Produzent*innen pumpen mittlerweile Gratis-Content in den Äther, um ihre Alben zu promoten, für deren Produktion sie doppelt und dreifach draufzahlen und deren Verkäufe für sie bestenfalls ein Nullsummenspiel, eher aber ein Verlustgeschäft darstellen. DJs indessen? Verdienen bestens dran. Kristoffer Cornils sieht in seiner Kolumne konkrit darin den vorläufigen Höhepunkt einer Entwicklung, die besorgniserregende Zukunftsperspektiven aufwirft.
Wir verstehen Musik in erster Linie als etwas Gegenwärtiges, doch sagt sie immer auch die Zukunft voraus. Das zumindest behauptete der französische Ökonom Jacques Attali im Jahr 1977 und sollte Recht behalten. Leider. Denn in seinem Buch Noise. The Political Economy of Music lieferte der spätere Mitterand-Berater eine ernüchternde Analyse der zunehmenden Kommodifizierung von Musik. Die kurze Geschichtsschreibung Attalis lässt sich verknappt ungefähr so zusammenfassen: Fand Musik anfangs noch ausschließlich im Rahmen des Sozialen statt und gewann ihren Wert allein aus dem Miteinander, wurde sie mit dem Aufkommen des Kapitalismus immer mehr in den Bereich des Wirtschaftlichen assimiliert und avancierte zur reinen Ware. Ein Geschäft entsteht, wie es Adorno und Horkheimer zuvor als „Kulturindustrie” bezeichnet hatten. Von einem „Massenbetrug” schreiben sie 1944 in ihrer Dialektik der Aufklärung, der unter der Tarnkappe der Demokratisierung die totale Gleichmacherei anstrebt: „Für alle ist etwas vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und propagiert.”
„DJs bieten im Kontext der Techno-Kulturindustrie Einnahmequellen, wo sich mit Objekten wie Tonträgern kein Geld mehr verdienen lässt.”
Laut Attali geht es dieser Industrie schon Ende der siebziger Jahre immer weniger um den Verkauf eines Objekts – in seiner Zeit der Schallplatte -, sondern vor allem um die Schaffung der Bedingungen, unter denen dieses Objekt gekauft wird: der Lifestyle, der an jedem Stück Musik hängt, wird zur eigentlichen Ware, die in Konkurrenz mit anderer Musik steht. Attali nennt als zeitgenössisches Beispiel die Charts, welchen Songs einen relativen Wert zuschreiben, der nichts mit der eigentlichen Musik zu tun haben. „Diese Industrie ist deshalb wesentlich eine der Manipulation und Promotion”, schreibt er. „Der Hauptaspekt dieser neuen politischen Ökonomie, welche diese Form von Konsum ankündigt, ist die Produktion der Nachfrage, nicht die Produktion des Angebots.” Das heißt, dass sich die Musikindustrie über Publikum einerseits und Musiker*innen andererseits hinwegsetzt. Sie gaukelt den Hörer*innen einen willkürlichen Wert vor und zwingt die eigentlichen Kreativkräfte dazu, nach denen von ihnen vorgegebenen Bedingungen Musik zu machen. Die perfide Logik: Wenn sich Musik in den Charts gut macht, dann hat sie einen Wert. Und alle Musik, die einen Wert haben will, muss sich demnach zum Ziel setzen, in den Charts gut zu performen. Das Resultat? „Massenmusik für einen betäubten Markt”, urteilte Attali analog zu Adorno und Horkheimer.
Doch was hat das bitteschön mit Techno anno 2019 zu tun? Ganz einfach: Attalis Analyse hat vierzig Jahre später immer noch Relevanz. Vielleicht sogar mehr als damals.
Musik machen, damit andere Schnaps verkaufen können
Als der Ostgut Ton-Produzent und Leisure-System-Mitbetreiber Sam Barker beim Musikmagazin FACT einen rein aus Eigenproduktionen bestehenden Mix veröffentlichte und also einen Haufen unveröffentlichter Musik umsonst in den Äther pumpte, um damit sein neues Album zu promoten und sich als Live-Act zu empfehlen, nahm der DJ und Produzent Kyle Geiger das zum Anlass, um auf Twitter über die Verhältnisse nachzudenken. „Ich habe nie geglaubt, dass du produzieren musst, um ein DJ zu sein, oder dass ein*e gute*r Produzent*in zu sein bedeutet, als DJ eine gute Figur abzugeben. Aber die Geschwindigkeit, mit der das Produzieren von Musik eine immer und immer weniger effektive Zeitnutzung für DJs darstellt, ist alarmierend”, schrieb er und endete auf einem Appell: „Unterstützt diejenigen, die eure DJ-Sets befüttern.”
