+8138 (Plus 8)
Gibt es hier etwa eine Verwirrung? Schlicht +8138 betitelt, scheint diese Compilation dennoch Katalognummer Plus8136 zu haben. Doch ob nun 138 oder 136 Veröffentlichungen ihren Weg aus Windsor, Kanada, in die Welt gefunden haben, ist Plus 8 eines der prägendsten Labels der Techno-Geschichte. Dass das auch 2019 noch gilt, will Labelchef Richie Hawtin mit diesem persönlichen Mini-Best-Of aus den letzten Jahren beweisen. Er durchforstete dafür seine Playlisten und die besten Demos und bietet eine Bühne für den, naja, Nachwuchs.
Den Auftakt gibt die brasilianische Vorzeige-DJ Anna, die zuletzt sowohl bei Kompakt als auch Drumcode ihren Status als eine der einflussreichsten Künstlerinnen der Szene verfestigte. „High Contrast“ ist sogleich perfekt ausgeführter Maschinen-Techno: Druckvoller Big-Room, feine Filter-Action, harte Claps, brutale Ruhe vor dem Sturm und Distortion-Alarm als Wellenbrecher. Darauf folgen mit Yuada (deren Soundspektrum seit dem Umzug von Japan nach Europa immer neue Züge annimmt), ENTER-Resident Fabio Florido und Toni Alvarez drei zeitgeistige Tracks. Highlight ist derweil Matrixxmans „Full Clip“. Der US-Amerikaner verbeugt sich nicht nur vor Gang Starr und deren Hip-Hop-Überhit, sondern schafft einen genialen Brückenschlag zwischen Detroit und England, zwischen der Vergangenheit und Zukunft des Technos. Er vermengt fast schon spielerisch subtiles Grollen, wuchtigen Bass und eine wahrhaft abgespacte Synth-Drum-Line, die sich in immer neue Höhen verfrachtet, überschlägt und dann im Kopf zündet wie sonst nur drei gestochene Dosen Bier hintereinander. Eine Bombe, die in den Händen der richtigen DJs zum richtigen Zeitpunkt massiven Schaden anrichten kann. So massiv, dass der Rest der Compi fast zum Nebenschauplatz verkommt, selbst wenn mit Onyvaas „Misbhv“ und Orbes „Agdam“ noch zwei klasse Tracks warten. Lars Fleischmann
Adult Swim pres. Hyper Swim & Analogue x Hyperdub pres. Konsolation (Hyperdub)
Cartoons und Comedy für Erwachsene, das ungefähr ist das Prinzip des Fernsehsenders Adult Swim und seit geraumer Zeit gehört auch Musik fest zum Programm der US-amerikanischen Privatanstalt. Angefangen von der (fiktiven) Death-Metal-Band Dethklok über gemeinsame Compilations mit dem Label Ghostly International hin zu einer Sammlung von Noise-Musik in der jüngeren Zeit: Die Werbeaktionen bringen extrem gut ausgewählte, kostenlos zur Verfügung gestellte Musik mit sich. Zweifelsohne ist die ebenso weitreichende wie effiziente PR für Labels und Künstler*innen genauso willkommen wie die schätzungsweise patenten Summen, die der Sender für die gratis bereitgestellten Releases an die Rechteinhaber*innen und Urheber*innen zahlt. Ob sich aber dezidiert kapitalismuskritische Künstler*innen wie Fatima al-Qadiri oder Lee Gamble auf einer von Hyperdub zur Verfügung gestellten Compilation für Adult Swim sonderlich wohl fühlen, ist eine andere Frage. Offiziell zumindest dient Adult Swim pres. Hyper Swim als kleines Präsent zum 15. Geburtstag des stilprägenden und visionären Labels von Kode9, das 19 exklusive Stücke von unter anderem Burial, DJ Haram, Dean Blunt, DJ Spinn, Laurel Halo und anderen bietet.
