Eine anderer Art die natürliche Künstlichkeit, oder künstliche Naturhaftigkeit, den konstruierten Charakter jeder Art des Wissens und jeder Art von kulturellem oder „natürlichem“ Artefakt auszudrücken, ist der vom Wissenschaftssoziologen Bruno Latour geprägte Begriff des „Faitiche“, eine Überlagerung von Fakt und Fetisch. Jan Jelinek hat den Ausdruck vor einigen Jahren gekapert und betreibt unter dieser Flagge nun ein Label und produziert Musik, die die Fake/Not-Fake-Dialektik elektronischer Musik auf die Spitze treibt. Auf der Single Uguisubari (Faitiche) der Gesellschaft Zur Emanzipation des Samples (ein Pseudonym Jelinks) als authentische – oder echt gefälschte – historische Field Recordings aus dem spätmodernen Pachinko-Japan und auf der Single Winkel Pong (Faitiche) von Ursula Bogner (eine vergessene deutsche Experimentalelektronik Pionierin, oder ein weiteres Jelinek Pseudonym) als angeblich verschollene Archivaufnahmen in der Neubearbeitung von Lucrecia Dalt.


Stream: Ursula Bogner – Atmosphärische Energie (edited by Lucrecia Dalt)

Gudrun Guts Jubiläumsgroßprojekt Monika Werkstatt ist noch keinen verregneten Sommer her (siehe Juli-Motherboard), da erscheint schon ein erster Satz von Versionen, die die abstrakt elektronischen Sounds der Werkstatt-Kollaborationen in eine etwas tanzbarere Umgebung befördert. Die EP Monika Werkstatt Remixe Berlin / Los Angeles (Monika) versammelt eine exquisite Auswahl an Produzent*innen aus den zwei Städten, die gerne als ultimative Gegensätze dargestellt werden, sich hier aber erstaunlich leichtgängig ergänzen, wobei für Berlin die Expats Perera Elsewhere sowie die Darkwavige Borusiade und Charlotte Bendiks vom Cómeme-Label stehen, und für L.A. der sonnige Electro-Funk von Nite Jewel und Outsider-HipHop Head Daedelus.

Die außerordentlichen Fähigkeit zur Vernetzung die Gudrun Gut und ihr Label neben der musikalisch-inhaltlichen Qualität charakterisiert, hat auch die Berlin-Köln Connection von Danielle de Picciotto & Sonae ermöglicht. Sie haben sich in der Werkstatt kennengelernt und ihre generationen- und stilübergreifende Zusammenarbeit in improvisierten Konzerten und dem gemeinsamen Album Leise Fäden weiter vertieft. Die beiden Monika-Künstlerinnen knüpfen flatterige bis dräuende Bläsersamples, Jazz und Noir-Sounds, Spoken Word Fetzen und zart gestrichene oder gezupfte akustische Instrumente in ein fragil nervöses Gewebe aus Klang das düsterer und komplexer wirkt als jeweils ihre Solo- und Werkstattarbeiten. Leicht und doch robust wie die Netzstrümpfe des Covers, ergeben diese Knoten und Ketten einen Sound der unmittelbar wirkmächtig und erhaben daherkommt wie Dark Ambient oder arktische Elektronik, im Detail aber aus weit feinerem Garn gestrickt ist, als intimes Klanggeflecht von überaus delikatem Wesen.


Stream: Danielle de Picciotto & Sonae – Zerbrechlich

Die Dänin Sofie Birch hat bisher vorwiegend Gebrauchsmusik fabriziert, und Soundtracks zu ihren eigenen animierten Kurzfilmen und den Installationen des Kopenhagener Kunstkollektivs KAI OKE gemacht. Kai Okes erster Tonträger wird voraussichtlich 2018 auf dem britischen House-Label Lobster Theremin erscheinen. Solo firmiert sie als Birch. Auf ihrem Debütalbum Doldreams (Infinite Waves) verknüpft sie Feldaufnahmen aus ihrem Elternhaus auf der winzigen Insel Fejø in der Smålandsbucht mit Analogsynthesizerklängen und ihrer stark bearbeiteten Stimme zu nostalgisch vergilbtem Lo-Fi Ambient der allerschönsten Sorte.


Stream: Birch – I Sleep, You Make Coffee

Für den im Nordwesten der USA lebenden und arbeitenden Soundart-Künstler Marcus Fischer ist das analoge Rauschen von alten Musikmedien, Bandmaschinen und Verstärkern zum zentralen Konzept der Musikproduktion geworden. Fischer geht von spärlichen Sounds aus akustischer Gitarre, Glockenspiel oder billigen Keyboards aus und unterzieht diese einer aufwendigen Prozedur der Verschleifung in zahlreichen Speicher-, Abspiel- und Wiederaufnahmezyklen. Der diesem Prozess innewohnende Dynamikverlust, das hinzukommende Leiern und Knistern verweht die ursprünglich vormals einfachen und klaren Lo-Fi Klangelemente zu einer nostalgischen Polaroidwand hinter Sepia gefärbtem Nebelrauschen. Die paradoxe Kunst die Fischer auf seinem vierten Soloalbum Loss (12k) weiter perfektioniert hat, ist dass dieser „Lowest-Fi“ Geister-Ambient in einer fast schon dialektischen Umkehrung überaus edel und teuer im Sinne einer analogen „Vintage“ Perfektion klingt.


Video: Marcus Fischer – Loss

Zum Abschluss noch etwas kalifornisch sonnendurchfluteten Noir. Trans-Millenia Music (RVNG Intl.) versammelt die transzendental entrückten kosmischen Tracks der Frau mit dem perfekten Namen für eine Synthesizervirtuosin: Pauline Anna Strom. Der Reissue-Sampler gibt einigen der faszinierendsten Arbeiten der blinden Komponistin aus den 80er Jahren einen edlen neuen Rahmen. Strom nutzt die noch einfachen Werkzeuge ihrer Zeit zu einer von New Age und krautig kosmischer Space Music beeinflussten Soundarchitektur, die trotz des 80er-Vintage Sounds (Strom verwendet unter anderem einen der ersten digitalen Synthesizer, den Yamaha DX7, ein Gerät das den Electro-Pop seiner Zeit dominiert und grundlegend definiert hat) kein bisschen überholt wirkt. Dieses Album lässt sich problemlos neben das grandiose jüngste Album der gerade zurecht und gerecht gehypten Groove-Hoffnungsträgerin 2017 Kaitlyn Aurelia Smith stellen.


Video: Pauline Anna Strom – Trans-Millenia Music – Energies

1
2
3
Vorheriger ArtikelBicep: Videopremiere von “Glue”
Nächster ArtikelCTM Festival 2018: Erste Programmpunkte angekündigt