Illustration: Super Quiet

Sicher, über den Kassettenkult lässt sich streiten. Aktionen wie der in Antwort auf den Record Store Day ins Lebene gerufene Cassette Store Day wirken etwas überzogen, schließlich steht selbst in gut sortierten Plattenläden kaum mehr als kleines Regal mit Tapes. Sicher ist ebenso, dass das Format polarisiert. Entweder wird als pures Nostalgiephänomen verworfen oder aber romantisch verklärt.

So oder so lässt sich nicht leugnen, dass das Interesse am Format zugenommen hat. Einerseits als Quelle bisher unbekannter oder schlicht vergessener Musik wie im Falle der Bureau B-Compilations Sammlung. Elektronische Kassettenmusik Düsseldorf 1982–1989 und Magnetband. Experimenteller Elektronik-Underground DDR 1984–1989 oder als eigenständiges Format, das Freiraum für Experimente lässt und das unweigerlich mit dem Trägermedium einhergehende Rauschen als produktive Ergänzung zum klanglichen Gesamtbild miteinbezieht. Kein Wunder ist es allerdings, dass die meisten der Labels und Artists ihre Magnetbänder überwiegend auf der Indie-Plattform Bandcamp anbieten: Das Tape ist nach wie vor ein DIY-Produkt.

Die Auswahl von zehn unbedingt empfehlenswerten Kassetten von Groove-Onlineredakteur Kristoffer Cornils fällt dementsprechend experimentiertfreudig aus, erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und hat keine bestimmte Reihenfolge.

Mehr Rückblicke findet ihr hier.

10. Chafik Chennouf – Dual Aspect (Opal Tapes)

Wenn es um elektronische Musik im Tapeformat geht, darf Opal Tapes natürlich nicht fehlen. Seit seiner Gründung im Jahr 2012 hat das britische Label seinen Roster ebenso erweitert wie es mittlerweile auch auf Vinyl und CD umgesattelt hat. Dem titelgebenden Kernformat allerdings bleibt der Producer Basic House bei der Kuration seines Imprints treu.

Neben Releases von Hainbach, Domenico Crisci und Vargdöd war es vor allem Chafi Chennoufs Debüt-EP, ddie aus der diesjährigen Auswahl heraus stach. Für Dual Aspect hat der Leyla-Betreiber mit Lucy, Mondkopf und Katsunori Sawa drei ungleiche Remixer eingeladen, die aus seinen abstrakten Klangskizzen zwischen Techno, Industrial und Ambient ihre jeweils eigene Vision herausmeißeln. Ein ebenso kompaktes wie abwechslungsreiches Release, das sich wunderbar in die dunkelbunte Farbpalette bisheriger Opal Tapes-Releases einfügt.

9. 2nd Sun – Blue Twenty Five (Blue Tapes)

Wie Opal Tapes begann Blue Tapes als reines Kassettenoutlet und hat sich zwischenzeitlich zu einem mehrgleisigen Imprint entwickelt. Derweil Opal Tapes allerdings ein musikalisch gesehen relativ stringentes Profil hat, so zelebriert Blue Tapes-Gründer David McNamee die komplette stilistische Offenheit beziehungsweise sucht ganz gezielt nach abwegiger Musik. Katie Gately hat auf Blue Tapes ebenso veröffentlicht wie die Death Metal-Band EyeSea ein Acapella-Album (!) oder der bhutanische Gitarrist Tashi Dorji. Ein dunkelbunter Stilmix, der in verwaschenen Blaufarben präsentiert wird.

Mit 2nd Sun hat in diesem Jahr einer der wenigen Dance Acts bei Blue Tapes angeheuert, seitdem der Screamin’ Rachael-Produzent Pour Le Plaisir 2014 mit einer trockenen Beinahe-Acid-EP auf dem Vinyl-Sublabel X-Ray Records debütierte. Über das Duo 2nd Sun ist recht wenig bekannt und die Musik hält sich ebenso wenig mit viel Schnickschnack auf: Ihr hart jackender Minimalismus bezieht sich gleichermaßen aus frühem House, Minimal Techno und Electro-Traditionen, könnte sich aber genauso gut auf Planet Mu machen. Ein überraschend abwechslungsreiches und dennoch formstreng produziertes Release, das für die Wiedereinführung des Tapedecks in der DJ-Booth plädiert – Ron Hardy hätte hieran zumindest seinen Spaß gehabt.