Das Ganze wäre nur halb so absurd, wenn nicht zeitgleich noch eine Compilation mit exklusiven Tracks von Burial, Ikonika, Lee Gamble, Cooly G und dem Labelchef erscheinen würde, für die sich Hyperdub mit der Firma Analogue zusammengetan hat. Die wird als Sega-Mega-Drive-Kartusche veröffentlicht, nachdem das Unternehmen das gleiche Prinzip mit Ghostly International anscheinend erfolgreich getestet hatte. So müßig und schlicht falsch es ist, den beteiligten Labels und Produzent*innen vorzuwerfen, dass sie ihre Miete zahlen wollen, so surreal wirken doch die Anstrengungen von einem Zeichentrickfernsehsender und eines Videospielherstellers, mit ein bisschen hipper Musik soziales Kapital einheimsen zu wollen. Am Ende eines Jahrzehnts, in dem sich Unternehmen immer weiter in die Subkulturen einkauften, die Infrastrukturen neu unter sich verteilten und bisweilen nur verbrannte Erde hinter sich ließen, wenn sie die Dance-Szene genug ausgebeutet hatten, wirken Adult Swim pres. Hyper Swim und Analogue x Hyperdub pres. Konsolation nebeneinander gehalten wie ein schmerzhaft-höhnischer Schlusspunkt unter einer Dekade, in der Labels und Musiker*innen die tradierten Versorgungsnetzwerke der Musikindustrie endgültig weggebrochen sind und der kapitalistische Realismus der Nullerjahre einem wahnwitzigen Surrealismus wich. Kein anderes Label hat in diesem Jahrzehnt wie Hyperdub die Trends früh erkannt oder sie gleich selbst gesetzt. Eigentlich also sollte es eine dermaßen innovative Institution nicht nötig haben, mit Großkonzernen Werbedeals eingehen zu müssen, um weiterhin wundervoll weirde 12”s pressen zu können. Und doch müssen sie es offenkundig und verübeln kann ihnen das niemand so wirklich. Das hinter all dem stehende Problem nämlich ist ein strukturelles und es muss dringend auf systemischer Ebene angegangen werden. Solange hilft es Label und Musiker*innen aktuell wohl übrigens am meisten, auf ihren Bandcamp-Seiten vorbeizuschauen. Das lohnt sich gerade bei den jüngeren Künstler*innen und unbekannten Gesichtern zwischen all den Schwergewichten auf den beiden Compilations: Mhysa, Nazar, Mana – das sind die Namen, die wir fürs dritte Jahrzehnt dieses Jahrtausends auf dem Zettel behalten müssen. Kristoffer Cornils
Brain Pilot – Cerebral Navigators: Anthology 1993 – 1997 (Kalahari Oyster Cult)
Die beiden Brüder Dimitri und Stefan van Elsen aus Antwerpen sind wohl die spannendste Wiederentdeckung des Jahres 2019. Im Sommer veröffentlichte Young Marco auf Safe Trip deren Trans-4M-Projekt als Reissue. Nun legt der Kalahari-Oyster-Cult-Labelgründer Colin Volvert alias Rey Colino – der mit den letzten 18 Veröffentlichungen ein sicheres Händchen für Künstler*innen bewiesen hat – nochmal ordentlich mit einem Tripple-Album des Brain-Pilot-Projekts der Gebrüder van Elsen nach. Das hört sich nach glitzerndem und sphärisch schwebenden Breakbeat, House, Ambient Techno und New Beat a lá KLF, The Orb oder auch Warp Records an. In den 1990er Jahren hieß diese Art von Musik IDM. Intelligent Dance Music war das Zauberwort der Stunde und besagte schlicht, dass man verschiedene Sequenzer per Midikette auf unterschiedlichen Patternlängen und Takten abspielte. Der Mythos ist, munkelt das Netz, dass die zwei Brüder die Nummern damals in ihrem Bedroom-Producer-Studio produziert hätten. Fängt man an, nach den beiden zu googlen, wird das wunderbar absurd. Die circa zwanzig Jahre alte Webseite von Dimitri begrüßt einen mit den Sätzen: „Welcome to dimitrive.net! Flash 9 plug-in required!” Der Myspace-Account von Brain Pilot ist ebenfalls noch aktiv und auf der Bandcamp-Seite bietet Dimitri sein Ambient-Album Matter gleich noch umsonst an. Das ruft psychedelische Bilder von Hippie-Ravern hervor: Als wären die Brüder Ende der 90er-Jahre mit irgendeinem Techno-Tribe in einem verrosteten und neonfarbig vollgesprühten Unimog in Richtung Indien gefahren und dort hängen geblieben. Sonst: 13 unwirklich gute Tracks, die mit klarem, zerebralen Klicken, analogem Schmatzen und himmlisch flächigen Harmonien einfahren: „Merkst du schon was?” Und: Die Erinnerung, dass damals jeder Chill-Out-Floor ein Jahrzehnt lang genau wie diese Platte klang. Toll, dass die nächste Generation diesen Sound wiederentdeckt. Mirko Hecktor
