(Foto: Privat)
Die Feste sind gefeiert, das Süßgebäck gegessen, die Detonationen verhallt, der Rauch hat sich gelegt. Endlich Zeit für wohltemperierte Entspannung und sorgfältig vorsortierten Wohlklang, wie ihn zahlreiche Endjahres-Labelkompilationen bieten, aber nur wenige so konsequent und persistent wie die „Pop Ambient”-Reihe von Kompakt. In so ziemlich jeder Hinsicht ist bei Pop Ambient 2020 (Kompakt) alles beim Alten geblieben. Im zwanzigsten Jahr, in der zwanzigsten Ausgabe der Kompilation hat noch immer keine Produzentin den Weg in die von Wolfgang Voigt kuratierte Männerriege gefunden (das „featuring” der Sängerin Maria Estrella, die im Track von Morgen Wurde ein meditatives „Breathe in, Breathe out” ins Mikrofon haucht, zählt nicht).
Noch immer orientieren sich sämtliche Stücke am Sounddesign der ersten Ausgabe von 2001, die sich wiederum in der Produktionsweise stark an Voigts GAS-Album Pop aus dem Vorjahr orientierte: extensiv geloopte Samples aus Pop und Klassik, in quasi-endlose erhabene Schwebetracks sublimiert – wie sich in dem wertig aufgemachten limitierten Vinyl-Bundle der beiden Ausgaben nachhören lässt. Noch immer sind vorwiegend Kompakt-Hausproduzenten und wenige handverlesene externe Künstler beteiligt. Es sind gerade diese nicht so eng mit Kompakt assoziierten Musiker, die aktuelle Ambient-Mikrotrends etwa zu schwerem Drone-Noise (Yui Onodera), zu New Age Esoterik (Morgen Wurde) und vor allem zu üppiger Melodik und Soundtrack-Dramatik (Klimek) in die 2020er Ausgabe einbringen. Es ist natürlich gar nichts falsches, schlechtes oder böses an diesem über zwei Dekaden verfeinerten, maskulinen Schöngeisterklang. Nur überraschen kann es mich (leider) schon lange nicht mehr.
Im Gegensatz etwa zu den selbstverlegten Meditation Mixtapes der kalifornischen Harfenistin, R&B-Produzentin und Sängerin Low Leaf. Die knapp zwanzig Minuten ihres zur Jahreswende erschienenen Tracks „Elephant Ear“ (Meditation Mixtapes) ergeben eine organische, multidimensionale Verquickung von kontemplativen Ambient-Sounds, instrumentalem Pop, esoterischem New Age und exotischer Elektroakustik, die von einem Geist des freien, experimentellen Spiels durchdrungen ist. Alexandra Drewchin hat es ebenfalls schon wieder getan. Pop und Ambient in unbekannte Formate zu expandieren ist ihr ehrenvolles Anliegen. Mit Pop Ambient hat das praktisch nichts zu tun. Angel Lust (PAN) ist die Fortführung ihrer Kollaboration mit mit dem Brooklyner Avant-Folk Duo als Eartheater & LEYA. Himmelhochjauchzender Ambient-Pop mit verstimmter Harfe und elektrischer Viola, die ihre Lektionen beim Drone-Minimalismus mikrotonaler Komposition gelernt hat, sowie Drewchins grenzensprengende Vocals, die gemeinsam in etwas genuin Unerhörtes und doch total Mehrheitsfähiges gerinnen.
Video: Eartheater & LEYA – Milky Eye
Nochmal anders verstanden kann die Multiplikation von Pop und Ambient zu Oldschool-Electronica werden, die so neu und frisch daher kommt, als wäre sie gerade eben erst erfunden worden. Zum Beispiel von Agata Melnikova alias Sign Libra aus Lettland. Sea to Sea (RVNG Intl., VÖ 14. Februar) bordet mit seinen Exotica-Percussion und den großen leichten Keyboard-Gefühlen so süßherb über, als wäre es die erste Electronica überhaupt – und der Fairlight Sampler und der Yamaha DX-7 die cutting-edge Technik der Saison. Den Zauber des Anfangs wiedergewonnen und permanent gemacht, Essenz zeitlos moderner (beinahe) instrumentaler Popmusik, wie sie Art of Noise oder das Yellow Magic Orchestra damals dann doch nie gemacht haben.