8. Foundling – Hope Is Red / Jordan (Videogamemusic)

Tape-Fans sind Wiederholungstäter und das gilt auch für Foundling. Der Brite Jonny Fox veröffentlicht als Mitbetreiber des slowakisch-englischen Labels Proto Sites mit schöner Regelmäßigkeit Kassetten, die sich überwiegend experimentellem Post-Minimalismus verschrieben hatten. Nachdem er selbst 2014 für Proto Sites schon mit der exzellenten Wake Up In Bits-EP debütierte und zwischenzeitlich Feldaufnahmen und Ambient-Tracks digital veröffentlichte, ist Hope Is Read / Jordan sein Debütalbum für Videogamemusic, wo zuvor schon Artists wie Umfang, rRoxymore oder Broshuda an der Schnittsteller von Clubmusik und Konzeptkunst überzeugen konnten.

Hope Is Read / Jordan denkt die nervenaufreibende Energie von Industrial-Rhythmen mit einem brüchigen Sounddesign zusammen, das manchmal gar auseinanderzufallen scheint und sich im nächsten Moment zu einem unheimlichen Dröhnen verdichtet. Es gibt viele ruhige Momente auf Fox’ Album zu hören, die meisten aber davon bleiben beunruhigend. Und so divers sich die Mischung aus drückenden Repetitionen und schleichenden Atmosphären auch gibt: Im Großen und Ganzen klingt Hope Is Read / Jordan so stringent wie wenige Alben, die sich dermaßen ambitioniert geben. Schroff und doch gefühlvoll.

7. The Marx Trukker – Peripheral Whiles (Noorden)

Ungleich melancholischer ging es in diesem Jahr im Hause Noorden zu. Neben einer fantastischen EP von Ikpathua mit irrwitzigen Machine Woman-Remixen auf Vinyl bestach das Labelkollektiv gleich zwei Mal im Magnetbandformat. Neben IUNA NIVAs eindrucksvoller Düster-Pop-Lo-Fi-Techno-Melange auf der Primeval Guilt-EP war es vor allem der hyperproduktive The Marx Trukker, der in diesem Jahr besonders punkten konnte. Sein Album Peripheral Whiles setzte auf klickernde, klackernde Electronica-Sounds, die zwischen ambienteren Soundscapes und IDM-inspiriertem Frickelbums oszillierten.

Wie der Titel es schon andeutet, verschmelzen auf Peripheral Whiles Zeit und Raum zu einem ganzen: Dieses Album fließt sacht an der Grenze der Wahrnehmung vorbei, meldet sich hier mit dezenten Rhythmen zu Wort und geht dort in wohligen Soundscapes auf. Eine denkwürdig freundliche Art und Weise, das Mille Plateaux-Erbe weiterzudenken einerseits und ein schönes Update für den Ambient-Techno und -House von Künstlern wie Monolake oder den frühen Dial-Platten andererseits. Genau das Richtige für einen tiefenentstpannten Sonntagmorgen im Bett.

6. Benjamin Brunn – Midnight Fantasies Of A Wantless Peacock (Chrome Plated Diamonds)


In der absoluten Reizüberflutung unserer digitalen Umgebungen finden nicht wenige ihr Heil in der strikten Limitierung. So auch Benjamin Brunn, der in diesem Jahr gleich zwei Alben veröffentlichte, die allein auf einem einzigen Synthesizer eingespielt wurden. Pieces From A Small Corner Of Paradise markierte den Start seines Kassettenlabels Chrome Plated Diamonds und beschränkte sich auf die grelle Klangsprache des Korg Poly-800 mkII, während Midnight Fantasies Of A Wantless Peacock mit dem Clavia Nord Modulars G1 und G2 sowie einigen wenigen Casio-Gastauftritten auskam.

