Karenn (Alle Fotos: Marie Staggat)
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Karenn begeistern nicht nur mit schnörkellosem, hochenergetischem wie düsterem Sound, die beiden Briten sind virtuose Performer und beleben rauen UK-Hardware-Techno von Artists wie British Murder Boys neu, ohne dabei rückwärtsgewandt zu sein oder Trends hinterherzulaufen. Nach ihrem legendären Boiler-Room-Live-Set 2014 und EPs für ihr Vorgänger-Label Works The Long Nights folgte zunächst eine lange Schaffenspause. 2019 meldeten sich die beiden gestandenen Produzenten dann mit einem Knall zurück: Gleich zwei Maxis und ihr LP-Debüt Grapefruit Regret erschienen auf dem neu gegründeten Imprint Voam. Insbesondere Letzteres wurde von der Kritik gefeiert und schaffte es auch in unsere Tracks des Jahres. Die Vorab-EP Kind Of Green wird derzeit neu aufgelegt.
Arthur Cayzer alias Pariah und Jamie Roberts alias Blawan stehen symptomatisch für eine Generation an UK-Produzenten, die zunächst in der Post-Dubstep-Welle mit Bassmusik auf R&S Records Fuß fassten, über die Jahre und durch die Zusammenarbeit zu einem immer geradlinigeren Techno-Sound fanden. Auch alleine schraubt Blawan in seinem Berliner Studio unermüdlich an Techno-Exkursionen für sein Label Ternesc. Pariah ist bis auf sein überraschend positives Ambient-Album Here From Where We Are im Sommer 2018 kaum noch als Solokünstler in Erscheinung getreten.
Nach ihrem GROOVE-Interview 2013 und dem Blawan-Feature 2018 hat GROOVE-Autor Andreas Cevatli die beiden kürzlich nach einer Show im Münchner Blitz getroffen und über Grapefruit Regret, Live-Shows mit abhängig machenden Modularsynths, Dudelsäcke im Studio und den aktuellen Zustand der Techno-Szene gesprochen.
Außer der Grapefruit gab es hoffentlich nicht viel zu bedauern, seit ihr das Album aufgenommen habt. Wann habt ihr realisiert, dass ihr an etwas wirklich Großem dran seid?
Pariah: Ja, abgesehen von der berüchtigten Grapefruit, die für das Album namensgebend war, können wir uns eigentlich über nichts beschweren. Das letzte Jahr im Studio war wahrscheinlich die beste und spaßigste Zeit für uns seit unseren allerersten Tunes. 2018 war das anders, da hatten wir ein bisschen zu kämpfen. Ich bin damals drei oder vier Mal nach Berlin gekommen, um Aufnahmen zu machen, aber wir waren einfach nicht fokussiert genug. Wir haben alles rausgehauen, was ging, aber daraus ist nichts Konkretes entstanden. Beim Album fand alles wieder zueinander – fast wie ein Reset, ein frischer und aufregender Neustart für uns.
Blawan: Ausschlaggebend für die Energie im Studio war, dass wir ein größeres Ziel hatten und einen Sinn in unserem Handeln sahen. Wir hatten einen Grund, warum wir jetzt in diesem Moment hier sind. Wir wussten, dass wir das alte Label auflösen würden und etwas komplett Neues machen würden. Wir fanden den Labelnamen Voam, ein tolles Art-Design und – natürlich am allerwichtigsten – eine Vision, wie unsere Musik sein sollte. Deshalb funktionierte es auch so gut. Wir sind nicht einfach nur zwei Freunde, die mal eben im Studio abhingen, sondern zwei Menschen mit einer konkreten Vorstellung, auf die wir hingearbeitet haben, und das hat bei den Aufnahmen viel freigesetzt. Selbst die ganz kleinen und unscheinbaren Dinge wie einfach nur ein Label-Name können viel Kreatives hervorbringen. Für uns zumindest hat es das getan.
Pariah: Und wir freuen uns riesig, dass unsere nächste EP schon in den Startlöchern steht.
Blawan: Durch das Album und unsere Stimmung haben wir auch das Vertrauen gefasst, andere Leute für Voam anzufragen. Aktuell Peder Mannerfelt – und wir arbeiten gerade noch an drei weiteren Platten mit anderen Leuten.
Improvisation und der Live-Aspekt sind ja bekanntlich essentiell für euch beide. Wie geht ihr eure Shows an? Beginnt ihr jede Nacht aufs Neue vom Nullpunkt?