Das ist als Aufruf zur Unterstützung von Produzent*innen wie Barker ebenso löblich wie es der Ausdruck schierer Verzweiflung ist. Denn die von unserer Szene produzierte Nachfrage schert sich nicht um die Produktion eines Angebots im Sinne von neuer, aufregender Musik. Sondern lediglich um die Produktion einer Nachfrage, die überhaupt gar nicht auf die Musik an sich abzielt. Denn konsumiert wird nicht etwa die Kunst, sondern in erster Linie das Event. Oder was es dort eben an der Theke zu haben gibt.
„Die vielbeschworene unsichtbare Hand des Marktes pfeffert derweil den Produzent*innen eine Ohrfeige nach der anderen quer übers Gesicht.”
DJs haben Produzent*innen in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich den Rang abgelaufen, erst in Hinsicht auf die ihnen entgegengebrachte Wertschätzung und nunmehr auch in Hinsicht auf Wertschöpfung. Denn DJs bieten im Kontext der Techno-Kulturindustrie Einnahmequellen dort, wo sich mit Objekten wie Tonträgern kein Geld mehr verdienen lässt. Selbst wenn – oder gerade weil – sie mit einem kostenlosen Mix beworben werden. „Du bist eine Alkohol-Verkaufsmaschine! Deshalb sind die Leute doch da!”, sagte Jayda G erst im März in der Groove. Das ist nicht etwa überspitzte Koketterie, sondern im Kern eine brutale Wahrheit: Im Kontext unserer Szene ist es vor allem der Markt um die eigentliche Musik herum, auf dem die Kohle fließt: die Türen und Theken der Clubs. Die Kohle schwappt nur eben kaum mehr in die Kassen der Produzent*innen zurück.
DJs haben sich so mittlerweile vor Produzent*innen geschoben, sie diktieren in unserer Szene die öffentliche Wahrnehmung und verdienen sich an dem großen Hype um elektronische Tanzmusik jeglicher Couleur, wie wir ihn seit gut einem Jahrzehnt (wieder) erleben, eine goldene Nase. Gagen für renommierte Festival- und Clubbesuche, Einnahmen aus Werbedeals – das alles bleibt Musiker*innen, die nicht parallel noch auflegen oder Live-Sets spielen, weitgehend verwehrt. Was ihnen zuteil wird, sind die Krümelzahlungen des Streaming-Zeitalters.
Eine Ohrfeige von der unsichtbaren Hand des Marktes: Musik als Aktiengesellschaft?
Es druckt also die Geldmaschine nicht für diejenigen, die den Stoff produzieren, der den Durst überhaupt erst in die Höhe pegelt. Während Künstler*innen mittlerweile doppelt und dreifach draufzahlen, damit ihre Tracks für verschiedene Formate und Plattformen bestmöglich klingen, wie es vor nicht allzu langer noch Modeselektor im Groove-Interview vorrechneten, profitieren DJs meist von gratis zugeschickten Promos und streamen Fans vor allem über YouTube und Spotify die Musik der letzten Clubnacht auf dem Arbeitsplatz nach. Beides bringt entweder gar nichts oder sehr wenig für diejenigen, die eigentlich die komplette Szene am Leben erhalten, ihr neue Impulse geben und somit auch indirekt das Geschehen in den Clubs (und, nebenbei gesagt, damit auch an deren Theken) mitbestimmen.
Seinen zynischen Höhepunkt fand das zuletzt in einem Shirt-Design der Band While She Sleeps: „Ein Shirt entspricht 5000 Plays auf Spotify”, stand darauf zu lesen. „76% aller Musik wird gestreamt und nicht physisch oder digital gekauft. Band-Merchandising ist der direkteste Weg, um Künstler*innen zu unterstützen.” Das klingt schon fast nach Almosen, wenn nicht sogar nach einem Ablasshandel, der an den Kontext erinnert, um letztlich zum Kauf eines Objekts zu animieren. Zur Kasse gebeten werden dennoch die Fans, nicht etwa die Strukturen.