Gar nicht reduziert klingt indes das, was Brunn seiner Hardware da entlockt. Zwischen klickernden und klackernden SND-Referenzen und hymnischen Ambient im Aphex Twin-Gedenkmodus reihen sich wunderbare Derivate von Disco, House und Electro auf der abwechslungsreichen Platte, die ebenso farbenfroh klingt wie ihr Cover aussieht. Die Wahl des Formats passt dazu bestens: Brunns Sound ist nur an manchen Stellen von sich aus Lo-Fi, tatsächlich vertragen sich die besonders sterilen und jazzigen Harmonien der beiden Alben wunderbar mit dem Restrauschen, das so ein Tape mit sich bringt. Bleibt nur zu hoffen, dass der Hamburger 2018 seine diskrete Auseinandersetzung mit dem heimischen Gerätepark fortführt.

5. Don’t DJ – Nagoya (Svbterrean Tapes)

Don’t DJ gehört zu den großen Querdenkern unserer Szene. Umso erfreulicher ist das, weil unkonventionelle und manchmal konzeptschwere Musik dieser Tage warm aufgenommen wird. Nach Releases auf Berceuse Heroique und seinem eigenen Imprint Diskant ließ Florian Meyer in diesem Jahr mehrfach von sich hören. Neben einem wundervollen Split-Mixtape mit dem Briten Hodge für die Berliner Partyreihe Mother’s Finest, drei EP-Veröffentlichungen und einem Beitrag zu einer Mini-Compilation wäre Nagoya beinahe untergangen. Dabei handelt es sich doch wohl um das definitive Einstiegswerk in den mittlerweile beachtlichen Backkatalog des Wahlberliners.

Der Titel von Nagoya spricht bereits den Kontext dieses gut einstündigen Releases deutlich aus: Zu hören ist ein Live-Gig in der japanischen Hafenstadt aus dem Jahr 2016. Mit der größtmöglichen Ruhe lässt Meyer eine Soundsuppe aufsprudeln, die sich langsam und dezent in komplexen Grooves entlädt. Mit Umwege über ein bisschen Quasi-Dub-Techno und japanoisige Intermezzi schlägt Don’t DJ eine Brücke zu dem, was er auf EPs wie Authentic Exotism mit einer Mischung aus Hingabe und kritischer Distanz seit geraumer Zeit mit nicht-westlichen Rhythmen in der erweiterten Clubumgebung anstellt. Und so macht es der Titel dieser fantastischen Kassette uns dann doch allzu leicht: Weder in Nagoya noch anderswo lässt sich diese denkwürdig-merkwürdige Musik so einfach verorten.

4. Underwater Gestures (Infinite Waves)

Das dänische Label Infinite Waves setzt von Anfang auf Dreigleisigkeit und veröffentlicht seine Releases in einem anderen Format: Vinyl, CD oder Tape.Form follows function. Neben zwei Debütreleases der Produzentin Birch – eins auf Tape, eins im LP-Format auf Vinyl – und einem Vinyl-Reissue des 2016 erstmals auf Tape erschienenen Albums Scene, Surfaces and Threshold von Cathaya & Grøn legte das sympathische Imprint mit Underwater Gestures in diesem sein wohl ambitioniertestes Projekt vor. Sechs Artists verteilen sich auf die drei in einer großformatigen Box untergebrachten Magnetbänder, alle nehmen sich mehr oder weniger exakt 20 Minuten Zeit – solange eben, wie eine C40 es erlaubt. Function follows form!

Neben Stammartists wie Assembler, der mit einer kleinen Autotune-Operette den stärksten Beitrag zu Underwater Gestures abliefert, sind auch bisher unbekannte Acts oder der Northern Electronics-Alumnus Michel Isorinne genauso wie der Infinite Waves-Betreiber Grøn auf der umfangreichen Compilation vertreten. Die schafft es im gleichen Zug, den experimentellen und doch ohrenfreundlichen Ansatz des Labels zwischen Clubmusikderivaten und abstrakter Electronica auf den Punkt zu bringen, wie sie sich zugleich als Querschnitt durch die Randbereiche der dänischen Szene anbietet. Zwischen steppendem Midtempo-Techno und dröhnendem Ambient ist hier alles dabei. Nicht nur in seiner Formatklasse eine der besten Compilations des Jahres.

3. Selected Works of EMA Expo (Kotä)

Größer geht es aber immer noch. Nicht nur drei, sondern gleich fünf Tapes umfasst die Compilation Selected Works of EMA Expo, das als erste Katalognummer überhaupt das russische Label Kotä auf die Denkzettel neugieriger Soundnerds zu heben verspricht. Von den dreizehn versammelten Stücken ist das kürzeste zehn Minuten lang, während sich die längsten Beiträge bei einer guten Dreiviertelstunde einpendeln – go big or go home!

