10 Years Of Acid Test (Acid Test)
Die elektronische Musikgeschichte ist voller Beispiele, die eine deutliche Vorliebe zur minimalistischen Soundgestaltung vieler Protagonist*innen demonstrieren. Ersichtlich ist das an reduzierten Groove-Loops auf der Suche nach dem perfect beat. Aber auch die sezierende Produktionsweise, penible Abmischung, das akribische Freistellen und Equalizen einzelner Sound-Partikel und Einzelspuren – um für den bestmöglichen Output auf großen Soundsystemen störende Frequenzen zu eliminieren – ist ein Bestandteil der subtraktiven Arbeitsweise. Im Fall der Acid-Test-Platten – des aus L.A. stammenden und in Berlin lebenden Labelchefs Oliver Bristow – ist die selbstauferlegte Limitierung die Verwendung eines einzigen Synthesizers. Die mythische Roland TR-303 muss auf allen Veröffentlichungen des Labels enthalten sein.
Gemeinhin gilt der Synthesizer als Synonym für das Chicagoer Acid-House-Genre der 1980er Jahre. Über weitere Verknüpfungen des Labelmachers zur Psychedelic-Westcoast-Hippie-Szene, Ken Keseys Acid-Test-Parties der 1960er-Jahre oder dem „Second Summer Of Love” als Verweis auf Woodstock und Bindeglied zwischen LSD, XTC, Manchester-Rave, Techno-Tribes und Ibiza darf luzide assoziiert werden. Träumen kann man auch darüber, ob Oliver die 303-Schallmauer didaktisch ernst nimmt, denn die Drum-Kicks und Hi-Hats auf der Jubiläums-Compilation hat bisher sicherlich keine Musikproduzent*in jemals mit einer 303 hinbekommen.
Marcellus Pittmans „Unknown Species” knallt deshalb klassisch TR-909-artig. Durch sein tonal unpräzises Potti-Herumschrauben und die klangliche Kratzigkeit nimmt man ihm die echte TR-303 sofort ab. Tin Man fliegt wiederholt, wunderbar ruhig durch die immens weiten, psychedelischen Möglichkeiten von 303-Sounds und Hallräumen („Afters Acid”). VC-118A verschränkt seine Acid-Synapsen mit Kruder & Dorfmeisters Lounge-Dub („Silver”). Und startet Patricia tatsächlich tendenziell abgecheckt mit einer etwas kitschig geratenen SH101? Und füttert sie deren Bass-Harmonien echt mit Sonnenuntergangs-„Abend-Acid ist fertig”-Loops? Wata Igarashi kommt mit „Ephemeral” als wirklich psychedelische Deep-Acid-Nummer dem entspannten Ohr-Reinschraub-Head-Expand-Acid am nähesten. Und SW. zwitschert logisch-nasal mit einem verworren-jazzigen lazer-warm Tribal-Rhodes-Garage-House („chalAnJazzz”) aus unseren Augen heraus. Für die Hardcore-Freunde der Klang-Esoterik, der Psychedelik oder des Acidsounds bleibt am Ende der Who-Is-Who-Liste nur eine Frage: Ist die jetzt die Roland SH101, die per TR808 getriggert wird, nicht eigentlich doch die bessere TR303? Mirko Hecktor
Blueprint 25 (Blueprint)
Wie in den guten, alten Zeiten! Zum fünfundzwanzigsten Jubiläum von Blueprint, dem Imprint des Briten James Ruskin, bringt dieser nicht nur eine von ihm handverlesene Compilation mit einigen der denkwürdigsten Stücke des Labels, sondern auch eine äußerst vielversprechend anmutende Veranstaltung in den heiligen Hallen der fabric in London an den Start. Und bei beidem sind essenzielle Key-Player der Vergangenheit ebenso vertreten wie gegenwärtige und zukünftige Artists, die eng mit dem Label verwoben sind. Und auf Blueprint gab es so einige Releases und Acts, die Techno über die Jahrzehnte geprägt haben.
