Photo: Kiki Daina Kagami (Cristalyne)
Ein geiles Jahr geht zu Ende. Niemals zuvor waren die Raves rasender, die Festivalsaison frischer, die ravende Gesellschaft gemeinschaftlicher aufgestellt. Business-Techno musste Konkurs anmelden, die Rassist*innen dieser Welt wurden ins 20. Jahrhundert verabschiedet und die Sexist*innen folgten ihnen straks nach und landeten im 15. Spotify wurde erst vergesellschaftet und dann abgeschafft, Musik hören wir seitdem nur noch auf 100% recyceltem Vinyl und niemand nimmt mehr den Flieger zum Gig in Übersee, weil’s mit dem Turbolastenfahrrad über die Unterseekanäle sowieso schneller und ökologischer vonstatten geht. Und das Geile daran? Alle bekamen für ihre Arbeit sogar noch einen gerechten Lohn obendrauf. Sprechen wir’s doch aus: 2020 war das beste Jahr der Menschheitsgeschichte! Mag auch daran gelegen haben, dass jemand Instagram und Twitter abgeschaltet hatte.
Okay, Galgenhumor beiseite: Es hätte nicht mieser kommen können und die Aussichten sind noch prekärer. Während in Thailand oder China beispielsweise die Clubszene nach erfolgreicher Eindämmung der Pandemie wieder hochgefahren wurde, heißt es derzeit in Deutschland und anderen zentraleuropäischen Ländern: Nix geht mehr, und das wohl auf lange Zeit. Werden sich die Clubs retten? Vielleicht ein paar von ihnen. Unter welchen Bedingungen machen sie dann wieder auf? Wer weiß das schon, die Prognosen fallen aber eher düster aus. Was ist mit den DJs? Tja. Den Produzent*innen? Doppel-Tja. Dem ganzen Apparat um sie herum, den Booker*innen, Runner*innen, Plattenladenclerks… und allen anderen? Drei-und-Vier-und-Fünffach-Tja. Hoch tausend.
Nein, mit dem Anbruch eines neuen Jahres wird sich nichts ändern und selbst positiver Nachrichten bezüglich der ersten Impfstoffe zum Trotz wird diese Szene wohl noch geraume Zeit zum rasenden Stillstand verdonnert bleiben. Was bleibt? Die Musik. Hilft die? Nur bedingt. Nur insofern zumindest, als dass sie das ultimative Bindeglied und Schmiermittel zwischen uns allen ist, der Unterpfand einer Möglichkeit von Solidarität. Von der brauchen wir eine ganze Menge, weil es kollektiver Kraftanstrengungen bedürfen wird, das zu retten, was wir nicht nur lieben, sondern was uns gesellschaftlich formt und mit politischen Impulsen versorgt. Dieses Ding namens Techno, diesen an sich zwar inhaltsleeren Beats und Synth-Lines, die doch im Miteinander eine klare Message ausformulieren.
Womit wir dann auch beim Thema wären: Die GROOVE-Redaktion und ihre Autor*innen verabschieden sich von einem Jahr, das auch den Musikjournalismus hart getroffen hat. Dessen wirtschaftliche Grundlage ruhte immer schon auf tönernen Füßen, im März wurden sie ihr mit einem Schlag unter dem Körper weggezogen. Was dieses Magazin bis hierhin am Leben erhalten hat? Ihr. Wir danken euch dafür und versprechen unser Möglichstes zu tun, damit es sich lohnt – im kommenden Jahr und darüber hinaus. In der Zwischenzeit? Sagen wir zum Jahr 2020: tschüß, fuck off, war echt nicht schön mit dir. Und zwar mit den liebsten Putzlicht-Tracks unser Autor*innen, die hier und dort vermerkt haben, was das eine oder andere Stück für sie bedeutet.
Wer sollte das dann auch in einen Mix übertragen, wenn nicht Cristalyne? Unseren Leser*innen ist sie vermutlich noch besser als Cristina Plett bekannt. Sie komplettierte Anfang 2019 die neu aufgestellte GROOVE-Redaktion und legte unter anderem eine knallharte Recherche zur verkorksten Geschichte des Her Damit vor, bevor sie an die Deutsche Journalistenschule in München wechselte und zuletzt bei der ZEIT im Wirtschaftsteil hospitierte. Business und Techno: Kennt sie beides wie ihre Westentasche. Und wenn also die Social-Media-Expertin nicht gerade die wirtschaftlichen Probleme spanischer Millennials oder die Wirkweisen des Services Telegram auseinander klaubt, schreibt sie weiterhin für GROOVE – in diesem Jahr unter anderem über Afrodeutsche, Roza Terenzi und Avalon Emersons fulminanten DJ-Kicks-Eintrag sowie im großen Rewind 2020 über das Phänomen Techno-Twitter.
