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Motherboard: Februar 2024

Wenn die gefühlten Selbstverständlichkeiten und Zivilisationsstandards verlorengehen, tut es gut, sich noch einmal daran erinnern zu lassen, dass es eigentlich überhaupt nicht bemerkenswert sein sollte, dass Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion befreundet sein, zusammen Party machen, oder wie die kanadischen Kindergartenfreunde Dave „One” Macklovitch und Patrick „P-Thugg” Gemayel zusammen den Funk in seiner gediegensten Form am Leben halten können. Chromeo sind also nicht nur die augenzwinkernden Bewahrer und Fortentwickler der größtmöglichen Glitzer-Disco des edelsten Boogie-Funk. Ausgerechnet Chromeo erinnern an eine Normalität, die nicht auf Polarisierung und Trennung setzt. Es mag überinterpretiert sein, aber vielleicht ist ihr je nach Zählweise siebtes bis zehntes Album Adult Contemporary (BMG, 16. Februar) deswegen besonders smooth poliert und wertig, so überaus üppig feinproduziert geworden, um dem ganzen Mist da draußen eine edelfeine und vor allem erwachsene Retro-Utopie entgegenzusetzen. Adult Contemporary ist hier nicht nur hedonistisch und milde sleazy gemeint, es klingt auch der Adult Oriented Rock der späten Siebziger an. Chromeos Produktion nähert sich den extrem detailliert ausgearbeiteten Arrangements von Chic, Steely Dan oder Earth, Wind & Fire an, emuliert das gediegene Emotions-Management des Yacht-Pop.

Ein genuine Kosmopolitin verkörpert die in Italien aufgewachsene, in den Niederlanden und aktuell in Brüssel lebende Laryssa Kim nicht nur biografisch. Ihre musikalische Entwicklung verläuft von Roots- und Dancehall-Reggae über Musik für Tanztheater zu elektroakustischer Komposition (eine Disziplin, die sie am Royal Conservatory Mons studiert hat) zu Post-Club und Techno. Wie selbstverständlich all diese divergenten Einflüsse und Inspirationen sich auf Contezza (City Tracks, 16. Februar) zusammenfügen, ist schon mehr als virtuos. Der Schlüssel liegt in Ambient, in Stille und Experiment, die in Laryssa Ganga Kims subtil überbordender Klangwelt keine Gegensätze darstellen müssen. Am wenigsten mit dem Einsatz ihrer samtenen Stimme, die ganz selbstverständlich zwischen Bedroom-R’n’B und Art Pop, zwischen Italienisch und auf ihrer ersten selbstverlegten EP Love’em All zudem auf Französisch und Englisch springen kann. Zeitgemäßer und eleganter geht das wohl kaum.

Der kanadisch-australische und nun Wahlberliner Produzent Lavurn Lee hat schon unter diversen Pseudonymen, am bekanntesten wohl als Cassius Select, diverse Genres wie Techno, Dubstep, Instrumental-Hip-Hop, Juke und Dancehall technologisch und inhaltlich nach vorne gebracht. Das jüngste Unternehmen irgendwo an den Ambient-Grenzen von Vapor-R’n’B wirkt nicht nur im Projektnamen persönlicher und intimer. Lavurn (SUMAC, 16. Februar), das epische Debüt von Lavurn, erzählt von tief in Autotune vergrabenen Schmerzen, von Heilung und Verzweiflung in für das Genre beinahe unglaublich präziser Produktion und Selektion in der ultimativen Flüchtigkeit. Hier sucht der kommende Mainstream, der elektronische Pop der Zukunft seinen Weg aus dem Nebel.

Sha Ru, Teilzeitberliner und New Yorker Duo aus Masha Koblyakova und Ruggero Cavazzini, interpretieren R’n’B als rohen Post-Club Sound. Nach einigen selbstverlegten oder kleinlabelig digital verteilten EPs nun mit größerer Reichweite auf der Plattform von Modeselektor. Die fünf exquisiten Tracks auf They Are Textural (Monkeytown, 29. Februar) deklinieren Queerness und liquide Identität in einem experimentierfreudigen, aber doch dem Party-Hedonismus nicht gänzlich abgeneigten Sounddesign. Es klingt ein wenig, als hätte 18+, dieses singuläre (und nach einer wegweisenden LP irgendwie verschollene) Duo der Zehnerjahre, nun doch noch eine würdige Nachfolge gefunden, selbstverständlich im Berlin-New-Yorker Sound von heute. Die Zehner sind over, Sha Ru sind jetzt.

Gegen die (zugegeben sogar in dieser Kolumne) immer mal wieder zu lesende Behauptung, die sogenannte Neoklassik wäre zu Ende erzählt, inspirativ leergeräumt oder schlicht seelentot, stemmt sich die Musik der drei Berliner toechter mit aller denkbaren Vehemenz. Ihr jüngstes Album Epic Wonder (Morr Music, 2. Februar) fügt dem Debüt Zephyr (Edition Dur, 18. März 2022) von vor zwei Jahren noch weitere Spuren an musikalischer Diversität hinzu. Fluchtlinien in und außerhalb der Stücke, die in allen Unterschieden doch erkennbar und zusammenhängend bleiben, selbst wenn sich Takt und Tonart mehrmals ändern, gerne sogar mehrmals pro Track. Mit Viola, Violine, Cello, Stimme und Elektronik nehmen sie das Erbe und den Ballast ihrer Tradition von Spätromantik über Penguin Café Orchestra bis hin zu Postrock dankend an, machen aber etwas anderes daraus. Universale und vorwiegend instrumentale experimentelle Popmusik nämlich, die sich von nichts und niemandem etwas sagen oder gar vorführen lässt.

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