Woran man als erstes denken muss, kann bei der Fülle an Qualität, die über die Jahre hin beständig geliefert wurde, durchaus variieren. Denn Blindgänger gab es auf Blueprint eigentlich nie. So ist auf der Compilation ebenso der Fan-Favourite O/V/R vertreten, die denkwürdige Collab zwischen James Ruskin selbst und Karl O’ Connor aka Regis, wie auch Werke von Sigha, Lakker oder Oliver Ho. Was Blueprint seit jeher ebenfalls besonders macht, sind die qualitativ hochwertigen Remixe, die nie wie füllende Add-On’s wirken, sondern den originalen Produktionen nicht selten einen völlig neuen Klangcharakter verleihen. Auch davon sind auf dieser Veröffentlichung namhafte Beispiele vertreten. Marcel Dettmann, Robert Hood oder DVS1 beispielsweise. Letzterer wird auch, und hier spannt sich der Bogen, bei der vormals erwähnten fabric Label Night zu hören sein. Not to be missed. Was bleibt noch zu sagen? Auf die nächsten 25 Jahre, Herr Ruskin! So weit die Füße tragen. Andreas Cevatli
Eins und Zwei und Drei und Vier – Deutsche Experimentelle Pop-Musik 1980-86 (Bureau B)
Fuki, Schnurrbart, Faltenhose – die 80er waren das ästhetische Juwel des 20. Jahrhunderts. Ein Jahrzehnt, für das sich Millennials heute in der Altkleidersammlung über neongrüne Skianzüge in die ungewaschenen Haare kriegen. Schließlich kommt alles wieder. Sogar Mottenkugeln von Vandal. Dass Bureau B weiter Wunderbäume in den Plattenschrank hängt, macht den Mief aus schalem Bier und Herrenfurz zwar auch nicht weg. So etwas wie jugendliche Frische mit Axe-Afrika-Geschmack schwingt aber auf Deutsche Experimentelle Pop Musik 1980-86 mit, wenn Andreas Dorau und Die Marinas die beste B-Seite der schlechtesten Welt auftauen. Hat sich schließlich gar nicht so viel verändert. Alle immer noch komplett bekloppt.
Für Distinktions-Dilettanten und die Kunst-Kacke-Krawallerie zwischen Monaco und Hambrooklyn waren Leute wie Conrad Schnitzler und Asmus Tietchens schon in den Bling-Bling-80s viel zu cool. P!OFF?, die Underground-Attitude mit Mir-san-mia-Mentalität in einen Walkman packten, übrigens auch. Gut, dass es die Rrriot-Girls wie die von Östro 430 gab. Die sagen wenigstens wie’s ist: Männer bringen’s nicht. Vor lauter Träneninvasion im Casio-Paradies könnten Incels und zermürbte Zimmermänner ganz schön sentimental werden. Deshalb beschließen die Herren von der Partei ein Austauschprogramm. Eins und Zwei und Drei und Vier Piccolo lügen nicht. Christoph Benkeser
Back Up: Mexican Tecno Pop 1980-1989 (Dark Entries)
Die nächste Ladung verschollener Perlen minimal synthetisierter Pop- und Wavemusik. Bei Dark Entries weiß man seit jeher, wo zu suchen ist und was zusammen funktioniert. Auch dieses Mal wieder: Einer vor 16 Jahren beim tijuanischen Label AT-AT nur in begrenzter CD-Auflage veröffentlichten Sammlung schenkt das Label nun nämlich einen stilechten Reissue und kredenzt damit ein besonderes Schmankerl für alle, die den europäischen Kassetten-Untergrund der Achtziger schon rauf und runter gehört haben und sich nach neuen Horizonten sehnen.