Video: Sign Libra – Sea of Islands
Der Brite Franz Kirmann zeigt auf der Yoff EP (Bytes) schon wieder wie Electronica mit halbgeraden Beats klingen kann, wenn sie sich vor dem Hintergrund einer House/Techno-Erfahrung abspielt. Die brillant produzierte und viel zu kurze EP zeigt zudem, dass Kirmann solo konsistent interessantere Stücke produziert als in Kollaborationen wie Piano Interrupted. Der Italiener Chevel hat mit seinem Net-Label „Enklav.“ eine Plattform, auf der ebenfalls ein Clubmusik-Background in milde experimentelle Electronica übersetzt wird. Seine EP Elvine Unlocked (Enklav., VÖ 14. Februar) bespielt so durchaus modische „Post-Club”-Idiome, ist aber viel zu freundlich, warm und positiv emotional, zu wenig krass im Sounddesign, um sich dieser Szene anzubiedern, letztlich also durch eine höchst erfreuliche Abwesenheit kurzlebiger Hipness ausgezeichnet. Ganz weit vorne, definierend, cutting-edge, neu und modern, aber doch viel weniger trendy als erwartet bespielt die kollaborative Compilation HyperSwim (Hyperdub) von Hyperdub und dem Animationskanal Adult Swim, digitale Kanäle. Statt Trends zu folgen sind hier vielleicht die von morgen früh vorgezeichnet. Die Beats des globalen Südens und der R&B der nichtbinären Identitäten weisen den Weg.
Stream: Laurel Halo – Crush (HyperSwim)
Was macht nur Tapes so attraktiv für Ambient, Electronica und Drone? Die mindere klangliche Reproduktionsqualität, die dem Sound eine organische warme Qualität mitgibt? Die Anfälligkeit für Geschwindigkeitsschwankungen, ergo Leiern, Eiern und Zerren, die für den Eindruck gespielter Authentizität sorgt? Oder vielleicht doch die gnädige wie vergebungsvolle Mittigkeit der vergeblich rauschunterdrückten Kassetten? Klar ist, dass Melanie Velarde keines dieser Stilmittel nötig hätte. Bez (Commend There) wäre auch ohne den spezifischen Bandmaschinen-Touch in der Produktion ein großartiges Lo-Fi-Electronica-Album, das sein Genre ausfüllt, vom Zentrum heraus bespielt und doch so Manches beweglicher und freier gestaltet als üblich. Subtile, wellenförmige Bewegungen aus Meeresrauschen, Sixties-Pop und Exotika in Dub, durch einen lichten Schleier aus pastellenen Sepiaklangfarben gefiltert. Daryl Groetsch aus Portland, Oregon bastelt derlei Mäander-Electronica aus modularen Synthesizern. Als Pulse Emitter bastelt er seit den frühen Nullerjahren in konstant hohem Output-Level feinste Lo-Fi-Elektronik auf Tape oder CDr, mehr oder minder experimentell, umsichtig und vorsichtig mikrotonal leiernde Bereiche auslotend, aber mit einem exzellenten Gespür für Pop-Momente. Dass nun Swirlings (Hausu Mountain, VÖ: 17. Januar) nicht als Tape, sondern auf Vinyl erscheint, ist eine nette, ironische Pointe, macht aber Sinn, denn das Album sammelt all das, was am Pulse Emitter Projekt gut und interessant ist, in konzentrierter Form.
