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April 2023: Die essenziellen Alben (Teil 4)

Tin Man – Arles (Bureau B)

Jetzt also Vincent van Gogh. Für seine Innovationen rund um die Möglichkeiten des Einsatzes der Roland TB-303 hat der Produzent Johannes Auvinen alias Tin Man sich einige Verdienste im Kampf gegen die Versteinerung von Acid erworben. Da war es, könnte man meinen, bloß eine Frage der Zeit, bis er sich der Formel und ihrer Zutaten mehr oder minder gänzlich entledigen würde.

Mit Arles bewegt er sich weit hinaus, behält lediglich seine gern etwas wehmütigen Synthesizermelodien bei, um sie diesmal in den Dienst einer neu heraufbeschworenen kosmischen Musik zu stellen. Das Album lässt Hi-Hats diskret zischen wie in den guten alten Tagen von Kraftwerk, statt obertongärigem Blasenwurf freundlich schwingende Elektronenharmonien. Oder sind es am Ende womöglich Kometenmelodien?

Der Vorwurf der Nostalgie verfängt nicht so recht, ist doch auch das Bemühen um die Wiederbelebung von Acid eines, das sich von der Vergangenheit nicht ganz losgelöst denken lässt. Und in seinem reduzierten Ansatz hat Tin Man einen durchaus eigenen Zugriff auf seine Vorbilder gewählt, selbstverständlich inklusive seiner 303. Bloß: Warum muss das Ganze im Namen des 135. Jubiläums von van Goghs Umzug nach Südfrankreich geschehen? Eine Nummer kleiner ging gerade nicht? Tim Caspar Boehme

Tom Trago – Deco (Rush Hour)

​​Auf geht’s, flo-floo-flow. Gerade auch weil Tom Trago, der seit etwa 20 Jahren rummusizierende und auflegende Niederlande-Star, keinen Bock auf Beats hat und sie bleiben lässt. Gerade weil sich der junge Papa auf seinen ersten selbstgebauten Synthesizer besinnt und zuhause dem Kleinen bestimmt auch schon Soothing Sounds For Baby einflößt, die Wattepads des US-Pioniers Raymond Scott. Untertitel: „Der Freund jedes Neugeborenen”. Alles ändert sich mit einem Kind; alles meint nicht bloß den Alltag, sondern ganz umfassend: die Perspektive auf diesen.

Kind werden, um dem Kind näherzukommen, bleibt da einer von zig Effekten. Eine Kirchenorgel, umspielt von zerdelltem Sound-Gefliege: Stück eins. Die ewigliche Wärme ist hier bereits zu verspüren, sie durchweht „Never Peace A Puzzle”, das auch mit geraden Drums gut kommen würde, und haucht „It Might Be Forever” an, mit seinen sich umeinanderschlingenden Spulen. Es hat in seiner Ausproduziertheit und formalen Sicherheit viel Detroitiges, auch „Central Park” mit seiner puristischen und dynamischen Pendelbewegung. „Inspiriert” wäre das Wort, verspult, verspielt. Christoph Braun

Trolley Route – Vibrant Colors (Semantica)

Dieses Album ist ein mächtiger Block, es besteht aus 15 Stücken, die alle mindestens fünfeinhalb Minuten dauern, was eine Laufzeit von gut neunzig Minuten ergibt. Oscar Mulero, der hinter dem Projekt Trolley Route steckt, führt darauf seinen konsequenten Weg im eng gesteckten Feld des funktionalen Technos US-amerikanischer Prägung fort, und das gelingt ihm auch in dieser epischen Form wieder überaus gut. Was zuallererst natürlich an seinem Ideenreichtum liegt, der die unerlässliche Grundlage ist, um in diesem Kontext noch erwähnenswerte Spuren zu hinterlassen. Diese kreative Gabe beschränkt sich aber nicht nur auf die kompositorische, sondern setzt sich auch auf produktionstechnischer Ebene fort.