Burial – Tunes 2011 To 2019 (Hyperdub)
Die 2010er Jahre stehen kurz vor dem Ende. Als Untrue am 5. November 2007 erschien, war das iPhone gerade der heiße Scheiß auf dem Markt, ein fast schon ausgefallenes Gimmick für Tech-Geeks. Jetzt ist es für die meisten gar obligatorisch, um überhaupt durch den Alltag zu navigieren. Elektronische Musik hat wie unsere Wahrnehmung Veränderungen durch- und überlebt; die Bestenlisten füllen alle Publikationen im Netz und am Kiosk. Techno bebt. Dekonstruiert und zerfiltert, sieht sich die Clubkultur einem Meer von Möglichkeiten und Verwirrungen gegenüber. Künstliche Intelligenz steht in den Startlöchern – sie wird die kommende Dekade wie nichts vor ihr verändern. Wie immer ist die Welt eine andere geworden. William Emmanuel Bevan hatte sich zwischenzeitlich so zurückgezogen, wie es als Pate des Future Garage im frühen 21. Jahrhundert nur irgendwie möglich ist. Live-Gigs? Fehlanzeige. Alben? Keines. Interviews? Eines. Nein zwei – fürs FACT Magazine und The Wire, Ende 2012. Ansonsten verzichtete der Südlondoner konsequent auf den Circle Jerk des Musikgeschäfts und veröffentlichte über die letzten zehn Jahre lediglich verstreute EPs und Singles in Mikrodosen. Zuerst kamen ab 2009 drei Collabs mit Four Tet, bevor die Street Halo-EP den Burial-Style als Meditation urbaner Trostlosigkeit konsequent weiterentwickelte.
Er hätte es sich anschließend zwischen Dubstep und UK Bass gemütlich machen können, hätte medienwirksam protzen und wie manche andere ordentlich abkassieren dürfen – doch Bevan schiss auf die Kohle, grübelte stattdessen über seinem singulären Sound, addierte und subtrahierte, multiplizierte jene Einflüsse, derer er in seinen Jahren als Produzent im vom Kapital zerfressenen London habhaft werden konnte. Dann erschien die EP Kindred und veränderte folgerichtig alle Erwartungshaltungen: Von den verregneten Häuserschluchten ging es immer weiter nach oben, bis sie wie pulsierende Adern unter dem kosmischen Gleißen unserer Sonne ermatten mussten. So ließ „Loner“ die Metropolis in drei Antriebsstufen hinter sich, während der endlose Nachthimmel das gesamte Blickfeld einnahm und viel mehr beschwor, als jene oft gepriesene 90er-Euphorie, die Burial laut eigener Aussage stets inspirierte. Das Vinylknistern als Zündung blieb, der Aufbruch in raunende Weiten verhieß nun aber zahllose Variablen neuer Scores von Sehnsucht und Transit, denen futuristische Großstadtromanzen oder das einsame Vorstoßen der Voyager-Sonden gerade Analogie genug waren: There is something out there. Seither gebaren körnige Echos auf Burials Veröffentlichungen ein ums andere Mal traumartige Flächen via zarter Autotunes und festigten sich schließlich als Stilmittel, die von „Ashtray Wasp“ über „Beachfires“ bis „State Forest“ gängige Sound-Ästhetiken von 2-Step, Ambient, House und Field Recordings abstreiften. Die überragenden EPs Truant/Rough Sleeper und Rival Dealer bestanden dazwischen weitgehend nur noch aus auditiven Collagen von mehr als 10 Minuten Dauer, ähnlich der Frequenzsuche an einem aus der Zeit gefallenen Radio. Endlose Reverbs inmitten obskur modulierter Produktionen gerieten zunehmend zur Spezialität Burials. Tunes 2011 To 2019 ist dementsprechend randvoll mit diesem ausufernden Qualitätsstoff, der in Übertracks á la „Night Market“ oder „Claustro“ jedes Zeitgefühl davon bläst und schon mal Tränen in die Augen treibt. Hätte sich Burial seit dem letzten Album einfach gar nicht mehr gemeldet und jetzt diesen über zweieinhalb Stunden virtuos sequenzierten Brocken gedropped – es wäre für viele womöglich das Album der Dekade. So ist es nur die abgefahrenste Kompilation eines Solokünstlers der letzten Jahre. Nils Schlechtriemen
Claro Intelecto – In Vitro Vol. 1 & 2 (Delsin)
