Bonzai Compilation Chapter 1 (Bonzai)
Kein Jahr hatte es gedauert, da waren Yves Deruyter, Christian Pieters und Franky Jones mit ihrem Label Bonzai Records vom Antwerpener Untergrund in MDMA-befeuerte Hirne auf dem ganzen europäischen Kontinent vorgedrungen. Mit einer homogenen Mischung aus Hard Trance, Hardcore und latent säurehaltigem Techno markierte die allererste Bonzai-Compilation von 1993 für Belgiens Clubszene den Sprung auf internationale Tanzflure – und ebnete späteren Chart-Erfolgen anderer DJs und Projekte wie Dune, Scooter oder Marusha den Weg. Versammelt waren neben den Labelchefs auch der damals sehr umtriebige Stefan Melis aka DJ Bountyhunter aka X-Change, David Brants aka Axel Stephenson oder Laurent Mayer, der sich Mitte der 90er als Brainwasher in Paris einen Namen machen sollte. Die ungestüme Power dieses Jahrzehnts, nach der sich heute selbst all jene zurücksehnen, die sie nie erlebt haben, ist im ersten Kapitel der Bonzai-Sampler herrlich unverfälscht zu hören. Viele Tracks etablieren einen spontanen, fast skizzenartigen Keller-Rave-Vibe, etwa Bountyhunters „Short Circuit“ oder das kirre „About Christine“ von Deep Atmosfear. Andere hingegen wirken etwas ausgefeilter und nehmen die Popularität, die dieser Sound in den Folgejahren genießen sollte, erfolgreich vorweg: Man höre nur das sommerlich euphorisierende „Land Of The Rising Sun“ von Introspective oder den mit Blockflöten aufgelockerten Acid-Zwirbler „The Sequal“ Marke Phrenetic System. Insgesamt ist die B-Seite dieser Kompilation zwar etwas stärker, doch für Leute, die damals dabei waren oder mal eben eine kleine Bildungslücke schließen wollen, lohnt sich das Reinhören von Anfang bis Ende. Nils Schlechtriemen
Consequences (Decisions)
Decisions, das Label von Air Max ’97, feiert fünf Jahre Chaos in der Clubmukke. Wer da nicht den Laptop aufklappt, um an Hi-Hats mitzuhäckseln und ein paar Magic-Kerzen in die Basstrommel zu rammen, salutiert auf Keta bei Vierviertel-Geschranze zu Gebrauchsmusik für Gelegenheitsdilettanten. Denn Consequences, die 15 Artists umfassende Labelparty von Decisions, hat mit Linearität so wenig zu tun wie ein abgebrochenes Geo-Dreieck im Weiterbildungskurs für darstellende Geometrie. Ob der radikalisierte Goblin-Verschnitt von Emily Glass’ „Scribble Machine“ oder das an den Ritalin-Rückständen schlabbernde „Walking With The Tasman Abel“ von Ido Plumes, der abgefackelte Flipperautomat von Oroboro („Absolute Schism“), das als Hyper-Grime kostümierte „Neighbour Mr Tumnus“ von SCAM & Sevy oder die Memphis-Beats, die der in Frankfurt wohnende Avbvrn in einem Ambient-Tunnel zündet –, die Geburstagsplatte zum vollen Fünfer lallt aus vollem Halse „Deconstructed Club Music“ – nur ohne die beschissene Borniertheit, die man sonst von der Akademie für Intellektuellen-Gebumms zu hören bekommt. Christoph Benkeser
Defend Your Planet (Avoidant)