Video: Melanie Velarde – Another Para
Die Electronica des Konstanzer Postrock-Duos Knat ist ebenfalls biegsam. Im Wortsinn, die Sounds auf Zwey (Glyk), ihrem (wer hätte es geahnt) zweiten Album, sind gummibandig ausgeleiert und eiern immer knapp an einer vollständig gesunden Harmonik vorbei. Aber genau das gibt dem Album eine leicht exotische Geschmacksnote. Eine, an die man sich ganz schnell gewöhnt hat und die man dann nicht mehr missen möchte. Das klingt öfter mal wie „Do While“ von Oval, dieses Glitch und IDM als Genre mitdefinierende und gleichzeitig sprengende Endlosschleifen-Bandsalatstück von 1994, wobei Knat an dem zerrenden Schleifenwirrwarr gerne noch kleine, halbgerade Beats entlangknattern lassen. Wie der Zufall es so vorschreibt hat sich Oval Mastermind Markus Popp heuer ebenfalls dem Sound der ersten Hälfte der letzten Dekade des vergangenen Jahrtausends angenommen und malt uns den „Braindance“ und die „Intelligent Dance Music“ nochmal ganz neu in Pastell. Wie von einem Selber-Denker wie Popp nicht anders zu erwarten, tut er das zu seinen sehr eigenen Bedingungen. Das Album Scis und die begleitende EP Eksploio (beide: Thrill Jockey, VÖ: 17. Januar) klingen also kaum nach den nicht so gut gealterten Klassikern von Aphex Twin, Squarepusher oder µ-Ziq, sondern exakt wie die fünfundzwanzig Jahre umfassende Traumvorstellung eines eventuell tanzbaren, organischen Post-Club-Sounds, die sie sind. Aus warm strahlendem Glitch, verstolperten Bollerbeats und weichen Furzbässen wird etwas das selbstredend super klingt und schlau, aber zum Glück nicht allzu, äh, intelligent.
Video: Oval – Eksploio
Geographische oder Szene-Zuordnungen, wie sie gerne von den Algorithmen der einschlägigen Plattformen getroffen werden, sind fast zwangsläufig fragwürdig. Was zum Beispiel auf Masala Kiss (Growing Bin) so tiefenentspannt und tropisch vor sich hin vibet, ist nicht die kalifornische Lässigkeit von Suzanne Kraft und Jonny Nash, sondern die Osnabrück-Köln-Connection Cass. & Gianni Brezzo. Der Elektroniker und der Jazzgitarrist haben sich in ihrer gemeinsamen Arbeit auf einen balearisch-inspirierten Sound geeinigt, der mehrere Dekaden und Kontinente umspannt. Vom frühen Japan-Ambient der Midori Takada, Daniele Baldellis schummrige Cosmic-Disco am Gardasee circa 1983 zu den aktuellen Hängemattensounds des Kaliforniers Scott Gilmore, der Schweden von Tommy Awards oder des Australiers Andrew Wilson alias Andras. Seine jüngste Mini-LP Joyful (Beats In Space, VÖ: 31. Januar) hat ebenfalls einen unmittelbaren Lockerungseffekt auf alle Muskeln, Sehnen und Hirnverkrampfungen. Die Beats sind vorwiegend gerade und im mittleren Geschwindigkeitsbereich, aber unaufdringlich genug, um außerhalb des Clubs nicht als Spielverderber dazustehen. Der Albumtitel führt keineswegs in die Irre. Das ist pure Freude und simple Freundlichkeit, von der Sommersonne zu deepstem House gebacken.
Video: Cass. & Gianni Brezzo – Autoscooter Love
„Cinematisch“ wird die Electronica, wenn sich Künstler*innen durch glückliche Funde von melodramatischen Soundtracks und exotischem Easy Listening aus Flohmarktplattenkisten sampeln (alte Schule), oder sie, was wahrscheinlicher ist, aufwendig am Rechner emulieren (neuere Schule). Oder etwa nicht? Zumindest erlebt das hochglänzend durchgehärtete Streicherstahl des Annunzio Mantovani Orchestra gerade eine ganz unironische Rennaissance. Der Trick ist, den ungebrochenen Klangkitsch mit einer mitternächtlichen bis unheimlichen Nuance zu bebildern, welche explizit macht, was im gesampelten oder zitierten Original nur subkutan brodelt, also den „Blue Velvet“-Effekt herausholen.
