10.01 & 10.02 (Don’t Be Afraid)  

Klingt gefällig, ist aber so: Bei Don’t Be Afraid war der Name schon immer Programm und das ändert sich (erst recht) in diesem vermaledeiten Jahr um keinen Deut. Die zweiteilige Jubiläums-Compilation von Semteks Label drängt auf den geschlossenen Dancefloor zu und wird dort zumindest in diesem Teil der Welt so schnell nicht ankommen. Aber? Aber drauf geschissen: Wenn’s ballert, wird’s rausgeballert. Und es ballert gehörig über 22 Tracks hinweg, auch wenn selten direkt vier auf den Flur gegeben oder die Uhren auf Peak Time gestellt würden. Darauf schließlich stimmt bereits Label-Mainstay rRoxymore ein, die über einen bouncenden Beat jazzige Töne und freakige Samples durch den Mix kullern lässt, bevor eine hart zupackende Bassline den gesamten Track neu sortiert. Nach dieser Ansage mit Essenz geht es weiter über schwelgerischen Breakbeat (Tyler Dancer), kratzigen Hardcore (Kerrie), gniedeligen Jazz-Techno (Kamau), spröde-claplastige Jeff-Mills-Frühwerk-Anleihen (General Ludd), spannungsgeladenen Stepper-Electro (M Gun), ein Wirrwarr aus Hi-Hats, Kicks und Synthie-Gefiepse (Jayson Wynters), Verschnauer-Dub-Techno (Brassfoot), überslicke Hi-Tek Riddims (Lurka), komplex verzahnten Maschinenjams (Karen Gwyers) hin zu ominösen Bass-Abstraktionen (Mr. Beatnik). Und dann? Werden die übersäuerten Wadenmuskeln nicht etwa geschont, sondern nur kurz mit Voltaren eingesalbt und kurzentschlossen weiter malträtiert. Spooky Cosmic Disco (Scott Ferguson), Holterdiepolter-House (Raven Cru), tribalistisch-jazzige Synthesen (The Room Below), Mr. G doing Mr. G things like only Mr. G does things (Mr. G), karger und doch experimenteller Deep House (Jay L & Semtek), Schluckauf-Tech-House mit Emo-Pads (Pablo R. Ruiz), soul-samplige Lo-Fi-House-Reminiszenzen (Halvtrak), ein zweites Mal Verschnaufer-Dub-Techno (Minos), hochglänzender und warmer Electro (Wheelman), ein verspielter Bass-Techno-Hybrid (Hollie) und als Rausschmeißer ein ahnungsvoll-nostalgisches Breakbeat-Stück (Midnight Snacc) – auf einen Nenner kommt hier wirklich gar nichts, zum Punkt jedoch das meiste. Während der erste Teil der Doppel-Compilation sich härter gibt, der zweite sanftere Töne anschlägt und sich dazwischen sonst nur selten ein roter Faden am Rande des imaginären Dancefloors blicken lässt: Eine denkwürdigere Jubiläumsfeier zum Zehnjährigen hätte Semtek sich selbst, seinem Label und allen voran diesen gegen den Strich denkenden Produzent*innen nicht schmeißen können. Kristoffer Cornils

Diapason Compilation Vol. 1 (Sameheads)