Nachdem die Jungs und Mädels aus San Francisco mit Kompilationen vom Kaliber The Thing From The Crypt oder dem Label-Sampler Tens Across The Board schon demonstrierten, wie DIY-Pop von Brüssel bis Bogota in den Achtzigern tönte, kommt Back Up im derzeitigen (fünften? sechsten?) 80s-Revival natürlich gerade zur rechten Zeit. Über zehn Tracks wird hier Mexican Tecno Pop aus den Jahren 1980 bis 1989 zelebriert und in all seiner erwartbaren Schrulligkeit ausgebreitet. Vom semipsychedelischen Casiopunk der Band Syntoma über die Schlafzimmer-Ästhetik bei Cou Cou Bazar oder Escuadrón Del Ritmo bis zum stampfenden „Alfabeto (Cold Version)“ von Década 2 oder dem irgendwie schräg melancholischen Rausschmeißer „El Paso Del Tiempo“ – klares Highlight hier – zeigt dieses Backup mexikanischer Popmusik, wie viel es tatsächlich nach wie vor in internationalen Archiven zu entdecken gilt. Deshalb: Nicht bloß empfehlenswert für Kenner im Bereich Minimal Synth und Keyboard-Mucke oder Fans von Dark Entries, sondern auch und besonders für Neulinge auf dem gesamten Sektor. Nils Schlechtriemen
Nervous Records – 30 Years (Nervous)
Zum 30. Label-Jubiläum eine Rückschau – hätte eine gute Sache werden können. Als der 2008 verstorbene Sam Weiss, einst Inhaber des Disco-Labels Sam Records, gemeinsam mit seinem Sohn Mike im Jahr 1990 das Label Nervous gründete, hatte für den New Yorker House-Sound gerade eine neue Zeitrechnung begonnen. Ziemlich genau zur selben Zeit gingen Strictly Rhythm und Nu Groove an den Start. Doch das Label mit dem prägnanten Cartoon-Logo, welches durch geschicktes Merchandise bald größer sein sollte als die Musik, war anfangs eben kein reines House-Label. Hip Hop spielte lange eine recht große Rolle. Acts wie Funkmaster Flex, Black Moon und Smif N Wessun waren zunächst bei Nervous unter Vertrag. Und auf vielen der früheren House-Maxis waren auch Hip Hop-Instrumentals zu finden. Das Familienunternehmen hatte damals eine ganze Reihe junger und sehr interessanter Leute gesignt, die irgendwo zwischen Paradise Garage, Hip Hop und Latin Freestyle ihre prägenden Jahre erlebt hatten. Zu nennen wären zum Beispiel die auf Nervous unter wechselnden Projektnamen veröffentlichenden Produzenten Hector Romero, Kenny Dope, Frankie Feliciano, Frankie Cutlass, B.O.P., Wayne Gardiner, Armand Van Helden oder Danny Vargas und Victor Vargas. Nervous definierte in den ersten Jahren einen sehr eigenen, zumeist Sample-basierten Sound mit swingenden Beats und fliegenden HiHats. Die Jahre 1990 bis 1993 hätten alleine eine spannende Compilation ergeben, doch die beiden nun veröffentlichten Doppelvinyle lassen diese Zeit eher unbeachtet, sieht man mal vom PJ-Garage-Banger „Can Ya Tell Me“ im DJ Pierre-Dub, Todd Edwards/The Messenger mit „End This Hate“ oder Armand Van Heldens unter dem Pseudonym Deep Creed veröffentlichtem Vogueing-Hit „New Anthem“ ab. Stattdessen gibt’s gleich einen Strauß von Kim English-Vocal-Tracks oder eher mediokre Big Room-Klopper von Ralph Falcon und Joey Beltram. Völlig unverständlich: Wo ist Loni Clarks wunderbares „Rushing“? Mit von der Partie ist aber zum Glück die 2006 verstorbene Vogueing-Legende Willie Ninja mit „Hot“. Davon sind auch zwei wirklich gute Remixe von Louie Vega und Josh Milan zu hören. Weitere geglückte Neubearbeitungen kommen von Gerd Janson (PJ – „Can Ya Tell Me“), Tensnake (The Messenger – „End This Hate“), Monki (Deep Creed – „The Anthem“) und Radio Slave, der aus der Ralph Falcon-Nummer „Break You“ einen kompromisslosen Techno-Banger gemacht hat. Holger Klein
NOO11—21 (Noorden)