Der schlaflose Schotte Aidan Moffat hat sich auf diese Weise seiner „Night Terrors“ angenommen. Und seine Hommage an die dunkleren Seiten der Nacht Aux Pieds de la Nuit (Melodic, VÖ: 14. Februar) als Nyx Nótt, ein neues Solo-Alias, das die Nachtmetaphorik in zwei weiteren Sprachen fortschreibt, lässt bezüglich der Verfremdung des rein Schönen, zu etwas angedeutet Morbidem keinerlei Wünsche offen. Vor allem die extrem verlangsamten Schlagzeug-Samples aus altem Jazz geben den üppigen Streicher- und Bläser-Arrangements, mit denen sie verschleift sind, eine ganz leicht unbehagliche Note, immer knapp diesseits des Kipppunktes an dem das Sinistre der gesampelten Dunkelheit unangenehm oder penetrant werden könnte. Das ist so gekonnt umgesetzt, dass man Moffats Stimme und Songwriting gar nicht vermisst.
Kommt jetzt das große „Trip Hop ohne Gesang“-Revival? Nun, der Münsteraner Thomas Bücker könnte ebenfalls ein Indikator dafür sein, vor allem wenn er sich als Bersarin Quartett vervierfacht. Sein viertes Album Methoden und Maschinen (Denovali), das bewusst mit der bisher praktizierten Album-Nummerierung bricht, führt die Idee des Cinematischen an nochmal andere Orte. Weniger gesampelt als digital gespielt, aber wie bei Moffat entgegen der offensichtlichen, instrumentalen Grandiosität des Sounds in intimere, kleinere, geschlossene und spärlich beleuchtete Räume, in die Nähe des Idealbildes einer schummrigen Post-Absturz-Lounge. Wie der geistesverwandte Radikalmelancholiker Mark Eitzel, der die Dialektik des traurigen Kitsches besser verstanden hat als als alle anderen, einst sang „Outside this bar, there‘s no one alive“.
Stream: Nyx Nótt – Radio Nyx
Von der cinematisch soundtrackhaften Elektronik zur sogenannten Neoklassik ist es im Ambient nur ein Katzensprung. Die größere Herausforderung liegt darin, der selbst 2020 noch sehr limitierten Formsprache der neuen instrumentellen Romantik noch etwas Eigenes oder zumindest Eigenartiges zu entlocken. Und wenn das jemand kann, dann Julianna Barwick, die mit ihrer Mini-LP Circumstance Synthesis (Commend There) sowieso genau im energetischen Zentrum, im Überlappen aller Koordinaten, im Herz aller vorgestellten Sounds dieser Ausgabe des Motherboards liegt. Wo sich Ambient und Pop, Improvisation und Komposition treffen, wo sich Nacht und Tag, Drinnen und Draußen begrüßen, wo die Jahreszeiten konvergieren, wo sich urbanes und bukolisches Naturverständnis „Gute Nacht!“ sagen. Diese, zusammen gerade mal zwanzig Minuten dauernden, zu Umweltsounds improvisierten Stücke aus himmlischer Stimme, Harfen und unaufdringlicher Elektronik kann mehr als so manche Generation von Labelsamplern.
Video: Julianna Barwick – Night
Nu’ aber Butter bei die Fische: Gibt es noch Neoklassik die das Versprechen einer neuen Romantik wirklich einlösen kann, ohne in die Klischees von sonischer „Kino-im-Kopf“-Zuckerwatte oder reichlich sinnentleerter Emo-Geschmacksverstärker-Berieselung zu verfallen? Oder ist diese Wunschvorstellung mit Jóhann Jóhannsson gestorben? Auf jeden Fall ist es ein großes Glück Hildur Guðnadóttir noch zu haben, Jóhannssons langjährige musikalische Partnerin, Cellistin, Elektronikerin und sein charakterlicher Gegenpol. Zwar hat auch sie in den vergangenen Jahren eher funktionale Soundtracks zu Hollywood-Großproduktionen wie „Joker“ oder „Sicario“ geschrieben, daneben aber eben auch so feinnervige, experimentelle Drone-Elektroakustik wie zur Miniserie Chernobyl (Deutsche Grammofon) oder die elektrifizierten Cello-Solos La Bande Son Du Livre D’Harlan Coben Ne T’enfuis Plus (Belfond/Deutsche Grammophon) zur französischsprachigen (!) Buchpräsentation (!!) des US-amerikanischen Krimiautors Harlan Coben.