Pariah: Ehrlich gesagt, im Moment gerade ein bisschen weniger, da wir eine Drum Machine mit Patterns nutzen und nicht Jamies Modular als Basis. Auf die können wir zurückgreifen.
Blawan: Ein großer Aspekt für uns ist, dass es keine vorgeplante Struktur gibt. Trotzdem ist es nicht mehr so eine Achterbahnfahrt wie zum Beispiel noch vor zwei Jahren.
Pariah: Vor zwei Jahren waren wir definitiv im freien Fall (lacht) !
Blawan: Wir mussten einfach ein paar Dinge an unserem Set-Up ändern und alles kompakter und praktischer machen, brauchten eine andere Sound-Palette. Das fiel uns selbst auf, als wir unsere Aufnahmen anhörten.
„Die ersten Shows mit einem neuen Set-Up sind immer die Besten. Stetig am Rande des Chaos erschaffst du Happy Accidents live auf der Bühne.”
Blawan
Pariah: Das wird aber in einem Jahr bestimmt wieder passieren. Wir werden unsere Aufnahmen durchhören und unseren Maschinenpark fundamental umgestalten. Dieser Prozess ist total wichtig für uns beide! Wenn du alles zu gut kennst, genau weißt, was passieren wird, wird unweigerlich der Punkt kommen, an dem du dich langweilst. Dich von Zeit zu Zeit überraschen zu lassen und mit dem Unbekannten und Unerwarteten klarzukommen, ist doch schön.
Blawan: Die ersten drei oder vier Shows mit einem neuen Set-Up sind immer die Besten. Stetig am Rande des Chaos erschaffst du Happy Accidents live auf der Bühne. Wenn du dagegen mehrere Jahre lang denselben Sequenzer benutzt, kannst du das im Schlaf.
Deswegen auch das Modular-System, Jamie?
Blawan: Ganz genau!
Und Arthur, versucht er dich zu überzeugen, dir auch eins anzuschaffen?
Pariah: Nun… (beide lachen) Nein, alles gut. Aber ich muss zugeben, dass ich persönlich auch immer schnell Resultate brauche oder die Geduld verliere. Es wäre schön, wenn es anders wäre, weil man mit einem Modularsystem so unglaublich viel machen kann. Alleine die Effekte und Filter; verrückt, was da möglich ist. Aber ich werde mir irgendwann wahrscheinlich schon so ein Gerät holen. Obwohl das ja eine gefährliche Sache ist: Sieh dir Jamie an, man kann abhängig werden!
Blawan: Ach, komm schon (lacht) ! Aber es stimmt schon, mit Modularsystemen ist es ein sehr schmaler Grat zwischen Kreativität und Wissenschaft. Achtung, sobald du dir ein Oszilloskop holst, ist es mit dem Musikmachen erstmal vorbei.
Nicht nur die Wahl der Instrumente, auch eure Solo-Projekte unterscheiden sich wie Tag und Nacht. Was schätzt ihr am anderen am meisten?
Pariah: Darauf zu antworten, ist leicht! Jamie ist der Toningenieur. Nicht in einer Million Jahren werde ich seine Skills haben.
Blawan: Hör nicht auf ihn, er stapelt zu tief! Ich selbst kann etwa einfach keine Melodien schreiben – das ist einfach nicht drin. Und Arthur ist so verdammt gut darin.
Drehen wir die Frage mal um: Gibt es zwischen euch auch Momente, die euch am anderen zweifeln lassen?
Blawan: Das passiert viel zu oft, vor allem wenn wir im Studio sind. Vor kurzem jammte ich einfach ein bisschen vor mich hin und dachte mir irgendwann: „Wow, das klingt aufregend!” Und dann seh ich rüber zu Arthur, der laut lacht und mich fragt, was ich denn da eigentlich mache. Also höre ich nochmal genau hin und merke, dass es echt nicht gut klingt.
Pariah: Aber ich habe gar nicht gelacht, weil es schlecht klang, Jamie. Es klang einfach nur sehr nach… Dudelsäcken. Aber auf eine gute Art und Weise!
Blawan: Im Studio passieren solche Sachen immer wieder.
Und auf der Bühne?
Blawan: Wie wir live spielen, muss man sich wie ein Frage- und Antwort-Spiel vorstellen. Wenn in einem Segment zum Beispiel gerade Raum ist und Arthur den mit etwas füllt, das gut funktioniert, versuche ich automatisch, ein bisschen zurückzufahren. Ich nehme meine Spur raus oder ein paar Noten, damit er mehr Spielraum hat. Es gibt eigentlich immer eine Person, die hier oder da die Führung übernimmt. So geht es ständig hin und her zwischen uns.
