Vorschaubild: Presse (Robert Lippok)
Robert Lippok wuchs zusammen mit seinem Bruder Ronald in Ost-Berlin auf und fing bereits in den Teenager-Jahren an, Musik zu machen. Er war nicht nur Teil des experimentellen Undergrounds der DDR, in der man die Kassetten der Eltern überspielte, um sie zu vertreiben, sondern erlebte darüber hinaus drei Jahrzehnte Musikgeschichte im Berlin der Vor- und Nachwendezeit hautnah mit. Kürzlich erschien sein neues Album Applied Autonomy auf Olaf Benders Raster-Label, für das er unter mit einem Software-Synthesizer, mit dem auch Aphex Twin werkelt, und dem von seinem Kollegen Errorsmith entwickelten Synthesizer Razor gearbeitet hat. Dabei ließ Lippok es sich aber auch nicht nehmen, selbst Kickdrums zu kreieren, in dem er sich beispielsweise im Studio auf den Boden fallen ließ, dies mit einem Mikrofon aufnahm und synthetisierte. Selbst im kolumbianischen Regenwald setzte Lippok seine DIY-Fähigkeiten ein. Dort hielten Blätter und Äste für selbstgemachte Kickdrums her. Die Experimentierfreudigkeit des Produzenten, die Projekte wie Ornament & Verbrechen oder auch To Rococo Rot kennzeichnete, manifestiert sich bis heute in seiner Musik. Auf Applied Autonomy fügt sich diese zu vielen minimalistischen, repetitiven und dennoch episch klingenden Momenten zusammen. Wir sprachen mit dem Zeitzeugen über seine Vergangenheit in der Berliner Musikszene und darüber, welche Autonomie er eigentlich bei der Produktion im Sinn hatte.
Du bist im sozialistischen Berlin der siebziger und achtziger Jahre aufgewachsen. Wie gestaltete sich damals das Musikleben und Produzieren bei dir?
Es war natürlich noch viel schlichter als das Underground-Musikleben in der BRD. Wir hatten kaum Equipment, es gab aber einen Tauschzirkel von Instrumenten. Wenn jemand einen Synthesizer hatte, hat er den auch immer verliehen. Man hatte zwar Besitz, aber man hat ihn geteilt. Das gleiche mit Platten – Platten zirkulierten. Wenn jemand die neue Throbbing Gristle hatte, dann bekamen die dreißig Leute gleichzeitig, weil er die nach und nach verlieh. Wir haben sehr einfach angefangen, Musik zu machen – mit einem Mono-Kassettenrekorder. Mit dem internen Mikrofon haben wir die ersten Tracks aufgenommen. Vom Instrumentarium her war es ein Federhall, auf dem wir rumgetrommelt haben. Und ein Casio VL1-Keyboard, das gleiche, das Trio auch hatten.
Aber ihr habt keine Spielerlaubnis in der DDR beantragt?
Nein, als wir 1984 Ornament & Verbrechen gründeten, haben wir beschlossen, keine zu beantragen, weil wir es anmaßend vom Staat fanden, ein Verbot oder eine Erlaubnis auszusprechen. Wir wollten einfach spielen oder nicht – das frei entscheiden. Das hatte natürlich Konsequenzen, insofern wir dann wirklich Underground waren und nur in privaten Räumen spielen durften. In Ateliers von Künstlern beispielsweise und in der Erwartung, dass die Polizei kommt – was oft passierte. Konzerte wurden oft gestoppt, es gab Ausweiskontrollen, Leute wurden mitgenommen. Ich hatte zwischendrin mal Alexanderplatz-Verbot. Die Stasi hat mich auf dem Alex aufgegriffen. Sie kannten natürlich die Szene vom Abhören und ich sah ihnen irgendwie suspekt aus. Es gab so einen kleinen, geheimen Verhörraum gegenüber vom Kaufhof und da wurde ich vier Stunden verhört. Sie haben gesagt, wenn ich hier noch mal auftauche, kriege ich richtig Ärger.
Eure Musik habt ihr dann auf Kassetten aufgenommen?
Ja, wir haben teilweise alte Tapes von unseren Eltern überspielt. Es ging nie darum, damit Geld zu verdienen. Wir haben relativ autark gelebt. Ornament & Verbrechen war illegal und höchst subversiv, aber uns hat der Staat nicht interessiert.
Aber da kommt ja auch schon eine Art künstlerischer Autonomie-Gedanke – à propos Albumtitel – durch. Sich eben nicht von irgendwelchen Institutionen oder Bewertungssystemen beeinflussen zu lassen.