Avoidant ist ein noch recht junges Glasgower Electro-Label, hinter dem aber gar nicht mal so junge Leute stecken. Gegründet wurde es nämlich von den Machern von Soma Recordings, die sind seit annähernd 30 Jahren im Geschäft. Da ist der nächste Release von Somas Stamm-Act Slam niemals wirklich weit entfernt. Weil das vielleicht ein wenig zu viel Kontinuität ist, kam es zu Avoidant und einer anderen, deutlich klarer formulierten Agenda. Electro in seinen verschiedensten Spielarten ist der rote Faden, ein noch größeres Thema verfolgt die erste Label-Compilation, Defend Your Planet. SciFi-interplanetar geht es musikalisch zu – und das auf 17 Tracks mit einer strammen Spieldauer von 90 Minuten. Man begegnet altbekannten Namen wie Carl Finlow, The Advent oder den Detroiter DJs K1 und Nasty (hier unter dem Pseudonym Detroit’s Filthiest) sowie jede Menge neuen Acts aus den verschiedensten Winkeln der Welt, ziemlich bemerkenswert sind etwa die Beiträge von Confluence aus Russland oder CYRK aus Berlin mit ihrem erfrischend brachialen Ansatz. So ein bisschen die Antithese dazu ist Annie Hall aus Barcelona und ihr freundlich-verträumter Guck-in-die-Luft-Track „Miedo Estetico“. Eine durch und durch profane Forderung formuliert indes „Stick Up“ von Detroit In Effect – put your hands up heißt es auf diesem Electro-Track mit seinen Chicago-House- und Party-HipHop-Einsprengseln. Nach 90 weitgehend sehr zupackenden Minuten ist man dann doch ein wenig agitiert. Holger Klein
fabric presents: Eris Drew & Octo Octa (fabric)
Es gab ja damals schon gute Gründe, warum man in London die Fabric– und die Fabriclive-Mix-Serie je nach hundert Ausgaben eingestellt hatte. Soundcloud-Serien, digitale Radiosender, den Boiler Room und die Apologeten des Partystreams – sie allesamt hatten die Bedeutung der Mix-CD schwinden lassen. Warum 20 Euro ausgeben, wenn man das alles auch umsonst haben kann? Waren solche Reihen nicht schon outdated, als man Tracklisten googlen konnte?
„Hahaha“, hallt es nun aus der englischen Hauptstadt, „auf die Knie, ihr Tölpel! Kommt angekrochen.“ Es konnte ja keiner ahnen, dass Virus-bedingt nun die gesamte Szene auf Live-Kamera-Einsatz umsteigen wird, die Social-Media-Feeds überschwemmt werden von Mixen, Mixen, Mixen. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus. Bla Bla neue Demo, bla bla alter Discogs-Fund.
Plötzlich wirkt es geradezu avantgardistisch eine CD in der Hand zu halten, die nicht bloß Promo an Promo reiht, sondern wirkliches Storytelling verspricht. Die neue Ausgabe der T4T LUV NRG-Gründer*innen Eris Drew und Octo Octa kommt mit einer Geschichte über Hoffnung in Zeiten ohne Hoffnung daher und verhandelt die Frage, was es eigentlich noch zu Feiern gibt, obwohl die Welt ein eindeutig schlechterer Ort ist als noch vor fünf Jahren. Dafür werden nicht nur die typischen Exklusiv-Tracks bemüht, sondern auch ganz viel Neunziger-Kitsch, der hier zwischen Vinyl Blair und „Sunshine“ von Westbam und Dr. Motto genügend Platz lässt für eine heimische Tanzpartie.
Wer also nochmal wissen möchte, wie es war, Masken im Club – bloß aus Stylegründen – zu tragen, der sollte hier zugreifen. Lars Fleischmann
Evident Ware 1.0 (Sneaker Social Club)
Wer dem UK Underground bereits seit den 1990ern die Treue hält, der kann die mitgemachten Jungle-Revivals wahrscheinlich kaum noch an einer Hand abzählen. Jede Produzenten-Generation scheint sich aufs Neue an den Bausteinen und Überbleibseln des Hardcore-Kontinuums zu versuchen. Was damals noch neu und aufregend war, den Sci-Fi-Geist verkörpernd und gleichzeitig die harte Realität von Londons Straßen abbildete, ist längst zur Historie geworden, an der sich Produzenten gerne bedienen, wenn es ihnen darum geht, diesen Vibe abzubilden.