„DJs werden derweil für fünfstellige Summen durch die Welt gejettet, um dort die Musik von Menschen abzuspielen, die am Ende des Monats Nudeln mit Ketchup futtern müssen.“
Denn die ermöglichen aktiv diese Prozesse. Oder sind DJs beispielsweise in irgendwelcher Weise verpflichtet, Geld an diejenigen abzugeben, mit deren Musik sie ihre Arbeit bestreiten? Nein. Und die Verwertungsgesellschaften, die eigentlich eine faire Umverteilung besorgen sollten, hinken der Digitalisierung immer noch hinterher. Es scheint nicht einmal so, als wolle irgendjemand beide durch umfassende Regularien in die Verantwortung nehmen. Die vielbeschworene unsichtbare Hand des Marktes pfeffert derweil den Produzent*innen eine Ohrfeige nach der anderen quer übers Gesicht. Da wirkt es umso zynischer, wenn selbst eine Industrieexpertin wie Cherie Hu in einer Ausgabe ihres ansonsten extrem lesenswerten Newsletters Water and Music für mehr Crowdfunding und sogar Equity-Shareholding zwischen Fans und Artists argumentiert. Als wäre es ein probates Heilmittel gegen die Abhängigkeit der Musiker*innen von den Wirrungen der Kulturindustrie, dass sie sich in direkte Abhängigkeit von den Wünschen ihrer eigenen Fanbase begeben. Oder als wäre Musikproduktion nach den Prinzipien einer Aktiengesellschaft nicht vollkommen dystopisch.
Privatjets und Nudeln mit Ketchup
„1) Die Musikindustrie entwickelt sich und hat sich immer weiterentwickelt. 2) Wenn jede Karriereaussicht in der Musikindustrie von heute auf nicht mehr existieren würde, könntest du immer noch 24 Stunden am Tag gute Musik hören. 3) Niemand schuldet dir eine (Musik-)Karriere.” Das schreibt Geiger in seinem Twitter-Thread weiter und hat damit natürlich Recht.
Denn 1) entwickelt sich die Musikindustrie tatsächlich weiter. Nur eben auf Kosten der meisten Musiker*innen, und Besserung ist aktuell nicht in Aussicht. Plattformen wie Spotify oder Apple Music gehen mittlerweile unverblümt gegen Songwriter*innen vor und niemand erhebt ernsthaft Einspruch. DJs – auf ihre Art die menschliche Avantgarde für das Playlist-Prinzip, nach denen Streaming-Plattformen aktuell funktionieren – werden derweil für fünfstellige Summen durch die Welt gejettet, um dort die Musik von Menschen abzuspielen, die am Ende des Monats Nudeln mit Ketchup futtern müssen. Auch dagegen gibt es kaum Proteste.
„Wenn sich Musik in den Clubs gut macht, dann hat sie einen Wert, und alle Musik, die einen Wert haben will, muss sich demnach zum Ziel setzen, sich in den Clubs gut zu machen.”
2) Tatsächlich könnte der Fluss an neuer Musik sogar komplett versiegen und es wäre noch genug gute Musik abrufbar – nur wäre die eben alt. Der Trend geht allerdings sowieso schon Richtung Vergangenheit: Laut dem Halbjahresbericht des Informations- und Medienberichtsunternehmen Nielsen verdienen Major-Labels mittlerweile weit über 60% ihrer Einnahmen über den sogenannten Katalog, den Nielsen von der sogenannten Frontline abgrenzt: Katalog sind Veröffentlichungen, die über anderthalb Jahre alt sind, die Frontline alles darunter. Alte Musik verkauft sich aktuell also im Streaming-Umfeld am meisten. Zwar gilt das sicherlich nicht in einem ähnlichen Verhältnis für die Verkäufe von recht jungen, kleinen Techno-Labels. Doch verdrängt selbst in Underground-Plattenläden die Vergangenheit die Gegenwart, wie Michael Leuffen vor zwei Jahren in der Groove konstatierte. Die Produktion der Nachfrage nach Platten von vor 40 Jahren, sie gelingt seit geraumer Zeit ebenso reibungs- wie rücksichtslos.
Das alles klingt bereits an sich wie eine ungesunde Mischung. Und das ist es auch – vor allem eben für Produzent*innen, die weder mit DJs konkurrieren noch sich den Entwicklungen des kulturindustriellen Plattformkapitalismus entziehen können und daher obendrein noch mit den Tunes von damals im Wettbewerb stehen.
