So eine Kolumne ist ja ein ganz schön persönliches Ding mit permanenten Entscheidungen bezüglich der Relevanz und Auswahl der vorgestellten Künstler*innen und Musiken. Das hat natürlich sehr viel mit individuellem Geschmack und Sympathien zu tun. So ist Leser*innen, Freund*innen und Kolleg*innen schon aufgefallen, dass bestimmte Großkünstler der hier regelmäßig gestreiften Genres wie etwa Richard D. James (Aphex Twin/AFX) für Electronica, Wolfgang Voigt (GAS, Pop Ambient Sampler) oder Tim Hecker für Ambient oder Adam Wiltzie (Stars Of The Lid/A Winged Victory For The Sullen) und Nils Frahm für Postrock und Neo-Klassik, praktisch überhaupt nicht vorkommen, andere wie Gudrun Gut oder Celer dagegen andauernd. Das hat tatsächlich mit Gout und Vorlieben zu tun, aber auch mit der simplen merkantilen Tatsache, dass die Erstgenannten in der elektronischen Aufmerksamkeitsökonomie bereits mehr als durchgesetzt sind, letztere aber – obwohl mindestens ebenso lange im Geschäft- einen weit kleineren Bekanntheitsradius haben. Zudem ist es spannend ihre musikalischen Abschweifungen, das Hakenschlagen auf Ab- und Nebenwegen zu verfolgen, weil sie über die Jahre wach, offen und spielerisch blieben.
Video: Gudrun Gut – Baby, I Can Drive My Car
Das alleroffensichtlich möglichste Beispiel ist natürlich Gudrun Gut. Sie ist in diversesten Band- und Projektkonstellationen seit den späten siebziger Jahren als Produzentin, Musikerin und Sprechsängerin aktiv und hat wohl sämtliche Spielarten elektronischer Musik ausprobiert oder mitdefiniert. Soloarbeiten sind von ihr dagegen eher selten. Umso erfreulicher, dass nicht erst wieder zehn Jahre vergehen mussten, bis ein neues Album erscheint. Moment (Monika Enterprise) ist dieses Album und es bringt ihre Karriere auf den Punkt. Komplett jetztzeitig und doch eine augenzwinkernde Hommage an ihre Anfänge in Synthpop, New Wave und der Westberliner Pop-Avantgarde. Post-Punk-Vergangenheit, Retro-Gegenwart und Techno-Zukunft finden selten mit einem so untrüglichen Gespür für die geheimen Kanäle zwischen Underground und Mainstream zusammen wie hier. Der Brückenschlag kann deutlich bemühter klingen und dennoch gelingen: Indifferent Dance Center taugten in mehrfacher Hinsicht zur Legende. In der tiefsten Provinz von West Sussex, in Chichester an der britischen Kanalküste, hat die Schülerband 1981 eine einzige selbstverlegte Single mit zwei kurzen Stücken herausgebracht, die eine Folie abgab an der sich modische Minimal-Wave- und Indie-Dance Bands wie The xx oder Prinzhorn Dance School noch heute abarbeiten. Die spröden Tracks des viel zu teuer gehandelten Originals sind nun wieder als 7“-Single neu aufgelegt. Flight & Pursuit (Outer Reaches/Ransom Note) kommt zudem mit einem interessanten Remix von Chloé Raunet alias C.A.R., welche die stoische Modernität des Titelstücks behutsam discofiziert ohne seine minimal düstere Strenge zu verdrängen.
Die Tunesierin Deena Abdelwahed hat mit ihrer vielbeachteten EP Klabb im vergangenen Jahre ein unüberhörbares Zeichen gesetzt. War die Verknüpfung aktivistischer Samples, traditioneller arabischer Klänge und hypergegenwärtiger Post-Club Elektronik auf der EP noch ziemlich harsch und derbe, von einer Industrial-haften Aggressivität und Beharrlichkeit so schraubt ihre Debüt-LP Khonnar (Infiné) das Heftigkeits-Level auf der rein musikalischen Ebene zurück. An Dringlichkeit verloren hat ihre Musik dabei keineswegs. Das glattere technoide Sounddesign scheibt Abdelwaheds experimentelle Elektronik in Richtung eines arabisch dekonstruierten, vielfach reflektierten queer-hedonistischen Pop, ganz ähnlich wie es Fatima al-Qadiri auf ihrer Shaneera-EP vergangenes Jahr ziemlich erfolgreich vorgemacht hat.