Sie ist aber auch Mitveranstalterin der Berliner Veranstaltungsserie Venture für avanciertes Sitzsack-Listening mit konzeptuellem Überbau sowie der pandemiegerechten Zoom-Rave-Reihe Scrub Club sowie DJ unseres Vertrauens mit einer brandneuen monatlichen Show auf Radio 80000 namens sitio. Breaks, Pads, 90s-Hits: Kann alles vorkommen, muss aber nicht, wird wenn dann aber in jedem Fall smart und liebevoll miteinander in Arbeit gesetzt. Deswegen haben wir Cristalyne auch gebeten, diese im wahrsten Sinne des Wortes außerordentliche Folge unseres GROOVE Podcasts zu übernehmen und einen ganzen Berg an sehr unterschiedlicher Tracks eingedampft und das ausgetretene H2O dann in einen, na, Fluss gebracht. Sie hat uns nicht enttäuscht. Wäre ja auch das erste Mal gewesen. Danke, Cristina!
Was bleibt noch zu sagen? Nur dies, in eigener Sache: Ab dem Jahr 2021 werden wir einen stärkeren Fokus auf unseren GROOVE Resident Podcast legen. Mehr denn je halten wir es für essentiell, die Säulen unserer Szene zu würdigen, ihren musikalischen Geschmack und ihr Können genauso wie ihre Ansichten, Perspektive und Probleme in den Vordergrund zu rücken. Während wir im selben Zug versuchen werden, in der Programmierung des regulären GROOVE Podcasts graduell dessen merkliche Euro- und Nordamerikazentriertheit zu brechen. Das schließlich war nicht nur eine Lektion, sondern ebenso eine Aufgabe, die wir aus einem beschissenen Jahr mit ins nächste nehmen: Lokaler Support und globale Solidarität dürfen einander nicht ausschließen, sondern müssen sich unbedingt verzahnen und gemeinsam wirken. Sonst wird’s ja wieder nix und wir schreiben Ende 2021 denselben Stuss ein zweites Mal. Kann ja auch niemand wollen.
Jetzt aber zum Eigentlichen: 78 Minuten Closing-Feeling für den Shutdown. Musik zum Schwelgen in Rave-Reminiszenzen, der Soundtrack für Aufbruchsstimmung und Zeltabbau. Ein Mix zum Krafttanken, Anlaufholen, Das-nächste-Jahr-mit-Schwung-angehen. See you on the other side, und danke nochmals. Ohne euch wären wir nicht hier und uns schrecklich kalt.
Stream: Cristalyne – Putzlicht 2020
01. The Velvet Underground – After Hours (ausgewählt von Alexis Waltz)
02. Numinos – Gentle Conflation (ausgewählt von Numinos)
03. Caterina Barbieri – Fantas (ausgewählt von Philipp Weichenrieder: “Fantas” kann mit überwältigenden Klangspiralen und erschütternden Vibrationen den Fall in einen neuen Tag abfedern, ohne den Aufprall zu verschweigen – nicht nur am Ende einer Clubnacht.)
04. Mappa Mundi – Trance Fusion (ausgewählt von Nils Schlechtriemen: Das Ende einer Clubnacht ist der Weg nach Hause, mit Nachglühen hinterm Stirnlappen und nassen Haaren, Leitungswasser vom Klo und finaler Tüte in der Mittagssonne. “Trance Fusion” zündet dann warmes Kopfkino und streichelt den Geist, egal was war.)
05. John Foxx – The Garden (ausgewählt von Tim Caspar Boehme: „Every gesture filled with longings / I still feel / We fade away“)
06. Richard & Linda Thompson – Dimming of the Day (ausgewählt von Frank P. Eckert: Mein Rausschmeisser aus den Zeiten als ich noch an semi-öffentlichen Orten Platten aufgelegt habe, also, äh hust, vor 28 Jahren. Titel spricht tatsächlich für sich. Und es ist ungefähr der schönste Breakup-Song ever.)
