burger
burger
burger

Motherboard: April 2021

- Advertisement -
- Advertisement -

Foto: Frank P. Eckert

Ist Sounds of the Unborn (Sacred Bones, 2. April) die Zukunft der Electronica? Das argentinische Eltern-Duo Luca Yupanqui nimmt die Sounds und Signale auf, die ihr Sohn im Mutterleib produziert, und prozessiert sie in kühl kontrollierte Synthesizer-Sounds. Klingt exakt nach der einmal lustigen Novelty-Idee, die es auch ist. Allerdings knallt das Ergebnis so dermaßen, dass sich Autechre und Aphex Twin warm anziehen müssen. Kein One-Trick-Pony, das ist die Zukunft.

Die Zukunft des Electronica-Glitch-Techno liegt erstaunlicherweise ebenfalls in der Vergangenheit. Zumindest fühlt es sich so an, wenn das brillante wie komplexe Ethernity (Mille Plateaux) der Italienerin Simona Zamboli als Beispiel dienen soll. Die multipel ausgreifenden und vielfach ineinander greifenden Schichten von Beats, Bässen und Noise führen nur oberflächlich zu einem Effekt der unmittelbaren Überwältigung. Denn sie sind so clever verschränkt, dass stets Luft und Licht bleibt. Vielleicht ist das Zambolis doppelter Praxis als Toningenieurin und Field-Recording-Sound-Art-Künstlerin geschuldet. Trotz aller notwendigen Dunkelheit ist das Album eine sonnengleißende, wärmeliebende Angelegenheit.

Die kleinteiligen Post-Internet-Sound-Collagen des Grafikers Keith Rankin, der sich als Laptop-Wizard Giant Claw nennt, zeichnen sich ebenfalls durch einen extrem hochauflösenden und kristallscharfen Sound aus. Aus der Brooklyner Vaporwave-Szene erwachsen und gleichzeitig für die visuelle Signatur des Post-Vapor-Labels Orange Milk verantwortlich, hat Rankin auf Mirror Guide (Orange Milk, 14. Mai) mit Vokalistin NTsKi einen Anti-Lo-Fi-Sound entwickelt, der das Vapor-Genre auf den Kopf stellt. Ohne Achtziger-Nostalgie, ohne betont mumpfig klingende Retro-Tape-Ästhetik, aber ebenso weit entfernt von den verzerrten Pop-Splittern der Genre-Vorreiter Daniel „Oneohtrix Point Never” Lopatin und James Ferraro hat Rankin auf beeindruckende Weise eine brillant verspiegelte Glitzerwelt erschaffen, die Retro-Utopie, Plusquamperfekt und Futur II zugleich sein kann.

Und die glorreiche nähere Vergangenheit der Electronica? Nie war sie überwältigender als in „Fantas” diesem unglaublichen Buchla-Stück, dass die Landkarte der analogen Klangsynthese in zehn Minuten komplett durchmessen konnte und dabei nie vergaß, Technik in kristallklaren Pop zu wandeln. Also ein genreübergreifender wie definierender Hit, wie es ihn selten gibt. Diese Sonderstellung hat nicht nur in zahlreichen Erwähnungen in dieser Kolumne und in der Groove allgemein Niederschlag gefunden, es gibt jetzt ein fettes Doppelalbum mit Fantas Variations (Editions Mego, 2. April), auf dem Caterina Barbieris Geniestreich akustisch oder elektrisch, digital und analog nachempfunden oder neu erfunden wird. Der Knaller, und an Pathos und Punch nicht zu überbieten, ist eindeutig die Version für Stimmen und Computer von Evelyn Saylor mit Lyra Pramuk, Annie Garlid und Stine Janvin. Aber letztlich trotzt der unkaputtbare Track allen Instrumenten, seien es die Orgeln von Kali Malone, die E-Gitarre von Walter Zanetti oder das digital mürbe gemachte Dark-Ambient-Piano von Kara-Lis Coverdale. Die Remix-Versuche, etwa mit Gabber-Beats, wirken da verhältnismäßig schwach, können aber ebenfalls keinen wirklichen Schaden anrichten. „Fantas” bleibt immer fantastisch.

Die Gegenwart der ferneren Vergangenheit der Electronica sendet aktuell Lebenszeichen aus Schweden. Der Stockholmer A.Karperyd ist seit den mittleren Achtzigern aktiv, vorwiegend mit Post-Industrial und Dark Ambient, zum Beispiel im Experimental-Duo Hox mit Edward Graham Lewis. Sein erst zweites Solo-Album GND (Ground) (Novoton, 16. April) stellt sich als Lebenszeichen im existenziellen Sinn dar. Es ist Dokument eines erfolgreich überstandenen Kampfs mit einer schweren Krebserkrankung und gleichzeitig Summe und Revision seiner früheren Arbeiten. Eine erfreulich Leichte und Optimistische darüber hinaus. Trotz oder gerade wegen der ernsten Thematik sind die Stücke lichter und weniger aggressiv als je zuvor.

Einer, der fast so lange an den verschiedenen Baustellen des Elektrischen herumwerkelt, ist Dirk Dresselhaus alias Schneider TM. Dass er um die Jahrtausendwende herum mal als der deutsche Exponent eines, wenn nicht des Indietronica-Sounds galt, der eine irgendwie vom Indie-Rock kommende Songwriter-Pose mit einem netten elektronischen Sound verband, ist lange Geschichte und vermutlich nur diesem einen supercleveren Superhit zu verdanken, der eines der schönsten und für immer bleibenden Stücke von The Smiths coverte. Oder etwa nicht? The 8 of Space (Editions Mego, 9. April), Dresselhaus’ erste Arbeit für die strengen Wiener Teilzeitavantgardisten von Editions Mego, hat jedenfalls alle Qualitäten und Sound-Vorlieben, die er bereits vor über 20 Jahren etabliert hat – inklusive Vocoder, Gitarren und augenzwinkernden Quasi-Coverversionen wie dem Titelstück, das Motörhead in einen smooth säuselnden Bass-Roller verwandelt. Das macht noch immer Party Like It’s 1999.

Und wenn es mal ganz klassisch sein soll, wenn Vergangenheit und Zukunft der Electronica in Eins fallen dürfen, dann führt kein Weg vorbei an Herrmann Kristoffersen. Das zweite Album von Daniel Herrmann und Kristina Kristoffersen macht nichts anders als das erste, aber eben alles, wirklich alles richtig. Gone Gold (Bytes, 23. April) bietet Track um Track leicht krautige, aber generell eher von Techno und Clubleben als von muffiger Ofenheizungs-Avantgarde abgeleitete Minimal-Electronica in leichthändiger Perfektion. Wunderbar luftig und transparent produziert, zupackend im Beat und fluffig melodisch.

In diesem Text

Weiterlesen

Features

[REWIND 2024]: Gibt es keine Solidarität in der Clubkultur?

Aslice ist tot. Clubs sperren zu. Und die Techno-Szene postet Herz-Emojis. Dabei bräuchte Clubkultur mehr als solidarische Selbstdarstellung.

Cardopusher: „Humor steckt in allem, was ich tue”

Luis Garbàn fusioniert lateinamerikanische Rhythmen mit futuristischen Klängen. Wie er dazu kam, erfahrt ihr in unserem Porträt.

Polygonia: Durch die Akustik des Ursprünglichen tanzen

Polygonia verwebt Clubkultur mit der Natur und verleiht Techno eine organische Tiefe. Wie und warum sie das tut, erklärt sie im Porträt.