Video: Anna Lann – Embodiment (Live)
Die in Lettland geborene, lange in Tel Aviv und aktuell in Paris lebende Produzentin und Sängerin Anna Lann ist ähnlich wie ihre tunesische Kollegin Abdelwahed gerade auf dem Sprung von der lokal geliebten aber underground gebliebenen Musikaktivistin zur internationalen Anerkennung. Bei den glamourösen Israel-Berliner Electropoppern Terry Poison war sie eher im Hintergrund aktiv. Auf ihren Soloarbeiten treibt sie den Mode-affinen, hedonistischen wie avantgardistischen Synthpop-Ansatz der Band in eine neue Richtung. Nach einigen selbstvertriebenen EPs ist Embodiment (Ransom Note) ihr internationales Solodebüt. Sie betreibt darauf eine höchst eigenständige Art von Art-Pop, der sich aus den verwehten Erinnerungen an balearische Sundowner, Cosmic und Italo-Disco der Geschmacksrichtung Valerie Dore und einer exaltierten, fast opernhaften Vocal-Performance speist. Die EP kommt mit vier Remixen von denen jeweils zwei die Stücke Richtung Club oder Richtung Ambient schieben. Letzteres ist in der Bearbeitung von Daniel Herrmann alias Flug 8 besonders gelungen. Nicole Carr alias Bloom Offering aus Seattle zieht die Pop-Avantgarde auf die dunkle Seite. Nach einer Menge superlimitierter Tapes ist Episodes (The Helen Scarsdale Agency) ihr erstes „großes“ Album, welches dem Industrial nahen, schmutzig-düsteren Sounddesign ihrer Kassetten treu bleibt. Eiskalter Drone-Techno mit expressiven Vocals im Darkwave-Stil, als adäquater Soundtrack zu Geschichten von sexueller Gewalt, queerer Körperpolitik, Selbstermächtigung, Ängsten und Katharsis.
Um die Jahrtausendwende herum hat der nach Europa expatriierte Japaner Susumu Mukai den damals akuten breakbeat-lastigen Instrumental-Hip-Hop und Electro-Maximalismus auf Labels wie XL, Ed Banger und Kitsuné in experimentellere Gefilde geführt. Nach Jahren diversester Projekte von akademischer Elektroakustik bis Indie-Pop und Disco-House (unter anderem mit Floating Points) hat Mukai sein lange brachliegendes Solo-Alias Zongamin wiederbelebt. Die Mini-LP O! (Multi Culti) greift die querliegende Samplehäufung seiner alten Arbeiten in einem geraden und organischen Umfeld als pastellbunte House-Electronica und rhythmisch verdichtete Space-Disco wieder auf. Gar nicht so weit weg von dem, was etwa RAMZi gerade so macht.
Video: AMP – Drifting
Die mittlerweile zum Duo/Paar von Karine Charff und Richard Walker geschrumpften britischen Shoegaze-Indie-Avantgardisten Amp aus Bristol gehören zu den wenigen Überlebenden der neunziger Jahre, die kontinuierlich großartige Musik produziert haben und dabei immer an genrefremden Sounds und Stilen interessiert waren. So waren lange Jahre Breakbeat-Extremist Matt Elliott (Third Eye Foundation) und der psychedelische Post-Rocker Matt Jones (Movietone) Teil der Band. Ihr grob geschätzt fünfzehntes Album in fünfundzwanzig-plus Jahren vernachlässigt die Kernkompetenzen der Band Innenschau und Experimentierfreude nicht, ist aber doch ihr bislang ruhigstes geworden. Mit den genau richtigen Portionen an Pathos und Melancholie balanciert Entangled Time (Ampbase) mit geschlossenen Augen zwischen harsch übersteuertem Folk-Song und ziellos schwebendem Ambient-Track. Der Sound von Amp war trotz aller Experimentierfreude nie aggressiv oder betont hässlich. So superwunderschön wie auf diesem Mini-Album allerdings doch nicht oft.