Das Kölner Label Noorden feiert sein zehnjähriges Jubiläum und über 70 (!) Releases mit einer wunderbaren Compilation, die, wie viele andere Veröffentlichungen in der Label-Geschichte, auch auf Kassette erscheint. Die Tracklist umfasst elf Stücke und Künstler*innen, darunter Namen, die im Backkatalog öfter auftauchen wie The Marx Trukker, Martin Schmitz, Orion Moustache und Labelgründer Alex Ketzer, aber auch etliche, die hier ihr Debut auf Noorden geben. Gemeinsam ist fast allen Tracks, dass sie zwar jeweils grob einem bestimmten Genre zugeordnet werden können, sie aber nie zu den typischen Vertretern des jeweiligen gehören, egal, ob die Überschrift House, Dub, Electronica oder wie auch immer lautet. Das hat sowohl mit Eigenständigkeit als auch mit Qualität zu tun. Ein gutes Beispiel dafür ist der dritte Track namens „Thursday“ von Martin Schmitz: Auf über zehn Minuten breitet er einen Trip aus, der bei dubbigem Downbeat beginnt, nach etwa vier Minuten eine langgezogene Kurve in Richtung Electro nimmt und dann mit dem Einsetzen einer durchgehenden Bassdrum sanft ins Technoide kippt – all das mit minimalen Mitteln und ohne abrupte Cuts, alles ergibt sich fließend, völlig stimmig und selbstverständlich aus dem Vorangegangenen. Selten war ein Zehnminüter so kurzweilig. Auch sehr gelungen und ein weiteres Beispiel für perfekte Stil-Fusion: Orion Moustaches „Duo“ – hier trifft ein morphender Acidbass auf einen vollsynthetischen Electro-Groove ohne Drumsound-Simulation und eine Tremolo-Gitarre! Beide Tracks sind zudem gute Beispiele für das Label-Credo, sich „Uniformität und Gehorsam gegenüber dem geltenden Standard“ zu verweigern. Mathias Schaffhäuser
Tresor 30 (Tresor)
Die Treppe hinunter zum omnipräsenten Wummern, nach kurzer Orientierung durch das Stahlgitter geschritten und dann den Kopf ausgeschaltet. Es gab und gibt kein Raumkonstrukt in der deutschen Clubgeschichte, welches die rohe und körperliche Essenz von Techno so passend abgebildet hätte wie der “alte” Tresor Berlin in der Leipziger Straße. Im März 1991 im ehemaligen Todesstreifen eröffnet, deutete der Tresor sowohl als Club als auch mit dem kurz danach gegründeten Plattenlabel die DDR-Hymnen-Hookline „Auferstanden aus Ruinen” (so auch das Motto der ersten Tresor-Compilation 1992) fröhlich um. Zunächst schwerpunktmäßig die Heimat von Tanith, Rok und Jonzon mit Hang zu stringenten Alarmsounds im „Klang der Familie” öffnete sich der Tresor mitten im grassierenden Hardtrance-Fieber gemeinsam mit den Verantwortlichen des Hard-Wax-Recordstores der musikalischen Achse Berlin-Detroit. Diese musikalischen Pole – mit einer kräftigen Prise Acid, kompromisslosem UK-Techno und Electro – bestimmen auch nach 30 Jahren noch die Labelprogrammatik bei der obligatorischen Jubiläums-Compilation. Dabei stechen besonders hervor: Natürlich der dramatische überhöhte Cineasten-Strings-Acid der Detroit-Legenden Underground Resistance im DJ Dex aka Nomadico-Remix („The Final Frontier”), minimierter Stromlinien-Techno von Robert Hood („Master Builder”), die industrialisierten Kraftattacken der „Berlin Disease” von Surgeon oder Römer Donato Dozzy mit Italo-Disco-beeinflussten Sequecerperlen („Le Confort Electronique”). Im finalen Vinyl-Kapitel X überraschen dann noch elektronisch verfremdeter Balearen-Ambient des holländischen Produzenten Torus („Deep Mid”) und die gleichsam seelenvollen Chillout-Interpretationen der Tresor-Resident-DJ Mareena (gemeinsam mit JakoJako, „30 Perlen”). 52 Tracks mit weit über vier Stunden Spielzeit auf zwölf limitierten Maxis verteilt lassen Platz für eine ganze Menge begeisternder Musik, auch wenn manche Labelprotagonisten wie Pacou, 3Phase, Neil Landstrumm oder The Advent ebenso ihren Platz verdient hätten. Schwer schlucken muss man jedoch beim Verkaufspreis von 180 Euro ab aufwärts. Jochen Ditschler