07. Nuyorican Soul feat. Jocelyn Brown – I Am the Black Gold of the Sun (4Hero Remix) (ausgewählt von Holger Klein)
08. Lucio Battista – Prendila Così (ausgewählt von Mirko Hecktor)
09. Fleetwood Mac – Dreams (ausgewählt von Laura Aha)
10. The Horn – Villager (ausgewählt von Christoph Umhau)
11. Róisín Murphy – Ancora Tu (ausgewählt von Stefan Dietze: Perfekter Song zum Ausklang einer langen Nacht, der sich hervorragend in geschmackvollen After Hour-Sets vermixen läßt.)
12. Efdemin – Parallaxis (Traumprinz’s Over 2 The End Version) (ausgewählt von Leopold Hutter)
13. Link – Amenity (Original Mix) (ausgewählt von Leonard Zipper)
14. Trevino – Eclipse (ausgewählt von Cristina Plett)
15. Borai & Denham Audio – Make Me (ausgewählt von Franziska Finkenstein: Story: ich – Panorama Bar, 2019 – Steffi – last track. What else do u need to know? Sweat or tears? Both.)
16. Eleven Pond – Watching Trees (ausgewählt von Max Fritz: „Watching Trees” ist sicherlich kein klassischer Putzlicht-Track im eigentlichen Sinn, scheint es dabei konzeptuell ja vor allem darum zu gehen, die energetisierte Masse mit einer Mischung aus Wehmut und Weltschmerz in die Nacht zu entlassen. Zwar vermag Eleven Ponds größter Hit aus dem Jahr 1986 das vor allem auf textlicher Ebene durchaus zu leisten, kanalisiert die überbordende Euphorie eines Raves aber derart gekonnt auf den Schlusspunkt hin, dass der lange währenden Afterhour nichts im Wege steht.)
17. Elton John – Rocket Man (ausgewählt von Kristoffer Cornils: Am Ende darf von neuen Ufern geträumt werden, von den potenziellen ups und den unvermeidlichen downs. Der Winter wird kalt und einsam, “and I think it’s gonna be a long long time”. Aber dann.)
Die alphabetisch sortierten B-Seiten für alle, die weiterraven wollen:
Gigi D’Agostino – L’amour toujours (ausgewählt von Nastassja von der Weiden: Ein Closingtrack, der keiner ist – denn ich habe ihn (leider) nie als Closing gehört, mir aber schon oft gewünscht, den Abend mit dieser absoluten Gewissheit des Songs enden lassen zu können, dass “die Liebe” immer irgendwie da ist, auch wenn es ausgerechnet in diesem Moment, jetzt, hier, kurzfristig wie langfristig nix wurde. Vielleicht hätte ich selbst DJ werden müssen, um ihn zu spielen.)
Raffaele Attanasio – Der Himmel über Berlin (Piano Solo Version) (ausgewählt von Philipp Thull: Attanasios “Himmel über Berlin” vereint die aufgebaute Energie der letzten, gemeinsamen Stunden, in einem ungewöhnlich, anschmiegsamen Stück. Zeit die Füße auszuruhen und in den Armen des*der Tanzpartner*in die vergangene Nacht Revue passieren zu lassen.)
The Deacon – Fuji (ausgewählt von Felix Hüther: Der Track des Hardlife-Produzenten Gerald Mitchell greift das Samurai Thema auf, das zuvor bereits durch RZA einiges an Aufmerksamkeit erhielt. „Fuji“ fällt nicht mehr in die glorreiche Zeit von UR in den Neunzigern und knüpft doch auf dem Höhepunkt von Minimal in 2006 genau dort an. Der Track ist leider nur mindestens 6 Minuten zu kurz.)
The Martian – Star Dancer (ausgewählt von Christoph Benkeser: Lights on, letzter Track und Pipi in den Augen, weil das für immer bleibt.)
The Polymonsters – You Didn’t See it Coming (ausgewählt von Martina Dünkelmann: ein Song meiner dysfunktionalen Ex-Band The Polymonsters: “You Didn’t See It Coming”. Ich weiß nicht, ob andere Leute den als Closing Track hören wollen würden, aber auch in dem Fall würde er ja seinen Zweck erfüllen, als Dancefloor Wischmob…)