Die Kraft eines guten Loops ist niemals zu unterschätzen und vom Genre völlig unabhängig. Der Umgang dem guten Loop ist dagegen spezifisch und individuell. Newcomer Caleb Draves alias Dravier aus Seattle zum Beispiel hat innerhalb der vergangenen zwei Jahre mit fast dreißig Tapes und CDr-Veröffentlichungen einen wiedererkennbaren Sound definiert, der sich zwar eindeutig auf klassischen Tape-Schleifen-Ambient wie William Basinskis Disintegration Loops bezieht, aber in der niedrigst-fidelen Produktion und in seiner großen Liebe zum ungefilterten Schmutzgeräusch doch ganz schon eigenwillig daher kommt. Das Tape Spirit Channels (Not Not Fun) ist in dieser Hinsicht typisch und untypisch zugleich. Es basiert auf grob geschnittenen an den Schnitträndern ausgefransten Exotica-Samples, das Verhältnis von Geräusch zu Harmonie ist allerdings ungewohnt weit auf Seiten des Schönklangs. Dort finden sich auch die drei japanischen Soundkosmonauten von Unknown Me. Mit einem Hintergrund in Hip-Hop und samplebasierter Beatschneiderei sind die minimalistischen Wiederholungen ihrer ultraentspannten Ambientklänge näher an gleißender Electronica ohne IDM und ohne Beats. Astronauts (Not Not Fun) variiert das Thema Raumfahrt in einer perfekt produzierten und äußerst gelungenen Mischung aus konstruktivistischem Retro-Futurismus und milder Nostalgie im Sound. Die Tape-Only Veröffentlichung Above_Below_Between (Brainfeeder) von Lapalux liegt sowohl klanglich wie charakterlich her ziemlich genau zwischen Dravier und Unknown Me. Eine kleine Auszeit des Produzenten von effektgeladenem Instrumental-Hip-Hop und futuristischen Hi-Tech/Gaming Soundscapes.
Stream: Unknown Me – Orbicular Water
Klänge, die Schönheit zulassen und Stille zelebrieren, stehen weit schneller unter dem Generalverdacht des passiven oder sogar aktiv forcierten Eskapismus und der Belanglosigkeit. Fast immer ist das Gegenteil zutreffend. Leidenschaft, Engagement und Widerständigkeit finden sich in den Details von Sound und Struktur und müssen nicht explizit werden um zu wirken. Falls sie es doch tun, wie in Terre Thaemlitz‘ Deproduction oder in Will Longs (Celer) Tape-Ambient-Track Torn To Ribbons manifestieren sie sich als latentes Unbehagen zwischen Klangschönheit und mehr oder minder codiertem Inhalt (von Samples, Artwork, Liner Notes). Torn To Ribbons, dem ein zum hohläugigen Gespenst gewordenes Tape-Loop von „The Star-Spangled Banner“ zugrunde liegt, ist damit anders aber nicht weniger unmissverständlich politisch als etwa Albert Aylers Free Jazz-Hymne „Ghosts“. Die Celer’sche Mikropolitik der Melancholie lässt sich in aller notwendigen Ausführlichkeit im 5-CD Box-Set Memory Repetitions (Smalltown Supersound) nachhören. Drei Stunden aufgehobene Zeit, Tape-Loop Echos und wehmütige Erinnerung.
Der polnische Produzent Tomasz Bednarczyk (New Rome) hat einen ähnlich minimalistischen Zugang zu Sound. Die warmen und überaus subtilen Ambient-Drones von Illustrations For Those Who (Room40) sind wie die Stücke von Celer ungeachtet aller hoch- oder niedrigtechnologischen Prozessierung und ihrer klanglichen Abstraktion immer um einen Kern unzerbrechlicher Schönheit herum konstruiert. Eine Domäne, in der Abul Mogard ähnlich souverän agiert. Seine Lebensgeschichte – serbischer Arbeiter, nach knapp vierzig Jahren als Schweißer in einem Belgrader Stahlwerk in Rente gegangen, bastelt sich autodidaktisch Modularsynthesizer aus Elektroschrott um die Sounds seiner Arbeitswelt wiederzubeleben -, war leider zu schön, um wahr zu sein. Die Klänge, die Mogard seinen Maschinen entlockt sind es aber definitiv nicht. Sein jüngstes Album Above All Dreams (Ecstatic) ist vielleicht sogar sein schönstes überhaupt – was das noch immer ungelöste Geheimnis des Alias sehr egal macht. Der geografisch, in der Produktionsweise und im Soundverständnis sehr nahe liegende Belgrader Produzent Jan Nemeček ist es wohl dennoch nicht. Der Modularsynthesizer Ambient-Drone seines Albums Recurrences (-ous) kommt der melancholisch verrauschten Schönheit von Mogards Klängen allerdings oft ziemlich nahe.