Die meisten Tracks auf Muleros mittlerweile drittem Trolley-Route-Album sind vor allem perfekt funktional, einige andere wirken zudem so, als sei ein Entsättigungsfilter auf sie angewendet oder ein Schleier über die Produktion gelegt worden. Alles, was einen Clubtrack ausmacht, beinhalten diese Stücke, auf der Sound- wie auf der Strukturebene, aber obendrauf kommt eine Art Dekonstruktivismusfaktor, der die Stücke über die Normalität und das Erwartbare die entscheidenden Prozentpunkte hinaushebt. Nie so weit, dass sie dem ihnen heimischen Kontext entrissen und, ganz praktisch gedacht, in entsprechenden DJ-Sets nicht mehr funktionieren würden; die Tracks bleiben vertraut, erzeugen aber gleichzeitig immer wieder Überraschungsgefühle. Oscar Mulero beherrscht diese Gratwanderung perfekt, auf Vibrant Colors gibt es keine Filler. Mathias Schaffhäuser

UVCORE – Tales Of The Sun (Evar)

Morgens, halb fünf, Outskirts von Rom. Gabber Eleganza schiebt zum Peak, alle schwitzen. Als „Fiamma”, der Opener vom ersten Album von UVCORE, aus der Anlage scheppert, brüllt die Menge „Forza!” Der Blutdruck erreicht Betriebstemperatur, Handys schimmern über den Köpfen, mindestens zehn Leute shazamen den Track – zu Recht!

UVCORE, irgendwo aus der Nähe von Mailand, inzwischen in London, stopft mit Tales Of The Sun den Trance der Zweitausender in die Evar-Mikrowelle. Auf 900 Watt schmort seine Kindheit zwischen Gabber und Gigi. Die Kick klatscht wie Hakke auf Beton. Die Melodie schmiert besser als Nutella auf dem Butterbrot. Manche schütteln dazu den Kopf, die meisten finden es geil. Again: Zu Recht! Wer bei einer Abrissbirne wie „Meadow Land” nicht den Spaß im Moment sucht, hat die besten Zeiten hinter sich. „Only One Dream” rattert rein, als hätten DJ Heartstring ihre Pülverchen vertauscht. Und: „Cardio Nova” schiebt die Paul-van-Dyk-Vibes auf den Hardcore-Floor. Ach ja: Forza, Forza! Christoph Benkeser

Yaeji – With A Hammer (XL)

Das Debütalbum der Koreanerin Yaeji, die sich mit ihrem poppigen Mix aus Beats und zuckersüßen Vocals einen Namen gemacht hat, zeigt die zierliche Künstlerin bewaffnet einem riesigen Hammer. Doch auch wenn es um unterdrückte Emotionen und deren Ausleben geht, klingt With A Hammer erstaunlich ruhig und gefasst.

Seit ihrem Erscheinen auf der Bildfläche 2017 hat sich Yaeji vor allem musikalisch weiterentwickelt. Von den House-Beats auf ihren ersten EPs hin zum Mixtape What We Drew = 우리가 그려왔던 von 2020, das verschiedene Stile und Tempi umschloss, hat sich viel getan.

With A Hammer fühlt sich wie eine Weiterentwicklung dessen an, zeigt die Künstlerin auf ihre bislang vollkommenste Weise und paart melodische Synth- und Electropop-Stücke mit ihren weiterhin bisweilen stoisch vorgetragenen Lyrics auf Koreanisch und Englisch.

Zwar gibt es auch schnellere, energetische Passagen wie die Lead-Single „For Granted”, die sich nach etwa zwei Minuten in halsbrecherischen Drum’n’Bass verwandelt, oder die Kollabo „Michin” mit dem Producer Enayet, auf der heftige 808-Beats die vom Vocoder verzerrte Yaeji untermalen, die herausfordernd fragt: „How You Like Me now?”. Zum großen Teil aber scheinen Yaejis Wutausbrüche bereits kanalisiert in eine introspektive Kreation. Selbst durchaus gut gelaunte Momente gibt es: „Happy” kombiniert einen Breakbeat mit fröhlichem Acid-Riff und Stimm-Zugabe von Vokalist Marcus Brown zu einer modernen, poppigen R’n’B-Nummer, die vom sich Verlieben handelt.
So ist With A Hammer weniger ein Schlag ins Gesicht denn ein musikalischer Rundumschlag der sich zur veritablen Pop-Künstlerin entwickelnden Yaeji. Leopold Hutter

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