Gerade der „Chernobyl“-Soundtrack entfaltet jenseits der beklemmend großartigen und unbedingt mehrmals zu schauenden Serie, in der die Tracks, mit Ausnahme des Chorals im finalen Abspann, äußerst dezent eingesetzt werden, eine unheimliche klangliche Präsenz. Die Gegenwart und Zukunft neoklassischen Soundtrackschaffens liegt genau hier. Ein derartiger Funktionshintergrund fehlt dem Tape All the Ghosts are Gone (FALK, VÖ: 8. Januar) der italienischen Berliner Cellistin Martina Bertoni. Sie hat zusammen mit Teho Teardo und dem Modern Institute schon vor über fünfzehn Jahren einen frühen Goldstandard für „cinematische” Neoklassik gesetzt, aber erst vor Kurzem angefangen, solo zu veröffentlichen. Nach zwei selbstverlegten EPs ist ihr Langformat auf dem isländischen Post-Industrial-Label ein deutliches Statement gegen die Hör- und Spielgewohnheiten ihres Instruments und davon abgesehen mindestens so angespannt unbehaglich und doch super zugänglich wie Hildur Guðnadóttirs Soundtrack, mit dem sie einige Charakteristika teilt. Bertonis Faszination für die eher nicht so mehrheitsfähige, morbide Kunst der Taxidermie, gibt ihrer Musik noch einen zusätzlichen Twist ins Abseitige.
Stream: Martina Bertoni – Transparent:closeness
Der pure Instrumentenklang ist für die Cellistin Lori Goldston aus Seattle schon lange keine Referenz mehr. Und doch bleiben ihre Soloimprovisationen und Interpretationen auf Things Opening (Second Editions) weitgehend im Rahmen des natürlichen, organischen Klangs des Instruments, aber eben erweitert um die spielerischen Möglichkeiten des Free Jazz, des Doom/Drone Metals und der elektrifizierten Postrockbands, in denen sie ansonsten spielt. Also nicht nur neoklassische Cellovirtuosität, sondern gleichberechtigt das Ächzen, Knarren und Klopfen des Holzes, das befreite Quietschen mikrotonale Dröhnen der Stahlsaiten. „Things Opening“ ist Goldstons bisher strengste und konsequent freieste Arbeit. Für das Label ist es allerdings fast schon Neoklassik-Pop. In jedem Fall eine erfreuliche Erweiterung des jeweiligen Kanons in alle Richtungen.
Eine gewisse kompositorische Stringenz, aufgelockert durch elektronischen Zufall charakterisiert ähnlich die Kollaboration von Jan Willem Troost & Henry Vega aus den Haag. Ninevolt (Artkesounds) verwebt ein „klassisch“ tonal gespieltes Cello mit feinster Modularelektronik zu einem Album voller eleganter Drones, die von der Minimal Music der Sechziger bis zur heutigen Post-Club-Electronica schon einiges gehört und inkorporiert haben. Die improvisierten elektroakustischen Drones des Estländisch-Norwegischen Duos Katariin Raska & Christian Meaas Svendsen stellen sich ebenfalls bewusst zwischen die Konventionen, die mit den Instrumenten Kontrabass und Hirtenflöte und mit den Konventionen der freien Improvisation und der zeitgenössischen Komposition verbunden sind. So klingt ihr Debüt Finding Ourselves In All Things (Nakama Records) gleichermaßen archaisch und der Moderne entrückt wie zeitgenössisch modern.