Pariah: Das führt dann auch dazu, dass wir beim Anhören unserer Aufnahmen immer wieder das Gefühl haben, dass alles auseinanderfällt, um dann zurück in die Spur zu kommen, weil wir beide gerade an einer neuen Idee dran sind.
Blawan: Aber das dauert mittlerweile nicht mehr so lange. Früher konnten so ein paar Minuten vergehen, in denen wir uns einfach nur dachten: „Was passiert eigentlich gerade?” Es gibt einfach zu viele Variablen. Lass uns sagen, ein Effekt ist auf einem Channel oder Send-Kanal, den wir vergessen haben – das würde alles zerstören. Ein bisschen wie eine Präsentation zu halten, die von einem Fremden vorbereitet wurde. Arthur und ich hätten einen mentalen Breakdown. Ich hätte sogar zu viel Angst, um auf Play zu drücken. Aber jetzt vergehen so höchstens noch ein paar Sekunden. Es dreht sich alles um Synergie und gemeinsame Spielerfahrung.
Pariah: Trotzdem sind wir nicht perfekt – und werden wir auch nie sein! Sagen wir mal, du hörst dir eine komplett durchgeprobte Live-Show an, eine klassische Band beispielsweise, die bloß einen Track nach dem anderen spielt. Diese Dichte ist für uns unmöglich zu erreichen.
Blawan: Aber das ist ja das Gegenteil von unserer Absicht. Genau das wissen und schätzen die Zuhörer*innen ja auch an unseren Auftritten, dass wir einfach aufeinander treffen und nicht viel vorgeplant ist – es ist halt ein Jam. Die Leute spüren unweigerlich, dass da etwas Freshes passiert, und das kreiert diese verrückte Energie im Raum. Das steigerte sich sogar noch, als wir vor ein paar Wochen in London mitten in der Crowd spielten. Was da abging, war nicht von dieser Welt. Die Leute konnten ganz genau sehen, wie wir an den Reglern und Knöpfen rumwerkelten. Auf einer Bühne, wo die nächste Person gut 20 Meter entfernt ist, fühlst du dich immer wieder abgetrennt.
Pariah: Eine*n Tontechniker*in zu haben, wäre genauso unmöglich. Wir müssten trotzdem noch vor Ort sein. Das ist uns wichtig, genauso wie es für jemanden wie Objekt wichtig ist, die Turntables und Konfiguration vor dem Gig zu checken. Vielleicht verpasst du so dein Dinner, aber wir machen das gerne. Schließlich ist es unsere Show und wir lieben es, Arbeit reinzustecken. Du darfst dich nicht öffentlich beschweren, wenn du nicht versuchst hast, das Allernotwendigste zu tun.
Einerseits produziert ihr nervenaufreibenden Techno, andererseits habt ihr einfach Spaß an abgedrehten Sounds. Wie vereint ihr das?
Pariah: Ich glaube, unsere Musik spiegelt unsere Persönlichkeit wider. Ich will echt niemandem zu nahe treten, aber viel Techno frustriert mich heutzutage und löst einfach nichts bei mir aus, klingt einfach nur verdrossen, aggressiv und sehr macho-esque.
Blawan: Genau das war auch ein großer Fokus unseres Albums. Einfach alles, vom Titel über das Cover bis hin zur Musik war ein Fuck You zu all dem, was gerade so abgeht. Manchmal fühlt man sich so eingeschränkt mit diesem aggressiven Techno von heute. Ich will ebenfalls keinem auf die Füße steigen, weil ich überhaupt auch alle Arten an Musik wertschätze. Und wenn deine Musik funktioniert, funktioniert sie halt. Aber wir, die schon seit Jahren in die Szene involviert sind und Woche für Woche performen, wollen einfach zeigen, dass Techno so viel mehr sein kann. Der kann hart, heftig und schnell sein, sicher, muss aber nicht so bedrückend sein! Techno kann alles sein, was du willst. Wir können eine Kickdrum und Stimmen übereinanderlegen und zwei Minuten später machen wir etwas völlig anderes. Das geht! Es muss kein Konzept geben.