Das Leben ist kein Wunschkonzert. Aber Musik wollen wir trotzdem hören.
Das alles ändert freilich an 3) noch nichts: Niemand steht per se eine Karriere zu, niemand hat ein naturgegebenes Recht darauf, von ein paar Tracks automatisch Miete, Brötchen und Feierabendbierchen bezahlen zu können. Doch werden einerseits von DJs Eigenproduktionen gefordert. Es besteht also allein auf dieser Seite eine – allemal künstliche – Nachfrage nach neuer Musik. Geiger selbst gibt zu, ausgehend von einem Release als DJ gebucht worden zu sein. Was in seinen Worten eher nach einem unerwarteten Glücksfall klingt, das ist für andere harte Realität. „Zu Beginn meiner DJ-Laufbahn wurde ich tatsächlich immer wieder damit konfrontiert”, erklärte Julietta erst kürzlich im Interview zu ihrem Mix für den Groove Resident Podcast, als es um den Profilierungszwang durch eigenständige Releases ging. „Es wurden sogar von einem meiner damaligen Booker – ohne mein Wissen – potenzielle Ghostwriter angefragt, mich zu produzieren.” Sie konnte sich dagegen verwehren. Einer jüngeren Generation ist das nicht mehr so leicht möglich.
Im Gegenzug dazu berichten nämlich auch schon mal junge Produzent*innen beim Interview off the record, dass sie eigentlich keine Lust auf ihre DJ-Karrieren haben – sondern die Zeit lieber im Studio verbringen würden. Diese Zeit nämlich müssen sie sich paradoxerweise kaufen, indem sie anderweitig Geld verdienen. Umso zynischer ist das, weil gleichzeitig von ihnen erwartet wird – von Booker*innen, Promoter*innen sowie der Presse ebenso wie vom Publikum – einigermaßen regelmäßig Releases abzuliefern. Die künstlich produzierte Nachfrage nach neuen Produktionen, sie reißt nicht ab. So entsteht eine bizarre Doppelbewegung, in der DJs einerseits als Produzent*innen in Erscheinung treten müssen und Produzent*innen zum Auflegen genötigt sind, allen also Mehrarbeit aufgehalst wird. Nur deswegen, weil sich nur so mit dem Auflegen oder dem Machen von Musik (mehr) Geld verdienen lässt. Die perfide Logik dahinter: Wenn sich Musik in den Clubs gut macht, dann hat sie einen Wert, und alle Musik, die einen Wert haben will, muss sich demnach zum Ziel setzen, sich in den Clubs gut zu machen. Geile Zukunft, diese Gegenwart!
„Arbeit wird immer weiter entwertet und diejenigen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, bekommen dafür immer weniger.”
Sicherlich: Das Leben ist kein Wunschkonzert. Aber solange wir der Produktion von Nachfrage nachgeben, das heißt neue Sounds und Stile fordern, machen wir eins draus und nehmen damit Musiker*innen in die Bringschuld. Denn Musik wollen wir schließlich hören, und sei es eben nur Massenmusik für den betäubten Markt. Um die Verteilung dahinter interessiert sich dabei kaum jemand. Die Manipulation und Promotion der Industrie hat somit erfolgreich diejenigen aus der Wertschöpfungskette getilgt, die an ihrem Anfang stehen, und sie erfolgreich durch zweitverwertende Kräfte ersetzt: DJs. Sie werden wertgeschätzt, sie können aus dieser Industrie noch Wert schöpfen – für alle anderen wird Musik zunehmend zum Verlustgeschäft.
Wir können nun lamentieren, dass es so weit gekommen ist. Oder sogar, dass es früher besser war. Dass es aktuell beschissen und keine Besserung in Sicht ist. Vor allem aber sollten wir aus der Entwicklung lernen, denn tatsächlich sind diese Prozesse geradezu vorbildlich für gesamtgesellschaftliche: Arbeit wird immer weiter entwertet und diejenigen, die ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen, bekommen dafür immer weniger. Die Zukunft, die sich aus der Techno-Kulturindustrie am Beispiel von Produzent*innen und DJs für quasi alle von uns ablesen lässt, sie ist alles andere als rosig.
Mit seiner zweimonatigen Kolumne konkrit verdichtet Kristoffer Cornils das Hintergrundrauschen und analysiert große mediale Bewegungen und urbane Entwicklungen ebenso wie den Eingriff von Großkonzernen in die Szene.