Der Berliner Matthias Grübel hat ein solides künstlerisches Umfeld als Soundtrack- und Theaterkomponist, in seinen ungebundenen Produktionen als Phon°noir und unter seinem Eigennamen definiert er die Funktionalität der Stücke um in Postrock und Techno-Pop mit Vocal-Features und gerne auch mal Stadion-Ambitionen mit Moderat-Furzbässen. Auf der EP Futuro (Truth Table) ist es zum Beispiel der Polarkreis-18-Sänger, der den Apparat rund macht.
Melodische Zückerchen, saftiges Choral-Pathos mit ausreichend bassigen Ballaststoffen bietet der Franzose Jean-Baptiste de Laubier auf seinem mit Surkin und Bobmo Co-betriebenen Label Marble und seit über 20 Jahren unter dem Produzenten-Alias Para One. Sein jüngstes Mega-Opus SPECTRE: Machines of Loving Grace (Animal63, 21. Mai) breitet dieses Verständnis von Electronica in aller gebotenen Breite und Tiefe auf einer Doppel-LP und drei äußerst prominent besetzten Remix-EPs aus. Dass er sich damit sieben Jahre Zeit gelassen hat, merkt man jeder einzelnen sorgfältigst hochpolierten und detailversessen perfektioniert produzierten Sekunde an. Es gelingt ihm sogar, dem ungefähr meistgesampelten Chor aller Zeiten (Le Mystère Des Voix Bulgares) noch etwas Neues abzugewinnen – nämlich Stille, Weite, Raum. Bereits erschienen sind die Remixe der Tracks „Shin Sekai” (Animal63) und „Alpes” (Animal 63). Eine Remix-EP von „Sundial” (Animal63, 3. Juni) kommt noch.
Der in der Schweiz lebende und lehrende Italiener Marco Papiro hat sich auf La finestra dentata (Marionette, 18. Mai) etwas Ähnliches vorgenommen wie das, was Caterina Barbieri 2019 auf Ecstatic Computation so formidabel hinbekommen hat. Nämlich mit dem Modularsynthesizer ein Sound-Universum zu formen, das die Beschränkungen und Eigenheiten seiner verwendeten Mittel zur Soundproduktion einerseits bis ins Letzte ausreizt, andererseits auch jenseits der impliziten Limits herausfordert. Was bei Papiro, ähnlich wie bei Barbieri, experimentell und mitunter anstrengend klingen kann, aber immer von einem gewissen Sinn für Track-Strukturen à la Techno abgefangen wird, also Ordnung im Chaos und umgekehrt. Papiros Album hat keinen Überhit wie Barbieris „Fantas”, ist aber auf einem guten Weg dahin.
Und – Überraschung oder gerade nicht – der seit den frühen Achtzigern in ungefähr allen Genres wildernde J. G. „Foetus” Thirlwell macht jüngst auch in modularen Synthesizern. Selbstverständlich immer am Maximum von Pathos und Fülle, setzt das zweite Xordox-Album Omniverse (Editions Mego, 7. Mai) nochmal einen drauf, dreht jeden Regler in Griffweite in den roten Bereich, aber verzichtet (leider) auf die Gitarrenarbeit von Noveller. Das kann dann zu Stadiontechno ohne Beat werden, mit Headbang-Garantie.
Die xenomorphen Post-Identity Sounds der aktuell immens produktiven Berliner Ziúr haben auf Antifate (PAN, 21. Mai) nichts von ihrer fundamentalen Fremdheit verloren, sind doch konkreter, bassiger und körperlicher denn je. Aber nicht mit Anfassen. Dafür mit queerem Futurismus und hochauflösendem Splittersound. So müsste und wird Pop sich einmal anhören, nicht in einer besseren Welt, sondern in genau dieser. Verflixt nochmal, wann wird es endlich den Club (oder die Post) geben, in dem das läuft. Beste Ziúr. Ziúr Beste.
In den Club aus dem Club, Weg davon und wieder zurück. Die dritte Folge der Backkatalog-Aufbereitung Connecting the Dots (Kompakt, 15. Mai) im Hause Kompakt ist auch die interessanteste und schönste. Das behaupte ich jetzt mal in vorauseilender Ignoranz alles Kommenden. Einfach nur deshalb, weil der Mix von Tobias Thomas ist, will sagen exzellent und stilsicher mit Tellerrandblicken über Techno hinaus kuratiert und ganz und gar Oldschool mit two turntables and no microphone aufgenommen. Anspannen und Entspannen, lockerlassen und aufbauen, die nächtlichen Mix-Muskeln sind trotz Covid-Pause noch gut im Training. Da alles, was Tobias Thomas anfasst, irgendwie direkt persönlich wird, transformieren sich die Tracks allein durch die Auswahl und Sensibilität in der Abfolge zu etwas Besonderem, obwohl natürlich jede Menge sowieso schon besondere Stücke im Mix auf- und abtauchen. Wie etwa Gregor Schwellenbachs akustisches Cover von „Kaito’s Everlasting”. Selbstverständlich kommt die Total-Confusion-Nostalgie nicht zu kurz, mit einigen Dauerbrennern der wohl besten Partyreihe, die es in Köln je gab und je geben wird (noch so eine steile These).
Wenn die Hölle auftaut, treffen sich die Höllenhunde und feiern Party als gäb’s ein Morgen. Die Kollaboration der Lieblingslabels Deathbomb Arc und Hausu Mountain nennt sich Arc Mountain (Deathbomb Arc/Hausu Mountain, 7. Mai), und für jeden Tracks dieser schon seit Jahren geplanten Kompilation haben sich jeweils eine oder mehrere Künstler*innen der beiden Labels zusammengetan um L.A.-Post-Hip-Hop-Crazyness mit Brooklyner Post-Anything-Attitüde zu kollidieren. Das ergibt teils rasant poppige, teils wirklich infernalische Kombinationen wie White Boy Scream & Fire Toolz. Immer experimentell, immer on the edge, krrrrrrasssss, aber mit einer positiven, empowernden Agressivität und der Energie einer Clubnacht oder eines Hardcore-Konzerts (verstanden als queere, nicht-weiße Alternative zu EDM). Die Erlöse dieser Non-Profit-Arbeiten gehen an das Last Prisoner Project.