Alle Fotos: Anna Rose
Zuerst erschienen in Groove 160 (Mai/Juni 2016).

Als Steffi das erste Mal Virginia begegnete, war diese noch Tour-Sängerin für Nena. Nach dem ersten gemeinsamen Hit „Yours“ folgten weitere Platten, ehe die beiden Panorama-Bar-Residents für Virginias Debütalbum nun auch zum ersten Mal auf Albumlänge zusammenarbeiteten. Fierce For The Night ist wohl die bisher ungewöhnlichste Veröffentlichung in der zehnjährigen Geschichte vom Berghain-Label Ostgut Ton.

Berlin zeigt sich an diesem Märznachmittag wieder von seiner besten Winterseite. Es regnet, es ist grau, Touristen, schwarz gekleidete Hipster, lauter Transit und fehlendes Sonnenlicht verwandeln die Warschauer Brücke in einen fad schmeckenden Eintopf verwandeln. Ich stehe mit dem PR-Manager von Ostgut Ton an der Fresstheke eines riesigen veganen Supermarkts. Stark tätowierte Foodies, Friedrichshainer Neufamilien und Freelancer tummeln sich hier. Ein krasser Gegensatz zum sogenannten Technostrich ein paar Meter weiter gegenüber an der Revaler Straße, wo kürzlich noch ein Drogendealer tödlich attackiert wurde und das allwochenendliche Chaos sich ästhetisch diametral zum vitalen, hell-fokussierten Innenleben des Vegan Superstore verhält. Aber genau das ist das Berlin von heute. Biedermeier und Kokain, Chia-Samen und Mitsubishis, Yoga, Grünkohltrinkbrei, Exzess und Auf-die-Fresse. Alles keine Widersprüche mehr 2016. Der Kollege sucht akribisch Essen für Steffi und Virginia aus, der Anforderungskatalog ist penibel. Die beiden Musikerinnen und DJs sind nämlich zum vereinbarten Interviewtermin spät dran. Das Fotoshooting hat sich in die Länge gezogen und nun müssen Rote-Beete-Suppe, hefefreies Brot und mit Curry gewürzte Salate die leeren Mägen füllen, bevor wir über das neue Album von Virginia, Fierce For The Night, sprechen können, das in vielerlei Hinsicht etwas Spezielles ist – nicht nur für die Künstlerinnen, sondern auch für das Label Ostgut Ton und das Berghain/Panorama Bar.

Es ist auch unter der Woche viel Betrieb im Berghain. Von außen sieht man das grelle Putzlicht, das durch die nikotingetönten Scheiben der Panorama Bar dringt. Passierende Touristen fotografieren das frühere Heizkraftwerk für ihre Instagrams. Wenn schon nicht reingekommen, dann wenigstens so. Die Band der Goth-Folk-Musikerin Anna von Hauswolff macht Soundcheck. Das Treppenhaus, das zu den Label-, Verwaltungs-, und Bookingbüros führt, wird von jenem großen Vagina-Foto von Wolfgang Tillmans geschmückt, das viele Jahre über in der Panorama Bar hing, aber mittlerweile von einem blanken Männerhintern abgelöst wurde. „Hier hast du dich also versteckt“, denke ich. Man begrüßt sich hier mit „Guten Tag“ und nicht mit einem verschämten Wegnicken, das man von irgendwelchen Start-ups kennt. Es strahlt akkurat, unprätentiös, professionell, hemdsärmelig und doch sehr familiär. Das ist also das Rückgrat des legendären Berghain, wo an jedem Wochenende Entgrenzung auf der Dreitagesordnung ganz oben steht. Und da ist schon wieder dieser vorhin erwähnte scheinbare Widerspruch zwischen Hedonismus und Vernunft. Aber es wäre auch naiv zu glauben, dass man solch eine Institution minutiös beackern kann, wenn hier alle mit Currywurst, Pille und Pfeffi in der Hand nur so täten als ob. Berlin hat seinen internationalen Ruf auch durch seinen Anspruch auf Perfektion im Sektor Nachtleben erarbeitet. Das hier ist nicht nur Blaupause, sondern noch immer Referenz.

Als Steffi und Virginia endlich auftauchen, rauscht es in der Etage kurz auf. Herzliche Begrüßungen, kurze Smalltalks – als Steffi in den Konferenzraum kommt, dessen Innendeko-Highlight eine halbmeterhohe Lebkuchenhaus-Version des Berghain ist, lacht sie charmant und muss zugleich die Augen verdrehen: „Männer…“, schnauft sie, „setzen die ein Fotoshooting für drei Stunden an. Das klappt bei Typen vielleicht, die sich für ein Shooting nur die Zähne putzen. Aber mit Styling und Make-up ist das doch unrealistisch.“ Virginia setzt sich hinzu. Beide sind dennoch bestens gelaunt und freuen sich wie ein Schnitzel auf die Veröffentlichung von Fierce For The Night, das als Zusammenarbeit von Virginia, Steffi, Dexter und Martyn entstanden ist. Fierce For The Night ist in der über zehnjährigen Existenz des Labels Ostgut Ton das wohl poppigste und untechnoideste Album, das je erschienen ist. Stilistisch knüpft es eher an die acht Jahre alten House-Produktionen von Prosumer und Murat Tepeli auf dem Label an. Ein Album, das sich wie kein anderes zuvor von der rauen, bombastischen Technoarchitektur des Berghain emanzipiert und auch bewusst den Schritt vom klassischen Ravefloor weg bewegt, das die seelenvolle Stimme von Virginia dominieren lässt und Zielgruppen erschließen könnte, die beim Namen Ostgut oder Berghain eher an vergessene Käsemarken aus der DDR denken als an eine der weltweit wichtigsten und berüchtigtsten Clubinstitutionen. Musik ist etwas Universelles, das über Szenen hinaus Relevanz hat. Ein Glaube, der nicht nur die Künstlerinnen und Künstler des Projekts antreibt, sondern auch das Label, das sich erstmalig in diesem Kontext um Themen wie klassische Radio-Promo und Bookings in typische Live-Locations und Festivals bemüht. Zonen, an die man sich bis dato nicht herangetraut hatte beziehungsweise nicht heranzutrauen brauchte.

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