Ja, so war es mit den Hausbesetzern in West-Berlin und in Holland, es gab große autonome Bewegungen innerhalb Europas. Die ganze Industrial-Bewegung hat ja auch versucht, autonom, auch im ökonomischen Sinn, zu agieren. Plattenläden wie Staalplaat in Amsterdam, die Gründung eigener Kassettenlabels, eigene Vertriebswege – Autonomie war schon ein sehr wichtiger Gedanke damals, europaübergreifend. Das wurde vom frühen Techno übernommen. Gedanken wie: Wir haben alles unter Kontrolle, wir haben unsere eigenen Clubs, unsere eigenen Plattenfirmen, wir sind unabhängig. Indie-Labels kamen ja auch erst in den späten siebziger und achtziger Jahren auf. Vorher gab es nur Museen oder andere größere Institutionen, die Platten gepresst haben. Aber sich größtmöglich im Osten vom sozialistischen System abzukoppeln, war eine parallele Entwicklung.
Es hat sich zu der Zeit schon eine “Punk”-Szene entwickelt, die nicht wirklich Punk-Musik machte. Ihr wolltet Musik machen ohne eine Regelung.
Im Gegensatz zum Punk. Beim Punk hieß es, wie mein Bruder so schön sagt: Du brauchst nur drei Akkorde, um Songs zu machen. (lacht) Aber bei Cabaret Voltaire und Throbbing Gristle brauchtest du noch nicht mal drei Akkorde. Du brauchtest ein Stück Metall, ein Mikrofon, und schon konntest du Musik machen. Und das war eigentlich der stärkere Impuls. Wir waren zwar Punk-Fans, aber als dieses frühe, experimentelle Zeug, die frühen Flying Lizard und Cabaret Voltaire, über John Peel aus England herüberschwappten, dachten wir auch: Wenn die das dürfen, machen wir das auch.
Also galten Throbbing Gristle und die anderen als eure Inspirationsquellen?
Ja, das ist interessant. Wir wurden oft mit To Rococo Rot gefragt, ob Krautrock eine Inspiration war. Wir haben das immer verneint. Zurecht auch, weil ich Krautrock nie gehört habe. Vielleicht die früheren Kraftwerk-Sachen, aber es war nie wirklich etwas, was uns so interessiert hat. Dann war aber in Interviews von Human League, Stereolab oder Cabaret Voltaire zu lesen, dass die alle von Krautrock beeinflusst waren. Da waren wir sozusagen durch den Filter dieser Bands unbewusst auch von Krautrock beeinflusst.
Stream: Robert Lippok – All Objects Are Moving
Und wie hast du nach dem Mauerfall die künstlerische Musikszene um dich wahrgenommen?
Die ersten zwei Jahre waren wirklich wie ein Piratenleben. Die Ost-Berliner Polizei – ich habe zu der Zeit in West-Berlin gewohnt – wusste anscheinend noch nicht, wie die Gesetzeslage war und dadurch haben sie nichts verboten. Man durfte praktisch alles machen. Es gab Leute, die sich Panzer von der Armee gekauft haben und dann aus den Rädern eine Triumphbogen gebaut und den auf den Potsdamer Platz gestellt haben. Die Leute von Tacheles haben sich eine alte MiG, also diesen Düsenjäger, gekauft und haben den als Skulptur hingestellt. Das war nicht erlaubt, nicht verboten – es passierte einfach. Das war schon spannend, dann auch reisen zu können und sich mit vielen Leuten auszutauschen und einfach mal in den Buchladen zu gehen und nicht nur das Buch zu kriegen, was geschmuggelt wurde. Da merkte ich schon, wie eingegrenzt doch vieles gewesen war. Toll war auch, dass ich dann Acid und House, dann Techno mitbekommen habe. Dann kam eben die Wende, es gab den Tresor und all die anderen Clubs. Die Wende war eigentlich auch für Techno gemacht worden. Plötzlich gab es diese großen Freiräume, die Clubs, die man haben konnte.
Man konnte sich quasi uneingeschränkt ausleben.
Es war einfach eine wahnsinnig gute Zeit zum Ausgehen, aber auch zum Sachenmachen, weil man plötzlich Läden bekommen hat, um eine Galerie zu machen. Man musste aber nicht dafür bezahlen, es war ökonomisch sehr frei. Das bedeutete auch, dass sie ihre Programme frei gestalten konnten. Wenn du kein Geld generieren musst, musst du auf nichts achten. Bo Kondren von Calyx, mit dem wir damals Musik gemacht haben, kam einmal ganz begeistert zu mir, nachdem er den alten Techno-Club beim Rosenthaler Platz besucht hatte, und meinte: “Robert, da lief den ganzen Tag nur eine Kickdrum. Das war so geil.” Also es gab schon strange und gaga Sachen, die passierten. Das konnte man sich erlauben, weil die Möglichkeiten zum Experimentieren gegeben waren.
Also eine Subkultur des Experimentierens.