Diapason ist der ursprüngliche griechische Name für die Oktave, kann aber im Französischen auch Stimmgabel heißen und erinnert etwas an das Propädeutikum der Musikwissenschaften. Folgerichtig beschäftigen sich Umlaut in den ersten acht Minuten der Compilation etwas beliebig, aber beruhigend Ambient-artig, mit der – seit jeher populären – menschlichen Vorliebe Töne mit Farben zu verbinden. Damit gehen sämtliche musiktheoretischen Schubladen von Isaac Newton bis Castels Farbenklavier, zu Skrjabin und die Farb-Form-Sound-Film-Experimente von John Whitney auf (“Content King”). Paul Arambula bleibt der New Yorker 1970er/80er Jahre Popavantgarde-Szene verbunden (“In The Wood”). Tenere Lontanos “Its Not The Same” versöhnt mit balearisch-verhallten CR-78-ähnlichen Alleinunterhalter-Grooves, verträumten Reverb-Gitarren und schickt damit Brian Enos “Another Green World” und Phil Collins “In The Air Tonight” per Chris Rea-Postkarte nach Hawaii. Twonky erinnert mit “Palle” an die French-Slow-Wave-Disco. Französisch-münchnerisch nähert sich Alexander Arpeggio vom Camp Cosmic zusammen mit OhLandy den dunklen Kokain-Hybris-Synthflächen von Giorgio Moroder im 1983er-Scarface-Remake und entführt sie in obskure südamerikanische DX7-Panflöten-Anden-Verweise (“L’Appel”). Man könnte die Compilation auch als Camp-Cosmic-Archiv charakterisieren. Circa sechs der 13 versammelten Acts spielten dort in den letzten Jahren. Das macht Sinn, denn der Club Cosmic fand als monatliche Clubnacht im Sameheads statt. Eine weitere Konstante der Compilation – die wiederkehrenden CR-78-Sounds – schweben auch bei Chikiss abermals ambient-esque durch den Raum (“Vniz”). Misonicas legt im ruhigen Livejam “Tormenti” sphärisch nach. Und Steve Pepes “21” schließt die konzentrischen Kreise des Tapes mit der Aufzählung von Zahlen und gelangt wieder zur Elektronik-Pop-Avantgarde der 1970/80er Jahre. So ist Diapason Vol. 1 eine intelligent angeordnete Leistungsschau aus dem Umfeld des Sameheads. Mirko Hecktor

PlanetMµ25 (PlanetMµ) 

Bei Geburtstags-Compilations juckt es immer in den Fingern schnell ein Torten-Emoji rauszuschicken, irgendwelche Danksagungen in die Kanäle zu geben und noch kurz hinterherzuschicken, wie sehr man selbst von dem betreffenden Label beeinflusst worden sei. Also letztlich unterscheiden sich Jubiläen und Todesmeldungen nur in Detailfragen. Shit, man neigt zum Zynismus in diesen Tage. Dabei sollte man sich doch wirklich freuen, dass ein Label wie Planet Mµ schon ein Vierteljahrhundert besteht.

Als das Label `95 gegründet wurde, war IDM tatsächlich soooo fucking heiß, dass Virgin einstieg, um Labelhead µ-ziq eine Plattform zu verschaffen. Funktionierte dann nur halb gut, ist aber vor allen Dingen aus heutiger Sicht kaum noch vorstellbar. Dennoch: Über 400 Platten später gibt es Label, Chef und Genre immer noch – Torten-Emoji incoming.

Wie wichtig dieses Label war, wird man vermutlich erst in 100 Jahren wirklich checken, wenn sich Traditionslinien wie ein Spielbrett offenlegen lassen; bis dahin kann diese Compilation als Mini-Stammbaum herhalten. Da wäre einerseits die Footwork-und-Juke-Ecke, die Europa und der Welt dieses musikalische Erbe Chicagos offenbarte, um den Künstlern der Windy City den verdienten Ruhm zukommen zu lassen. Was RP Boo und DJ Nate hier mal wieder raushauen ist dann schlicht und ergreifend einfach der beste Jazz seit J.Dilla zu früh von uns gegangen ist.

Über das nackte Experiment von Ripatti öffnet sich von da aus die Abstrakt-Riege um Konx-Om-Pax und Rui-Ho, die hier konsequenterweise zeigen, wie schnell sich ihr Ansatz eben auch zu herzzerreißenden Pop-Songs verabeiten lässt. Und dann sind da noch Ital Tek und Eomac, die beweisen, dass Hardcore wohl niemals sterben wird.