Mit In Vitro Vol. 1 & 2 gibt es bei Delsin nun eine Art Rückschau auf das Schaffen von Mark Stewart, der seit weit über 15 Jahren als Claro Intelecto Standards für warme Dub-Techno-Romantik erschafft. Das beginnt mit seinen frühen Releases aus seiner Homebase in Manchester und den dort ansässigen Label-Bastionen Ai Records (inzwischen leider eingestellt) und Modern Love, der Dub-Techno-Institution, bei der er sich über Jahre im Wechsel mit Andy Stott um den Preis für die traditionsbewusstesten und doch immer wieder überraschend innovativen Dub-Techno-Dramen bewarb. Ohne Brüche geht die Zusammenstellung über in seine aktuelleren Veröffentlichungen bei den Amsterdamern von Delsin und mündet in die Stanza-EP von 2014. Nicht immer chronologisch geordnet, scheinen sich die Tracks doch einer gewissen zeitlichen Reihung unterzuordnen, beginnend mit dem elektroiden „Peace of Mind” von Stewarts erster EP für Ai bis hin zu wunderbaren Liebesliedern wie „Still Here“ aus der jüngeren Delsin-Phase. In Vitro mag vielleicht der Produktionsprozess gewesen sein, die Compilation könnte nicht menschlicher klingen. Auch wenn man kein Fan von Rückschauen ist oder schon alle Claro-Intelecto-Platten im Schrank hat: Mark Stewart ist auf jeden Fall einer der Künstler, der so ein Denkmal mehr als verdient hat. Stefan Dietze
Nina Kraviz Presents Masseducation Rewired (Loma Vista)
Für ihr fünftes Studioalbum Masseduction heimste die US-amerikanische Singer/Songwriterin St. Vincent diverse Grammys ein. Nun hat Nina Kraviz befreundete Produzenten beauftragt, das Hitalbum zu remixen. Entstanden sind 22 bunte Tunes, die die Originalsongs in diversen Genres aufgehen lassen. Kraviz selbst steuert drei Remixe bei, von denen ihr „Gabber Me Gently“ am eindrucksvollsten die Vorlage in eine Welt überträgt, in der die Bassdrum gabbert, aber der Track trotzdem irgendwie cool bleibt. Ganz so wie die Neubearbeitungen von Künstlern wie Emika, Jlin, Mala oder Pearson Sound, die alle Klänge, Grooves und Schallräume präsentieren, die sich weit vom Original wegbewegen und von meditativem Dubstep bis hin zu avantgardistischem Footwork eher Stile bedienen, die nicht direkt auf den Tanzflur zielen. Dafür hat Kraviz Produzenten wie ihren isländischen трип-Kollegen Bjarki, Detroit-Legende Terrence Dixon, der hier als Population One in Erscheinung tritt, UK-Produzenten Midland oder ihre russischen Freunde Buttechno und PTU engagiert. Und die brettern ordentlich – mit rasantem Techno und poppigem Tech House. Ein buntes Paket, das Minimal Pop gewieft für die Clubs auf den Kopf stellt. Michael Leuffen
Nothing Matters When You’re Dancing Vol. 10 (CockTail d’Amore)
Seit zehn Jahren veranstalten Giacomo Garavelloni und Giovanni Turco, besser bekannt als DJ-Duo unter dem Namen Discodromo, ihre CockTail-d’Amore-Partys, anfangs in wechselnden Berliner Locations, seit 2014 im Neuköllner Club Griessmühle. Mit ihrem Anspruch, einen „utopischen, sex-positiven Safer Space“ anzubieten, haben sie sich als Heimstatt der LGBTQ-Community etabliert. Die zur Feier des Jubiläums erschienene Compilation kommt in Form von drei Vinyl-EPs daher – jedes repräsentiert einen der drei Dancefloors in der Griessmühle, die Titel sind somit Progamm. Dementsprechend wird der Main Floor von Peaktime-Bangern dominiert, unter denen insbesondere DJ Citys „Torreyson Drive“ hervorsticht. Im Garden kreuzt Tornado Wallace ziemlich gelungen Italo-Flavour mit Acid, während GreenVision noch einen Schlafsack in New York wähnen. Highlight im Grünen: Bon Voyage Organizations balearisches Masterpiece „Presque Cassini“. Bell Towers Synth-Pop-Ode „In The Garden” adressiert den Genius loci sogar ganz explizit. Dank CPI sind Säuresequenzen auch im Cosmic Hole von Bedeutung. Eher den kosmischen Implikationen gehen Kris Baha, Juan Ramos und Bézier nach. Die beiden ersteren mal mehr, mal weniger ausgeprägt in Italo-Western-Space-Cowboy-Attitude, letzterer entwickelt im psychedelischen „Starpoint“ mit melismatischen Figuren einen arabischen Touch. Mit Disco wurden Menschen, die jenseits einer heteronormativen Sexualität stehen, erstmals zu zentralen Akteuren der Musikkultur – CockTail d’Amore halten dieses Erbe nicht einfach nur lebendig, sondern schreiben es in die Gegenwart fort. Harry Schmidt