Video: Lori Goldston – Sisters
Nun gut, das mit der romantischen „Neoklassik” hat jetzt immer noch nicht so richtig hingehauen unter all der avancierten Drone-Kunst und Elektroakustik-Komposition, die in dieser Kolumne bisher vorkam. Vielleicht liegt es ja am Instrument. Das Klavier ist doch ein sicherer Lieferant für gefühlige Sentimentalitäten, oder? Die FrahmHauschkaOHallorans dieser Welt können nicht irren? Stimmt. Der spätberufene Pariser Komponist Edouard Cheritel zum Beispiel wurde mit dem Synthpop-Duo Employee of the Year bekannt. Unter bürgerlichem Namen stellt er allerdings das Piano klar in den Mittelpunkt. Die Elektronik übernimmt die Rolle der schmückenden Girlanden und das rhythmische Fundament. Die Debüt-EP Suite No. 1 (Denovali) erinnert in vielem an Francesco Tristanos Aufgang-Projekt. Also elektronischer Pop mit Clubmusikerfahrung im Rücken und mit neoklassischen Mitteln traditionell eingespielt. Anders als Tristano ist Cheritel weniger offensiv-virtuoses Wunderkind als verlässlicher Handwerker angenehm eingängiger Popmomente – was in diesem Fall als unbedingtes Kompliment gemeint ist.
Ebenso wie die unaufdringliche Eleganz, die die melancholischen Pianominiaturen von Robert Haigh auszeichnet. Die Klavierwirtschaft ist schon das dritte Leben Haighs, der in den frühen Achtzigern die britische Industrial-Szene aufmischte, später als Omni Trio einer der wichtigsten Drum’n’Bass-Innovatoren wurde. Es ist die archaische Melancholie, die unverhohlen nostalgische Hommage an unwiederbringlich vergangene Musik- und Lebenswelten, die Haighs Black Sarabande (Unseen Worlds, VÖ 24. Januar) zu einem unverhofften Kleinod macht. Die Sarabande, der höfische Tanz des Spanischen Königshauses zu den dunklen Zeiten der Inquisition, stand in der europäischen Komposition schon frühzeitig, mindestens seit Johann Sebastian Bach, für einen Crossover des populär volkstümlichen Tanzes mit der Hochkultur der klassischen Komposition. Immer unter dem Vorzeichen einer dunklen Melancholie, einer Carpe Diem-Haltung, die nichts, definitiv gar nichts mit den YOLO-Ismen unserer Zeit zu tun hat. Und es ist exakt Bachs barocke Haltung zu Leben und Tod, die Schönheit von Kitsch unterscheidet.
Der ostdeutsche Pianist Henning Schmiedt hat sich ja vor Jahren einmal an die Dekonstruktion von Bachs Goldberg-Variationen gewagt, und ist daran grandios kläglich gescheitert. Besser gelingen ihm die musikalischen Bebilderungen der leichten, bukolischen Seiten des Lebens. Klavierraum, später (Flau) direkter Nachfolge seines 2007er Albums Klavierraum, bedient sich konzeptuell ähnlicher Mittel wie Haigh: bewusste Reduktion des kompositorischen Aufwands, keine Tricks, keine Virtuosität, keinen Eindruck schinden. Stattdessen impressionistische, betont einfach gehaltene und hübsche Pianostücke mit gelegentlicher elektronisch-ambienter Flächenbegleitung. Wo Haigh mitternächtliche (Todes-)Tänze zu Kerzenschein illustriert, vertont Schmiedt das Familienfrühstück am Sonntagmorgen im frisch renovierten ehemaligen Bauernhaus im Speckgürtel Berlins. Die offensive Harmlosigkeit dieser Musik ist bei längerer Exposition bei weitem nicht so schlimm, wie sich die Beschreibung anhören mag. Immerhin wird Schmiedt von Ambient-House-Star Terekke geremixt.
