlung für Nachwuchsesoteriker findet man auf der Platte aber – zum Glück, puh! – nicht. Sven Väth darf sich zwar den Strohhut mit „L’Esperanza“ überm ausgedünnten Haupthaar zurechtrücken. Vom Rest haben bisher trotzdem nur Mittvierziger gehört, die vor 20 Jahren den Kaugummiautomaten leer geräumt haben. Redeye macht mit „A Source“ Schleichwerbung für Zimmerbrunnen in Zahnartzpraxen, Lazer Worshippers greift auf „Free Flight“ in die Instrumental-Trickkiste. Und „X O Surf“ von The Deep spielen DJs heute unironisch zur Peaktime, auf dass sogar Typen in Atonal-Shirts kurz mit der Wimper zuckern. Wie auch immer: eine gute Gelegenheit für einen Trip! Christoph Benkeser