Stream: Jan Nemeček – Organs
Sollte nun der Eindruck entstanden sein, produktionstechnische Finesse und freundliche Melancholie wären die Domäne mittelalter weißer Männer: weit gefehlt! Die superjunge noch-Kompositionsstudentin Cæcilie Overgaard aus Kopenhagen etwa, schafft mit den Werkzeugen der Elektroakustik und Sound-Art superfreundliche und milde melancholische Nordic-Electronica. Auf ihrem Quasi-Debüt There Is A Home (Clang) agiert sie mit den Produktionsmitteln weniger streng als verspielt, die Sounds von Haushaltsgeräten, Trompete und Synthesizern finden aber beständig in ungebrochener Schönheit zueinander. Auch so kann alter Sound neu klingen. Ebenfalls superjung, nordischer Herkunft und überaus diskret der Stille zugeneigt nutzt das Stockholmer Duo Sonja Tofik & Mar-llena zwar andere Produktionsmittel als die vorgenannten, nämlich charismatisch rauschende Analogsynthesizer und anderes Lo-Fi Equipment, ihr Albumdebüt Vilar i dina spår (Moloton) ist dennoch nicht weniger wundervoll. Tief verschneite verlassene urbane Landschaften zwischen den Jahren.
Die Avantgarde schläft nicht. Sie ist nicht mal müde. Zumindest Felix Kubin nicht. Historische Aufnahmen II (Gagarin) versammelt einen weiteren Posten von ihm zusammengestellter meta-, pseudo- und post-dokumentarischer Feldaufnahmen und vermengt sie mit Kubin-üblicher Dada-Experimentalelektronik. Besonders absurd-toll sticht dabei der Mitschnitt einer vorweihnachtlich aus dem Ruder gelaufenen Anti-Schill-Demo in Hamburg, Dezember 2002 heraus. Joe Knight, alleiniges Mastermind der virtuellen amerikanischen Psychedelic-Rock Combo Rangers agiert nicht weniger aufgeweckt. Europe On TV (Not Not Fun) ist eine Neuauflage seiner beiden Debüt-Tapes, die vor knapp zehn Jahren auf einem kurzlebigen Kassetten-Label erschienen waren. Überbordender Collage-Musique-Concrete-Loop-Ambient der zusammengenommen einen äußerst verstrahlten Psych-Prog ergibt. Eine Abzweigung, die Vaporwave seinerzeit dann doch nicht genommen hat. Genuine Weirdness ist einfach zeitlos.
Stream: Andreas Oskar Hirsch – Balfolk
Der Kölner Andreas Oskar Hirsch ist da schon etwa sortierter. Für Early Carbophonics (Makiphon) hat er eigens ein neuartiges akustisches Instrument entwickelt und gesampelt. Das Carbophone ist eine großformatige Resonanzbox mit stimmbaren Gummibändern und Klangstäben aus High-Tech Karbon-Verbund-Material. Das klingt mal nach einem westafrikanischen Mbira in größer und technoid-metallischer, mal nach Xylophon-artiger Holzpercussion zwischen Marimba und Balafon. Auf der Mini-LP klöppelt sich Hirsch locker durch die klanglichen Möglichkeiten seines Instruments. Ähnlich wie bei den Rhythmusminimalisten vom ersten Wiener Gemüseorchester (siehe Motherboard November 2018) erhalten Hirschs mehr oder minder dichte elektroakustische Soundscapes über ihre quasi-westafrikanisch anmutende Klangcharakteristik einen organischen lässigen Groove.
