Anschließend kommt ein schwarzer Tänzer in weißem Rüschen-Brautkleid leise singend die Bühnentreppe hinab. Halb Gesang, halb Sprechritus beschmiert er sein Gesicht mit leuchtender Neonfarbe, während er tanzend in Ekstase gerät. Die darauf folgende Ambient-Live-Elektronik schlägt wiederum den Bogen zum Konzert und lässt eine verzerrte Sounddusche auf das Publikum hinabprasseln, die in einem psychedelischen Orgelostinato zum Stehen kommt. Stille. Dann Applaus. Im Nebel tauchen fünf Silhouetten auf und verschwinden hinter einer Wand aus Laptops und Effektgeräten. Ein Donnerschlag erklingt, leises Regenprasseln erfüllt das Theater, während sich langsam eine verspielte Synth-Melodie herauskristallisiert. Die Elemente mäandern, fließen ineinander. Ein Jazzsaxofon-Solo erklingt, schlendert vorbei, um mit dem eingespielten Knarzen einer alten Plattennadel wieder zu verschwinden. Man hat das Gefühl, in einen Film einzutauchen. Wenn man die Augen schließt, zeichnet die Musik Bilder auf die Innenseite der Lider.

Konstantin hatte das Konzert im Vorfeld mit einer Autofahrt durch den Wald verglichen, bei der sich nur der Einfall des Schattens mit der vorbeiziehenden Landschaft verändert. Die verträumte Grundstimmung des Giegling-Sounds zieht sich als strukturierendes Element durch, doch die Musik ändert ständig ihren Aggregatzustand. Als nach ungefähr 25 Minuten der erste Drop kommt und endlich ein tanzbarer Beat einsetzt, atmet das gespannte Publikum sichtlich erleichtert auf. Einige johlen wie im Club, wippen im Sitzen mit dem Kopf. Die einzelnen Künstler verschmelzen zu einem komplexen Soundgebilde mit verschiedenen Facetten, die flatterhaft sind wie Schmetterlinge. Sobald man glaubt, einen Track erkannt zu haben, ist er schon wieder verflogen. Vielleicht ist es dieses Flüchtige, Ungreifbare, das den Reiz um Giegling ausmacht. Ihre Musik bleibt zugänglich, ohne je den hauntologischen Schatten zu verlieren, der nostalgisch Erinnerungen heraufbeschwört, die man eher im Vorbeihuschen wahrnimmt, als sie tatsächlich je zu fassen zu kriegen.

Bei der Partynacht im Berghain am Tag darauf kommt dann tatsächlich alles zusammen. Während Vril und Ateq den Berghain-Floor mit hartem Techno beschallen, verlieren sich Edward, Kettenkarussell und Leafar Legov in verspielt-tanzbaren Live-Sets. Mit einem sphärischen, experimentellen DJ-Set liefert DJ Dustin noch einmal einen hochemotionalen Querschnitt durch die ganze musikalische Bandbreite von Giegling und lässt die Tour vor dem inneren Auge vorüberziehen. Über dem Treppenaufgang zum Berghain weht ein silbrig glänzender Kronleuchter aus Alupapier im Windstoß der Lüftungsanlage. Es gibt wohl kaum ein Label, das im Berghain einen all-nighter auf zwei Floors spielen und zu allem Überfluss auch noch den streng konzipierten Raum umgestalten darf. Für Giegling scheinen eben andere Regeln zu gelten.

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