Solche Compilations sich natürlich auch immer Fan-Service und haben nie den Anspruch die richtig großen Mühlen anzutreiben; dafür ist diese hier aber ganz schön kurzweilig. Glückwunsch auch dazu! Lars Fleischmann

Rec Room presents Roots, Space, Vision Vol. 1 (Rec Room) 

Rec Room, das Kollektiv und die Party, gibt’s seit 2013. In Berlin haben Sarah Farina, DJ Uta und Kepler eine Nische zwischen Ambient-Ausflügen, Jungle-Trips und Baltimore-Bass-Exzessen aufgemacht. Mit Roots Space, Vision Vol. 1 rutschen zum ersten Mal zehn Tracks von Produzent*innen wie Ray Kandinski, Badsista und Jana Rush aus dem neuen Labelkatalog von Rec Room, dem nur das „Records“ zum lupenreinen Alliterations-Hattrick fehlt. Ist aber auch egal, denn wer wissen will, wie sich ein Abstecher in die Farbabteilung für farbenblinde Maler*innen anfühlen muss, dreht den Verstärker ans Limit. Die Lautsprecher schlitzen sich vor Freude die Konen auf, so oarg brutzeln die Subbässe bei Tracks wie „1711119“ von N9oc. Freundinnen und Freunde des „Seit Pink Floyd is alles Scheiße“-Lagers sollten man mit CalvoMusics „Jealousy“ auf ein konsensuelles Footwork-Sabbatical ins Ohm schicken. Und die pure Blissness von Badsista muss man sich erst mal trauen, zwischen zwei Kick-Drums zu pressen. Eine Platte zum Eskalieren unterm Avocadobaum. Christoph Benkeser

Virtual Dreams- Ambient Explorations In The House And Techno Age 1993 -1997 (Music from Memory)

Schon in den frühen Tagen von Acid House und Rave entwickelte sich, vornehmlich zunächst in England, das Phänomen des Chill-Out -Rooms: vom eigentlichen Dancefloor abgetrennte Räume, die nach auszehrendem Tanzmarathon zum Entspannen einluden. Zu gemütlichen Sitz- und Liegemöglichkeiten und – im besten Fall – Tee und Obst kredenzten dort DJs wie Mixmaster Morris oder Alex Patterson (und in Deutschland etwa Dr. Atmo in Frankfurt oder das Hamburger Synapsen DJ Team) einen eklektisch-entspannenden Musikmix aus früher Elektronik, Walgesängen, Dschungel-Atmosphären und Kraut- wie Progrock-Extravaganzen. Oder was auch immer passte: Anything ging, “I think therefore I ambient” war das Motto. 

Mit der Zeit entwickelte sich dazu natürlich auch eine eigene Musik, die in den auf dieser Compilation abgebildeten Jahren von 1993 bis 1997 ihren Höhepunkt fand. Musiker wie Jonah Sharpe (aka Space Time Continuum) aus San Francisco, Cabaret Voltaire’s Richard H.Kirk, Sun Electric und LFO, David Moufang und Jonas Grossmann als Deep Space Network oder Roman Flügel und Jörn Elling Wuttke unter ihrem Primitive-Painter-Pseudonym produzierten einen ätherischen Sound, der sich aus Psychdelic ebenso nährte wie aus der Raveerfahrung, der New-Age-Texturen mit Dub à la Lee Perry oder der kosmischen Musik Tangerine Dreams zu einer hypnotisch gemächlichen Melange verband, mal mit schlurfenden Beats, mal auch ganz ohne. 

Das Ganze wurde unterfüttert mit neotribalistischen und bewusstseinserweiternden Theorien von R U Serious’ Mondo 2000 Magazin und Denkern wie Terrence McKenna, Timothy Leary oder dem heute noch aktiven Douglas Rushkoff, die von Pilze essenden Urmenschen bis zu Visionen einer cyberpunkig vernetzten Zukunft reichten. 

Diese faszinierende Epoche der Rave-Geschichte (die damals durchaus global stattfand, die San Francisco, Berlin, Tokyo, Hamburg und Mexico City, um nur einige zu nennen, zu einem “Global Chillage” verband) wird auf diesem Sampler kongenial wieder zum Leben erweckt – und klingt alles andere als angestaubt. Tatsächlich möchte man sich direkt in den nächsten Strohballen fallen und einen Spirulina-Cocktail reichen lassen, um sich dann in Marihuana verwehte Hörweiten luzide hinwegzuträumen. Der perfekte Isotank einer vergangenen Zeit. Schade nur, dass mit The Orb und vor allem Mixmaster Morris’ Irresistible Force auf dieser auf Music from Memory erschienenen Compilation zwei basisbildende Titanen dieser Musikrichtung fehlen. Ansonsten: perfekt. Tim Lorenz 

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