Benjamin Finger, James Plotkin & Mia Zabelka sind alle versierte Improvisator*innen, die aus ganz verschiedenen Zusammenhängen (Soundtrack, Black Metal und Neue Musik) kommend, eine Meisterschaft darin entwickelt haben ihren Instrumenten (Synthesizer, E-Gitarre und Violine) Klänge zu entlocken die sich weit jenseits der angelernten, in der Bedienungsanleitung vorgesehenen Spielweise bewegen. Interessant, dass eine Zusammenarbeit dieser drei nicht in klanglich-strukturellem Extremismus endet sondern im Gegenteil. Das gemeinsame Album Pleasure-Voltage (Karlrecords) mag kopfstarke frei improvisierte experimentelle Elektroakustik sein, fühlt sich aber eher an wie feinziselierter Dark Ambient, also angenehm und detailfreudig. Das analog und digital improvisierende französische Synthesizer-Quartett Foudre! vereint Musiker aus verwandt unterschiedlichen Zusammenhängen, von Postrock, Theatermusik und Soundtrack über Doom-Metal bis IDM-Electronica. Auf ihrem vierten Album KAMI 神 (Gizeh) mäandern sie zwar in eher ambienten Drone-Strömen, steuern ihre Instrumente aber machtvoll und sensibel, immer hart am Emo-Maximum entlang. Ein kraftvoller Sog aus detailreichem Sound, zugleich angriffslustig und melancholisch.
Stream: Foudre! – Fujin
Die Arbeiten zweier neu formierter Duos ziehen ihre Kraft aus ganz ähnlichen Kontrasten von langjähriger Erfahrung, erprobt-experimenteller Arbeitsweise und freiem musikalischen Geist. The Last Days Of Reality (Room40) das Zusammentreffen des französischen Neutöners Lionel Marchetti mit der australischen Noise- und Improv-Bassistin Cat Hope etwa resultierte in zarten Ambient-Soundscapes, die von heftigen atonalen Bleeps zerschnitten werden. The Velocity Of Velocities (Opa Loka) von Antonella EYE Porcelluzzi & Deaf Society verbindet stimmungsvolle dunkle Drones mit gesprochener Lyrik. Eine digital bearbeitete, vielfach gefaltete Sprechstimme, die Texten der spätmittelalterlichen Mystikerin Teresa von Avila und der britischen Avantgarde-Poetin Mina Loy einen neuen Kontext und einen neuen Sinn gibt. Die kalifornische Soundart-Künstlerin Geneva Skeen arbeitet auf A Parallel Array Of Horses (Room40) mit geologischen und stadtsoziologischen Metaphern. Ihre dunklen Drones sind extrem leise und diskret, greifen aber auf schneidende, reißende und eher unbehagliche Sounds zurück. Ein dystopischer Dark Ambient, der die sonnendurchflutete Noir-Düsternis ihrer Stadt Los Angeles perfekt modelliert.
Video: Geneva Skeen – Los Angeles Without Palm Trees
Abschließend noch ein mittelgroßes P.S. zum vorweihnachtlichen Reissue-Special: Absolut essentiell und ein Fest für alle, die daran interessiert sind, wie elektronische Musik überhaupt entstand und wie sich ihre akademisch erforschten und experimentellen Formen mit der Zeit in Pop und Mainstream überliefen und sich festsetzten ist das Werk der französischen Komponistin Éliane Radigue. Die fein kuratierte, massive 14-CD Box Oeuvres Électroniques (INA-GRM) sammelt Radigues pointierteste analog-elektronische Kompositionen und Tape-Manipulationen aus der Zeit zwischen 1971 und 2001. Fast ausschließlich auf einem ARP 2500-Modularsynthesizer eingespielt, waren und sind Radigues filigrane Drones wegbereitende Brücken zwischen akademischer Elektroakustik und Ambient. Insbesondere „L’Île re-sonante“ aus dem Jahr 2000, auf dem Radigue erstmals mit Samples und Digitaltechnik experimentierte, ist ein Ohren, Zeit und Bewusstsein erweiternder Trip der Extraklasse. Direkt daran anschließen könnten die trippigen Soundscapes der US-Amerikanischen Computermusik-Pionierin Laurie Spiegel. Ihre ersten beiden Alben The Expanding Universe von 1980 und Unseen Worlds aus 1991 (beide: Unseen Worlds, VÖ. 18. Januar) sind nicht unähnlich Radigues von fernöstlicher Philosophie und Spiritualität informiert, sowie mit einer Kombination von analog-synthetischen Klangerzeugern und digital-algorithmischen Kompositionswerkzeugen ausgearbeitet. Strukturell sind Spiegels Werke fast ebenso streng wie Radigues, klanglich sind sie allerdings weniger karg und minimalistisch, eher Ambient und Kosmisch. Dank der algorithmisch gefassten Kontrapunkt-Komposition sogar richtiggehend eingängig (im Sinne von „Nils Frahm Neo-Klassik“-eingängig). Fast berühmt wurde Spiegel, als ihr kosmisches Dronestück „Kepler’s Harmony Of The Worlds“ auf der goldenen Schallplatte der Raumsonde Voyager verewigt wurde. Ihr zögerlicher Veröffentlichungsrhythmus (so etwa alle zehn Jahre eine Platte) hat die Aufmerksamkeit dann aber schnell wieder einschlafen lassen. Vielleicht klappt es ja mit diesem üppig ausgestatten Vinyl- und CD-Reissue.