„Techno kann alles sein, was du willst – hart, heftig und schnell, aber nicht so bedrückend! Wäre ich heute 18 und ginge in einen Club, ich würde mich nicht allzu inkludiert fühlen.“
Blawan
Pariah: Und das Komische ist ja, dass wir am Anfang selbst als harter Techno-Act wahrgenommen wurden. Wenn man das jetzt mal mit heutigem Techno vergleicht, scheint das zur Norm geworden zu sein.
Blawan: Wie schon gesagt, ich habe kein Problem mit irgendeiner Art von Musik oder Techno. Aber es gibt so viel mehr in unserem Genre zu entdecken als Wut und Negativität. Wäre ich heute 18 und ginge in einen Club, ich würde mich irgendwie nicht allzu inkludiert fühlen. Weil es nicht mehr so spaßig ist, wenn alles so linear abläuft. Und das klingt jetzt, als würde ich alles schlecht reden, aber das ist nicht der Fall. Mein Kernproblem ist, dass nichts Neues versucht wird, Musik in Schubladen geschoben wird und fertig. Der experimentelle Aspekt ist verloren gegangen, das ist Techno nach Zahlen. Und darum geht es nicht.
Dass euch daran so viel liegt, weil ihr Teil der Szene seid, ist ja verständlich.
Pariah: Es ist eben nicht so, als würde man sich wirklich guten Punk oder Metal anhören, die eine kathartische Erfahrung auslösen. Fast, als ob viel Techno einfach versucht, möglichst aggressiv zu klingen, weil ihm nichts anderes einfällt. Es gibt natürlich auch einiges an großartiger Musik, und dafür sind wir dankbar! Leute, die ihren Ansatz mit einer No-Fucks-Given-Mentalität offen verfolgen. Giant Swan zum Beispiel rütteln alles gerade gehörig durch. Für jede Sache, die wir nicht mögen, gibt es eben auch mindestens eine*n Künstler*in oder ein Album, das wir lieben.
Ihr beide merkt in jedem Interview die Wichtigkeit von The Analogue Cops für euch an, aber hattet nie die Gelegenheit, das zu vertiefen.
Blawan: Schön, dass du die zwei erwähnst.
Pariah: Was The Analogue Cops und die ganze Live-Jam-Sache angeht, sind sie für uns so wichtig, weil ihre Musik Jamie und mich so richtig zusammengebracht haben – gemeinsam rumzuhängen und diese geilen Aufnahmen anzuhören, egal, ob deeper House, komische Noise-Aufnahmen, Experimentelles oder Techno. Die ganze Crew macht verrückte Sachen, und egal welchen Pfad sie einschlagen, ihr Sound hält alles zusammen. Wir haben so viele Ideen durch ihre Platten bekommen.
Jamie, 2011 hast du dann auf Restoration Records und Vae Victis mit ihnen kollaboriert?
Blawan: Ich habe die beiden zuerst 2010 in Venedig kennengelernt. Wir haben zusammen auf einer Afterparty gespielt und mein damaliger Agent, der Vae Victis leitet, hat mir die beiden einfach vorgestellt. Sie haben uns und mir persönlich den Weg bereitet.
Pariah: Erinnerst du dich an unsere EPs auf Work The Long Nights von 2012 und 2014? Die gibt es nur ihretwegen. Jeder Track darauf wurde in einem Take aufgenommen, weil sie uns gezeigt haben, wie das geht.
Blawan: Damals wir einfach zwei Mittzwanziger und trafen diese abgedrehten, punky Italiener, die abgefahrenes Zeug in ihren Schlafzimmern aufnahmen und einfach alles am Mixer zusammenschmissen. Arthur und ich nutzten bis dato Ableton. Es tat so gut, diese andere Seite zu sehen. Am Tag konnte man viele Tracks aufnehmen und das, ohne vor dem Computer zu sitzen und herumzuklicken. Dieser freie Ansatz, Musik zu schreiben, änderte alles für mich. Ohne The Analogue Cops wüsste ich nicht mal, ob ich überhaupt noch Musik machen würde. Sie haben den Spaß zurückgebracht. Man traf sich, aß Pasta und jammte danach. Es war gewissermaßen auch ein soziales Ding. Und am Ende hattest du etwa zehn Tracks. Schön, wenn sie gut waren, wenn nicht, dann war es eben so. Für Arthur und mich sind die Recording Sessions ein bisschen fokussierter, das liegt aber daran, dass wir konkrete Ziele mit unserer Musik haben. Aber The Analogue Cops haben uns schon positiv verdorben! (lacht)