Foto: Frank P. Eckert

Dass die Algorithmen der großen und kleinen Streamingdienste Filterblasen schaffen, indem sie Ästhetik zu Ähnlichkeit, Geschmack zu etwas Individuellem machen, ist leidlich bekannt und weitgehend akzeptiert. Sogar von bewussten und kritischen Nutzer*innen dieser Angebote. Die Verschiebung von Genre und Inhalt zu Stimmung und Affekt, die dieses Phänomen begleitet, ist weniger auffällig. Obwohl diese Kolumne Stimmung und Affekt hochhält wie nichts Gutes, sollte die problematische Seite des Ästhetik-First-Ansatzes nicht verschwiegen werden: was in den Filterblasen verschwindet, ist, neben der Möglichkeit der Überraschung, vor allem Diversität und Kontrast. Dass die Diversität von Ideen aber nur über Diversität von Inhalten und Kontexten (in Produktion wie in Lebensentwürfen der Künstler*innen) entstehen kann, ist ein wiederkehrendes Grundmotiv dieser Kolumne. Es findet sich zum Beispiel in Collidings Winds (Concentric, 15. Januar) dem zweiten Teil der vom Soundwalk Collective kuratierten Ambient-Compilationreihe des Berliner Labels Concentric Records. Dieser ist dem ersten Teil (siehe Motherboard vom März 2020) überlegen, weil Beiträge wie Künstler*innen einfach internationaler, stilistisch bunter und in den Sound- und Lebensentwürfen unterschiedlicher sind, nicht mehr den unmittelbar benachbarten Berliner Szenen und Freundschaftszusammenhängen entstammen.

Die Beteiligten der neuesten Compilation auf Posh Isolation, Under Stars / Shells In Color, mögen zwar geografisch eher nahe zusammenliegen – sie leben vorwiegend in Kopenhagen, in Restskandinavien und eine Handvoll Russinnen und Russen ist auch dabei –, die Vielfalt an Zugängen und Arbeitsweisen zu und und mit elektronischen Klängen ist allerdings mehr als vorbildlich. Zudem agieren die Beteiligten auf diesem Doppel-Tape weitaus zuversichtlicher als gewohnt. Schon unglaublich hoffnungsvoll, freudestrahlend und optimistisch, wenn man sich mal so richtig einfühlt, wie sonnenwarm die nordische Grübeltechno-Prominenz hier agiert.

Und die Pop Ambient 2021 (Kompakt)? Nach 21 Jahren? Alles wie immer.

Der Sound der Freiheit kann ebenso gut einer inneren Logik gehorchen und doch den Ausbruch, den Freakout zulassen. Kann politische Unterströme rational bewusst machen und vor Emotionen überquellen. Kann minimal stringente Sound-Art werden oder elektroakustische Hörspiel-Collage. Die Radio Operas der US-Amerikanischen Komponistin Yvette Janine Jackson sind beides, alles zugleich. Ihr Quasi-Debüt Freedom (Phantom Limb/Fridmann Gallery, 29. Januar) sammelt diese Radioopern in Form kleiner, hyperkomplexer, aber völlig offener und ultimativ zugänglicher Soundscapes zum Thema Identität und Körperpolitik entlang der Bildwelten von Black Atlantic, Slave Ship/Space Ship, Free Jazz, Religion, Queerness. Ein klangliches Pendant zum intersektionalen Feminismus: So könnte es klingen.

Oder es klingt wie die extraordinär exzellente Debüt-EP laiii 222 rest ooo : blx ancestral sonix salves (Don Giovanni Recordings) von ọmọlólù. Heilende, queere wie zerissene Soundscapes, in denen Gospel mit Free Jazz zu Power Electronics mit zartem R’n’B wird, ohne dass sich dabei jemand verletzt. Im Gegenteil.

Dies gilt ebenfalls für die unfassbaren Noise-Explosionen der Moor Mother. Ihr jüngstes Musical Circuit City (Don Giovanni Recordings) gehört zum Radikalsten und lärmräumlich Erfülltesten, was vergangenes Jahr so veröffentlicht wurde. Ihre Quellen sind wie gehabt Space Jazz, Spirituals, Spoken Word Poetry, schleifender Drone-Hip-Hop, politische Rede und eine Vorstellungskraft, die das Gewöhnliche weit überschreitet. Könnte es ein besseres Antidot gegen die Covid-19-Isolation geben?

Wie toll und anstrengend es doch ist, auf alle Kategorien zu pfeifen und immer wieder neu zu beginnen, wie es Alt-Avantgardist Jon Leidecker alias Wobbly mindestens seit den mittleren achtziger Jahren praktiziert. Als Teil der radikalen Sample-Aktivisten Negativland und mit diversen experimentellen Combos aus New York und der Bay Area, wo er aktuell lebt, hat er die Form der Soundcollage mit Improvisation und Zufall, mit Computerkomposition und Glitch in ungeahnte Extreme getrieben, die aber immer in augenzwinkernde Coolness und Humor geerdet waren. Folgerichtig veröffentlicht er seine Soloarbeiten nun bei Hausu Mountain, die bekanntlich ein sehr nahe verwandtes Verständnis von experimentellen Sound vertreten. Auf Popular Monitress (Hausu Mountain, 5. Februar) führt Wobbly die algorithmischen Kompositionsprinzipien von Monitress weiter, so hibbelig und abgefahren wie nötig, so freundlich wie möglich.

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