Ja, eine Subkultur braucht aber eben auch Räume. Das ist ja gerade hochaktuell mit den Verdrängungen, mit den Mieterhöhungen und Schließungen von Räumen. Damals war es eine sehr andere Zeit, die man mit Heute nicht vergleichen kann und sollte, weil die ökonomischen und politischen Voraussetzungen einfach anders waren. Mit diesem zusammenbrechenden Soufflé des Sozialismus – hätte auch niemand gedacht, dass das so kollabiert. Ich habe auch relativ lange mental an meiner DDR-Bohème gehangen und musste mich davon lösen. Eigentlich richtig verstanden, welche neuen Möglichkeiten es gibt, hab ich erst mit To Roccoco Rot im Jahr 1995. Dann sagten wir bewusst: Wir machen einen Vertrag mit einer Plattenfirma, machen Interviews und Tourneen, das ganze Programm.
War es für dich einfach, das anzunehmen dann? Bei einem Label zu sein, auf Tournee zu gehen, Interviews zu führen? Nicht mehr im Underground zu sein?
Ja, schon. Wir hatten am Anfang großes Glück. Dieses jahrlange Experimentieren mit Leuten, die wir nicht kannten, hat sich dann als glücklich erwiesen. Ich habe für ein Kreidler-Konzert aufgelegt und habe Stefan Schneider kennengelernt, fand sein Bassspiel toll, habe ihn eingeladen und wir haben ein Album aufgenommen. Monate später hatten wir eine Seite in der Spex. Die Resonanz wuchs. Damals wohnte ich in Kreuzberg. In meinem Hinterhof befand sich das Label City Slang. Eines morgens bin ich mit unserer ersten Platte dahin gegangen, sagte: “Hey, hört euch das doch mal an.” Am nächsten Tag haben sie uns angerufen und gesagt, sie wollen uns signen. So kam alles ins Rollen. Wir waren in einer Welle von Post-Techno, akustischen Instrumenten – so um Mouse on Mars – drin. Plötzlich waren wir für viele Leute international interessant. Das konnte man nicht wirklich steuern, es lief vielmehr alles automatisch. Wir hatten mit To Roccoco Rot ja nie geplant, Karriere zu machen.
Interessierst du dich auch für bestimmte musikalische Theorien?
Bei mir sind es eher so inselhafte Ideen, die mich interessieren. Also kein wissenschaftliches Konzept. Ich finde das auch für meine Musik zu starr. Der Begriff “Super Strucutre” kommt eigentlich von Super Studio – eine italienische Architekturgruppe aus den sechziger Jahren. Die parallel zur Archigram (eine avantgardistische Architekturgruppe aus Großbritannien, Anm. d. A.) gearbeitet haben. Die haben eine Stadt entwickelt die nur aus Modulen besteht, die man a) schnell zusammen bauen kann und b) schnell wieder auseinander, die als Stadt also eher eine Struktur über eine Landschaft ist. Ich habe irgendwann angefangen, mich für Archigram zu interessieren. Also sind es eher Ideen aus der Architektur, die ich für die Musikproduktion interessant finde. Außerdem finde ich den Begriff des “rasenden Stillstands” von Paul Virilio (frz. Philosoph, Anm. d. A.) interessant. Etwas zu haben, wie eine Art gefrorene Bewegung ist, finde ich für meine Musik schon inspirierend. Applied Autonomy ist ja eigentlich auch ein Loop, der sich in seiner rhythmischen Struktur wandelt. Der eigentlich immer weiterläuft und ein anderes Energieniveau annimmt und zu dem ich dann Sachen addiere. Die Effekte spielen bei mir auch eine tragende Rolle. Vieles, was man als Melodie identifizieren könnte, entstehen bei mir durch Effekte. In dem beispielsweise ein Hallraum durch ein Face Distortion läuft und dann noch mal zerhackt wird und dann in einer Frequenz verändert wird. Diesen Sachen lasse ich eine Autonomie.
Also bezieht sich der Albumtitel vor allem auf die Klangvielfalt und deren Spiel miteinander?
Das ist ein Begriff aus der Robotik, der sich auf automatisierte Systeme bezieht. Die Frage in der modernen Robotik lautet, wie viel Autonomie man zulässt, wie viel Kontrolle man noch an den Prozessen selbst hat. Es gibt Roboter, die mit Menschen agieren, in Fabriken und Produktionsstraßen zum Beispiel, die anders funktionieren als Roboter, die rein mechanische Abläufe vollziehen. Erstere müssen viel agiler sein und auf Interaktion mit Menschen achten. Dieses Verhältnis von Autonomie und Kontrolle interessiert mich. Ich bin eher jemand, der Sachen auch gerne laufen lässt und ein stückweit Kontrolle abgibt und nicht eingreift, auch wenn es vom Songwriting oder Usability eines Tracks her vielleicht entgegenwirkt. Ich lasse den Prozessen den Lauf und schreite dann punktuell ein.
Stream: Robert Lippok – Applied Autonomy