Wenn sich allerdings das anonyme französische Techno-Kollektiv Arandel Bachs Goldberg-Variationen annimmt, dann darf die Harmlosigkeit getrost zu Hause bleiben. InBach (Infiné, VÖ 24. Januar) ist ihr elektroakustisch verschärftes Switched on Bach, das grundsätzlich erstmal alles richtig macht. Eben gerade keine orchestral aufgeblasene Verwurstung populär-klassischer Melodien, sondern eine erfreulich experimentelle Neuerfindung des Bach-Spirits zwischen Soundcollage und Drone, Synth-Pop und Sechziger-Chanson.
Stream: Robert Haigh – Ghosts of Blacker Dyke
Und was ist mit Saxofon? Diesem Instrument, das als Anzeiger (und Nervtöter) des Achtziger-Pop wie des klassischen modalen Jazz ebenfalls zwischen Genres und jenseits aller Coolness-Indikatoren spielt. In der Hand von Laura Agnusdei gewinnt es jedenfalls direkt an eigenwilliger Relevanz. Die Saxofonistin der italienischen Psychedelic-Kraut-Popper Julie’s Haircut, die 2019 ihr 25-jähriges Bestehen feiern durften und mit In The Silence Electric (Rocket Recordings) gerade ein erstaunlich frisches dreizehntes Album abgeliefert haben, zieht in ihrem späten Solo-Debüt Laurisilva (The Wormhole) jedenfalls alle Register. Die melodische Ungebundenheit des Free Jazz ist für das Album nicht weniger wichtig als die instrumentellen Konventionen des Postpunk und Funk. So kann im abstrusen Free Noise jederzeit ein hübscher Popsong aufscheinen und wieder verschwinden.
Stream: Laura Agnudsei – Lungs Dance
Das naheliegendste Instrument für epische Ambient-Electronica ist zur Zeit wieder der Synthesizer in seiner traditionellen Form. Also analog, modular, verkabelt, aber vor allem in Form massiver Hardware. Die Brooklyner Nathan Cearley und Erica Bradbury forschen in ihrem Duoprojekt Long Distance Poison seit einigen Jahren nach den unerhörten Enden der analogen Klangsynthese, arbeiten dabei allerdings jederzeit innerhalb oder knapp an den Limits des angenehmen, hin und wieder sogar außerweltlichen Wohlklangs, was ihren ausladenden Tracks eine dezidiert psychedelische Note gibt. Eine höchst ergiebige Arbeitsweise: in den vergangenen zehn Jahren hat das Duo mehr als zwanzig Tapes und einiges an Vinyl auf konstant hohem Niveau veröffentlicht. Ihr jüngstes Tape Technical Mentality (Hausu Mountain, VÖ 31. Januar) macht ebenfalls alles richtig, Zwei epische Modulartrips mit einer Ideendichte, aus der andere ganze Karrieren basteln, und dabei stetig wunderschön. Die beiden jeweils knap zwanzigminütigen Tracks docken an die Chill Out-Electronica der Neunziger an, stehen aber neben konzeptueller Elektroakustik oder strenger Sound Art keineswegs dumm da.
Die verspielte, formatfreie Trip-Elektronik des jungen Berliner Produzenten Shō ist ebenfalls so ein Ding, das völlig organisch und schlüssig zwischen den Welten spielt. Warme Analogsynthesizer-Sounds sind auf Infinity Plus One (Audio.Visuals.Atmosphere VÖ 10. Januar) ebenfalls das Fundament, von dem aus sich die Tracks fortentwickeln, akustische und digitale Sounds aufnehmen, Umgebungsgeräusche reflektieren und ganze epische Geschichten erzählen.
Rafael Toral, der sich in seinem Musikerleben mehrmals neu ge- und erfunden hat, fand im Laufe seiner verwundenen Karriere einen ähnlich einzigartigen Zugang zu Sound Art und Psychedelik. Von postrockigen Gitarrenexperimenten der Neunziger zur strengen Sound Art seiner Space Elements, für die er ein spezielles Instrument (oder besser Interface) in Form von Virtual Reality-Bedienhandschuhen entwickelt hat. Die 72 Minuten andauernde, amelodische aber äußerst harmonische Komposition Constellations in Still Time (Room40) für akustische Instrumente und einen analogen Synthesizer ist im minimalistisch variierten und entspannt mäandernden Pling-Plong das zutraulichste Stück, das der Portugiesen seit Langem veröffentlicht hat. Vielleicht auch, weil es, 1993 geschrieben, einen langen Zeitraum umspannt und genug ruhen und reifen konnte bis zur Veröffentlichung.