Street Credibility, Soundsystem Culture, Underground und Rave sind die sofortigen Assoziationen, bringt man abgehackte Breakbeats, MC-Vocals und Alarmsirenen-Synths ins Spiel.
Auf der jetzt in zwei Teilen erschienen Compilation des bristolischen Labels Sneaker Social Club dürfen sich nochmal alle an ihre Neu-Interpretation des Hardcore-Sounds wagen. Mit dabei viele alte Bekannte wie Dubstep-Pionier Appleblim oder die 2-Step-Veteranen Horsepower Productions. Aber auch eher mit Techno in Verbindung zu bringende Akteure wie Peder Mannerfelt oder Clouds. Dann aber auch neuere Künstler wie Forest Drive West, der seit jeher eine spannende Brücke zwischen den klassischen Elementen von UK-Hardcore und Techno-Grooves baut.
Dieser Mix mit verschiedenen Backgrounds und Ideen zu den Themene Jungle, Breaks und UK-Bass macht die Compilation zu mehr als dem x-ten Revival. Während sie stilsicher in stolpernder Beat-Science-Manier startet, findet man sich schon bald in unterschiedlichsten Tempi wieder, und gerade die zweite Hälfte des ersten Teils geht stark ins noisige Overdrive-Chaos.
Ebenso frei agiert der Part 2 der Compilation, wo auch beatlose Stücke (Konx-om-Pax) erscheinen dürfen, und Tracks wie „Closer Rave Casual” vom Manchester-Produzenten Anz zeigen, dass Hardcore heutzutage komplett losgelöst vom bisher gedachten, engen Korsett aus gechoppten Breaks und Subbassline stehen kann.
Dass sich das Gesamtpaket Evident Ware immer noch eindeutig als Nachfahre dieser Tradition identifizieren lässt, obwohl die Bausteine hier so mächtig entkernt und herumgewürfelt wurden, wie vielleicht noch nie zuvor, muss man als Erfolg ansehen. Auch 30 Jahre nach der Geburtsstunde von Hardcore lebt die Bewegung also weiter, ist offener für Neues denn je zuvor und klingt gleichzeitig so cool, authentisch und eindrücklich wie einst in den 90ern. Leopold Hutter
Sharpen, Moving (Timedance)
Omar McCutcheon alias Batu ist aus der derzeitigen Bass-Musik nicht wegzudenken. Seit vielen Jahren tüftelt der Brite an Klängen, die den Spagat zwischen intellektueller Tiefe und derben Breakbeat-Drives erfolgreich meistern. Seit fünf Jahren führt er das Label Timedance, das nun anlässlich dieses jungen Geburtstags den neuen Sampler Sharpen, Moving präsentiert. Zwölf Künstler*innen offerieren darauf ihre individuellen, rastlosen Klangvisionen, und reißen die Hörer*in in den UK-Underground. Egal ob Cleyras lebendiger Drum’n’Bass oder Happa’s Vollrausch-Dubstep bei „15Three“, der Drang zu hoher Plastizität in den Produktionen ist bei allen Tracks festzustellen. Intsektoid flirren Hi-Hats nicht nur bei Bruce’s „Longshot“ durch die Klangräume. Kontrastiert wird die aufkommende Zartheit von den notwendigen bratzigen Elementen, seien es die zerhackten Stimmen in Metrists „Total Paper“ oder auch Mang x GRAŃ’s brachiale Bass- Schläge.
Zum Tanzen taugt das alles nur bedingt. Klar, bewegen muss man sich dazu, aber die Breaks rauschen teilweise so plötzlich heran, dass man sich an ein neues Soundbild gewöhnen muss, ohne das vorherige recht verdaut zu haben. Deshalb sollte man sich unter Umständen sicherheitshalber eher in den wippenden Sessel setzen, die Füße hochlegen und sich an dem musikalisch hochgezüchteten Dickicht erfreuen, dass hier von talentierten Leuten auf gewalttätige, aber doch konzentrierte Weise dynamisch durchdrungen wird. Lucas Hösel