Übungen in Selbstbeherrschung – damit kennt sich snd-Mastermind Mark Fell bestens aus. Mit dem australischen Perkussionisten Will Guthrie suchen die beiden ausladenden, an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung Karlsruhe aufgenommenen EPs Infoldings / Diffractions (beide: NAKID) in jeweils knapp 20 Minuten mäandernden Stücken pro Seite ihr Zentrum, ihre innere Wahrheit in klopfenden, knackenden, dengelnden, blubbernden, klickend-wubbernden Sounds, die im ersten Eindruck völlig unsortiert und messy scheinen, sich aber ganz, ganz langsam ihrer eigenen inneren Ordnung bewusst werden. Ein Zentrum, einen Kern gibt es (selbstverständlich) nicht. Es ist der improvisierte Suchprozess, das abschweifende Mäandern, auf das es ankommt.

Überbordend ausschweifende Strenge und Minimalismus der Mittel charakterisiert ähnlich die Konzeptarbeiten Ruten – / Ruten + (beide: REITEN, 22. Januar) von Kosei Fukuda. Der Betreiber des japanischen Festivals Enso und des Zen-inspirierten Berliner Labels REITEN führen die jegliche Funktionalität verweigernden Beatabstraktionen seiner EPs in die lange Form zweier Doppelalben. Wiederum von spirituellen Abstraktionen, vom Werden und Vergehen, Yin und Yang inspiriert. Was auf dem Teil mit dem negativen Vorzeichen eher an disruptiven Dark Ambient mit entfernten Erinnerungen an Melodik und Struktur erinnert, auf der Plus-Folge dann in einen Weltaußenraum driftet, in dem jegliche menschliche Wärme in die große Leere diffundiert ist. Sounds, die sich beeindruckend kalt geben, eindeutige Emotionen verweigern, autonom agieren, dabei doch nie abweisend oder abstrakt erscheinen.

Faith Coloccia habe ich bereits mehr als einmal als entscheidende wie integrative Inspirationsfigur dieser Kolumne ausgerufen. Ihr Talent, scheinbar mühelos zwischen Improvisation und Komposition, zwischen Neuer Musik und Folk, zwischen digialem Hi-Tech und analoger Lo-Fi-Produktion zu wechseln, ist unvergleichlich, wie die jüngsten Arbeiten auf ihrem Label SIGE wieder eindrücklich aufzeigen. Ihr Duoprojekt Mamiffer mit Aaron Turner führt die 20-minütige Komposition Mettapatterning For Constellation (SIGE) in zwei Versionen vor: Einer selbstgebastelten Home-Recording-Variante mit den Instrumenten und Bandmaschinen, die gerade so herumstanden. Und eine von Eyvind Kang professionell arrangierte und vom polnischen Spółdzielnia-Muzyczna-Ensemble für zeitgenössische Kammermusik eingespielte Version, die brillant miteinander korrespondieren. Dasselbe Stück Musik, und doch völlig anders.

Dem einstündigen Drone The Soaring (SIGE) des Noise-Komponisten Daniel Menche lieferte Coloccia mit ihrer Stimme (und der von Joe Preston von den Melvins und Thrones) das Basismaterial. Menche schichtet die Vokalisierungen in ein feinstoffliches, aber herbwürziges Stück Deep Listening, das über den ganzen langen Weg keine Sekunde fade wird.

Der kalifornische Komponist Daniel Lentz gehört zu den weniger prominenten, aber durchaus einflussreichen Protagonist*innen der Generation, die nach der Minimal Music der sechziger Jahre kam und weniger nach einem engen Stil oder Genre arbeitete, sondern vielfältige Einflüsse (wie Ambient und frühe Vorläuferformen von Glitch) und Techniken (wie Bandmaschinen-Delay oder Synthesizer) in ihre Musikexperimente einbrachte, tonal, aber doch immer leicht verständlich blieben. Die tolle Kollaborationsreihe FRKWYS setzt Lentz nun in Verbindung mit dem Liebhaber der musikalischen Morbidität Ian William Craigs. Ihr gemeinsames Lockdown-Album FRKWYS Vol. 16: In a Word (RVNG Intl.) bringt beider Obsessionen in perfekten Einklang, Craigs sirenenhaften Gesang von zerbröselnden Bandmaschinen mürbe gemacht, und Lentz’ Piano, durch Echos endlos verdoppelt, um Ecken gespiegelt, im Delay verendet.   

Mindestens genauso morbide und zerbrechlich wirkt das Klavier der Kollaboration von Industrial-Pionier Lustmord mit dem Pianisten zeitgenössischer Komposition Nicolas Horvath. Ihr vierteiliges Großwerk The Fall / Dennis Johnson’s November Deconstructed (Sub Rosa) ist eine Hommage an den Komponisten Dennis Johnson, der in den fünfziger Jahren mit November die Minimal Music der Sechziger antizipiert und danach die Musik zugunsten der Mathematik aufgegeben hat.

Den altbewährten Trick, die Töne soweit auseinanderzuziehen, dass sie trotz feinster Melodik aus dem großen Zusammenhang herausgenommen für sich stehen dürfen (aber ohne das moribunde Dark-Ambient-Sounddesign), benutzt ähnlich Pianist James Rushford auf See The Welter (Unseen Worlds), seiner sehr persönlichen und eigenwilligen Interpretation der Música Callada des katalanischen Komponisten Federico Mompou.

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