Stream: Long Distance Poison – Giving Up On Me
Eine neue Veröffentlichung der Berliner Elektroakustikerin Jana Irmert hat in dieser Kolumne ihren Platz fast schon sicher. Da soll Cusp (Fabrique, VÖ 17. Januar) keine Ausnahme bleiben. Der Grund ist die unverkrampfte Art, in der es Irmert immer wieder schafft, die prinzipiellen Grenzen von Sound Art, avancierter elektronischer Komposition und Installationskunst mit dem Populären von Ambient, Electronica und Postrock zu versöhnen, ohne dass die Konzeptstrenge, Kopfstärke oder auf der anderen Seite die Zugänglichkeit ihrer Stücke darunter leiden müsste. Das ist ein seltenes Talent, das auf ihrer jüngsten Mini-LP am bislang ausgeprägtesten zum tragen kommt. Rein ästhetisch könnte Cusp einfach nur minimalistischer Dark Ambient oder Post-Industrial sein. In den feinen Details ist aber viel mehr. Weniger mehr ist hier viel mehr weniger.
Das internationale Londoner Spezialistenlabel SM-LL pflegt sowohl in der visuellen wie auch der klanglichen Ästhetik einen stringenten Schwarzweiß-Minimalismus. Die mikrotonale Elektronik des Batch 0013 (SM-LL) von Mira Martin-Gray alias Tendencytis aus Neuseeland ist ihm Rahmen des aktuellen „Batch” an SM-LL-Veröffentlichungen noch eine der (im Verhältnis) leichtverständlichsten und poppigsten, wenn schon nicht die prominenteste. Einer Ankündigung vom Dezember 2019 zufolge, wird das Label in Zukunft komplett anonym und unpersönlich agieren und auf Künstlernamen und Producer-Credits verzichten. Konsequente Arbeit an der Aura also.
Jana Irmert – It‘s Happening
Drone-Minimalismus kann auf etwas andere Weise ebenso streng und konsequent sein wie Elektroakustik und digitalelektrisch pulsierende Sound Art, kann aber ebenso Pop sein, verstanden meist als Postrock, als Songs ohne Gesang und mit offener, fließender Struktur. Was die beiden Drone-Gitarristen Hellmut Neidhart und Ricky Graham alias N(57) / Signals Under Test auf Disrupt / Construct (Denovali) machen, deckt diesen Möglichkeitsraum perfekt ab. Ausschweifender Improv-Feedback, der von feinster Beinahe-Stille zu energetischem Noiserock erst die Decke wegfliegen lässt und die Bruchstücke dann wieder zusammenfegt, in ein subtiles Klangbild feinster Soundstäube arrangiert und – ein ziemliches Novum für Neidhart – mit einem elektronischen Puls unterlegt.
Die Drones des niederländischen Duos Transtilla bleiben auch im zweiten Album II (Midira) diesseits der Rhythmisierung. Was in diesem Fall völlig in Ordnung geht. Mit der Elektroakustikerin Anne-Chris Bakker und dem Improv-E-Gitarristen Romke Kleefstra haben sich zwei derart versierte Musiker getroffen, die selbst den radikal minimalistischten Feedback-Drone noch zu etwas Interessantem und Ansprechendem formen können.
Für das britische Duo drøne ist der Drone nicht die Hauptsache. Sie mischen auf ihrem vierten Album The Stilling (Pomperimpossa, VÖ 10. Januar) akustische Instrumente, Streicher vor allem, und markante Field Recordings wie etwa Stimmen aus dem Radio unter ihre kargen Modularsynthesizersounds. Mit maximalem Effekt, denn diverser und disruptiver als auf The Stilling dürfte minimalitischer Drone kaum werden.
Stream: N(57) / Signals Under Test – Construct I