Stream: Laurie Spiegel – Kepler’s Harmony of the Worlds
Das seit knapp zwanzig Jahren bestehende Berlin-Brüsseler Kollektiv Dictaphone suchte in seiner mäandernden Karriere immer wieder neue und unbeschrittene Pfade zwischen Jazz, freier Improvisation, Electronica und Indie-Pop. Ihre ersten drei Alben sowie die formidable Nacht-EP gibt es jetzt wieder als edle Collection (Denovali) im Vinyl- oder CD Box-Format. Von Beginn an erwachsen und ausgereift klingend, haben Dictaphone immer abseits von Tagestrends gegen den Zeitgeist gespielt. Dabei gaben sie sich aber nie absichtlich sperrig, widerspenstig oder unnahbar. Ganz im Gegenteil, es ist gerade ihr verspielt freundlicher Forschergeist, der die Stücke zeitlos macht. Am Sound schrauben, rumfrickeln, kaputtprobieren, Krach machen, für Chris Carter war und ist das mehr als ein Job und mehr als eine Leidenschaft, eine Lebensform. Neben seiner Hauptbeschäftigung als Noise-Wizard bei Throbbing Gristle und Maschinenbändiger bei Chris & Cosey hat er auch immer wieder an eigenen Stücken gearbeitet die etwas außerhalb des Industrial Konzepts von Throbbing Gristle und des avantgardistischen Synthpop Ansatzes von Chris & Cosey spielen. Carters teilweise teuer gehandelten Soloalben Small Moon von 1999, Disobedient von 1998 und Mondo Beat von 1985 gibt es nun als Miscellany (Mute) in einer Box, zusammen mit Archival 1973-1977, unveröffentlichten Tracks, die noch (etwas) konventionellere und Siebzigerjahre-typische Synthesizerexperimente und Dub enthalten. Der Rest spielt sich zwischen atmosphärischem Dark Ambient, IDM-Electronica (Small Moon ist ein gerne übersehener Klassiker des Genres) und Proto-Techno ab. Dazu kommt jede Menge netter Schnickschnack aus den Archiven, etwa die Schaltpläne von Carters selbstgebauten Sound-Gadgets. Dörthe Marth, als Xyramat beim female:pressure-Kollektiv aktiv, kann einen ähnlich gewundenen und interessanten Werdegang vorweisen, von der Kieler Postpunk/Industrial-Kassettenszene der frühen achtziger Jahre zur Radioaktivistin in Hamburg. MAAT war ihr Solo-Alias in den neunziger Jahren. Die beiden MAAT-Alben Sie und Konstruktionen sind nun als The Next (Pacific City Sound Visions) zusammengefasst wieder erhältlich. Die Tracks markieren den Übergang von noch von Industrial beeinflussten Soundcollagen zu einem dezidiert elektronischen, von Techno und Dark Ambient inspirierten Sound. Die Offenheit und Freude an Spiel und Experiment lässt Marths Stücke noch immer und gerade retrospektiv sehr besonders wirken.