Zu hören ist eine nahezu erschlagende Bandbreite an experimenteller und manchmal schlicht abwegiger Musik, die auf dem titelgebenden Festival mitgeschnitten wurde. Zwischen atonaler Streichermusik, Spoken Word-Performances, Techno-gestützten Vocalstücken und harschem Industrial Noise knistert und brutzelt es auf diesen Aufnahmen gehörig. Nicht nur seiner schieren Länge wegen also ist Selected Works of EMA Expo ein schwerer Brocken, beweist aber sich als tiefschürfender Rundumschlag durch die russische Sound-Avantgarde. Unbedingte Empfehlung für alle, die es lieber weird mögen.

2. Johanna Knutsson – Somnis Vius (Klasse Recordings)

Die Schwedin Johanna Knutsson ist vor allem durch ihre spacigen Techno-Produktionen solo oder im Tandem mit Hans Berg bekannt und hat als Teil der Klasse Recordings-Crew um Luca Lonzano und Mr. Ho ihren angestammten zwischen Musik, die von den schrägen House-Experimenten eines DJ Normal 4 hin zum slammendem Techno von FJAAK reicht. Kassetten gehören seit jeher zum Angebot des Berliner Imprints und schon mit der Graffiti Tapes-Serie hatte das Label regelmäßig das bloße Format durch andere Elemente aufgepeppt.

Dass Knutssons Somnis Vius-Mix mit einem Räucherstäbchen geliefert wird, ist also mehr als nur ein Gimmick. Nicht umsonst lässt sich der katalanische Titel mit “lebhafte Träume” übersetzen: Mithilfe einiger Field Recordings mixt Knutsson hier ein perfektes Runterkomm-Ambient-Set zusammen, das nach durchraveten Nächten den aufkommenden Kater abmildert und die geröteten Augen mit Schlafmohn einstreicht. Wie schon ihr Groove-Mix vor etwas mehr als einem Jahr bewegt sich die DJ unbekümmert zwischen verschiedenen Stilen und Stimmungslagen hin und her, lässt aber dabei den angenehm esoterischen Grundton nie außer Acht. Was könnte dazu schon besser passen als ein bisschen Räucherstäbchenaroma?

1. Zozo – Witchez Of Anatolia (The Sameheads C60 Series)

Wesentlich tanzbarer geht es beim Witchez Of Anatolia-Mix der Türkin Zozo zu. Ihr Beitrag zur Mixtape-Serie des Berliner Clubs Sameheads vereint ein an Industrial, New Wave und all things Disco geschultes Ohr mit einem dualistischen Grundkonzept, das die zwei Seiten der Kassette voll ausnutzen. Die A-Seite widmet sich der dunklen Magie, die B-Seite hingegen wendet sich den lichtnahen Künsten zu. Eingerahmt wird diese Opposition von Zozos Auseinandersetzung mit ihrer anatolischen Herkunft, die sich die Schlangengöttin Şahmeran zur Gallionsfigur erhebt.

Angefangen mit viel Zaubertrankgeblubber und Film-Samples steigert sich Zozo im Verlauf der A-Seite langsam von den mystischen Art Pop-Klängen einer Lena Platonos hin zu türkischem Pop aus vergangenen Jahrzehnten, bevor sie auf betörendem Funk endet. Die B-Seite gibt sich dem Konzept entsprechend von Anfang an humoriger und versammelt sogar einige House-Interpretationen aus dem türkischen und arabischen Raum. Im Interview zu ihrem Groove-Mix betonte Zozo dann außerdem, dass die sehr weiblich geprägte Tracklist keineswegs ein Zufall war. Warum auch, wo es doch so wunderbar in dieses buchstäblich bezaubernde Set passt, das aus den physischen Vorgaben der Kassette das nur Bestmögliche schöpft.

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Kristoffer Cornils war zwischen Herbst 2015 und Ende 2018 Online-Redakteur der GROOVE. Er betreut den wöchentlichen GROOVE Podcast sowie den monatlichen GROOVE Resident Podcast und schreibt die Kolumne konkrit.