Grafik: Bastian Grossmann, konkrit-Logo: Nicoletta Dalfino
Kurzweilige Aufregung über diese DJ und jene Bizarrerie ist in unserer Szene zum tagtäglichen Geschäft avanciert, auch in der Musikpresse selbst. Deshalb ist es mehr als notwendig, über die dahinterliegenden Strukturen zu reden und erst recht über die Ideologie, welche diese trägt. Anhand dreier Beispiele aus der jüngeren Zeit untersucht Kristoffer Cornils im zweiten Teil seiner Kolumne konkrit, was die Szene eigentlich so ruiniert hat – und kommt zu einem überraschenden Ergebnis.
Die Diskursverschiebungen der Szene lassen sich mittlerweile am besten am Twitter-Barometer ablesen: Je weiter das nach oben ausschlägt, desto tiefschürfender ist das Problem dahinter. Doch so viel heiße Luft auch in den Äther geblasen wird, so schnell verpufft die Diskussion darüber, wenn der nächste Aufreger durchs Land zieht. Versuchen wir also einmal, kurz innezuhalten, zu rekapitulieren und über drei Beispiele die weitgreifenden Probleme der Szene auszuleuchten. Reden wir also über Peggy Gous Dauerpräsenz auf allen Kanälen, Kentucky Fried Chickens Debüt auf den Festival-Bühnen dieser Welt und vor allem das Ende der Red Bull Music Academy.
Was war passiert – und was eigentlich war so schlimm daran?
Peggy Gou wirbt kontinuierlich auf gefühlt allen Plattformen für so gefühlt jedes namhafte Unternehmen aus egal welcher Branche – Sonnenbrillen, Autos, Parfüm, you name it. Das wurde heftig debattiert. Die einen waren schlicht genervt, weil sie vermutlich lieber in ihren Instagram-Storys durch namenlose Models wischen würden. Für andere schien das Problem zentraler: Verkauft hier eine senkrechtgestartete Newcomerin etwa im Alleingang die Ideale einer traditionsbehafteten Szene an den multinationalen Kapitalismus? Verteidigt wurde Gou gegen den ständigen Twitter-Storm einerseits mit dem Argument, dass sie bei weitem nicht die einzige wäre, die sich auf Werbedeals einlässt und ganz richtig wurde sie auch gegenüber dem misogynen Unterton, der sich in der Auswahl von Gou als Zielscheibe wie auch in der Rhetorik nicht weniger Kommentare bemerkbar machte, in Schutz genommen.
Nicht ganz so weit gingen die Meinungen auseinander, als ein kurzer Clip vom diesjährigen Ultra Music Festival in Miami auftauchte. Zu sehen ist ein Mann mit Colonel-Sanders-Maske, der für die Fast-Food-Kette Kentucky Fried Chicken für fünf Minuten (!?) ein (!?!?) Stück Musik (!?!?!?) auflegte, dessen Drop durch ein Hühnergackern angekündigt und von der Zeile “finger lickin’ good” abgerundet wurde. Schlimm fanden das offenkundig nicht nur das zur Salzsäule erstarrte Publikum des Festivals, welches vermutlich lieber den nachfolgenden Auftritt sehen wollte, sondern ebenso alle auf allen sozialen Kanälen und sogar internationale Publikationen wie Pitchfork und Mixmag, die dem anderthalb Minuten langen Video eigens Artikel widmeten.
.@KFC bought Colonel Sanders a slot on the @Ultra main stage, and this happened. 🐔🥚😂 | 📹: @1001TLtv pic.twitter.com/8qZfUZ7G4K
— Festive Owl (@TheFestiveOwl) 29. März 2019
Weniger unter Fans und vielmehr noch aber unter den movers and shakers der Szene wurde das Ende der Red Bull Music Academy debattiert. Die Frage nach Fluch oder Segen des verlängerten Marketings des Energieplörreherstellers wurde noch vor wenigen Jahren steil diskutiert, dann wieder gar nicht und dann schließlich wieder und dringlicher als zuvor, als Red-Bull-CEO Dietrich Mateschitz’ Unterstützung für rechtsextreme Bewegungen und seine menschenverachtenden Ansichten an die Öffentlichkeit sickerten. Ob die verhaltenen Proteste dagegen der Grund waren, dass der Konzern und die hinter der Red Bull Music Academy stehende Agentur Yadastar ihre 20-jährige Kooperation zum Ende dieses Jahres aufkündigen, steht nicht fest. Die Wahrheit darüber werden wir vermutlich nie erfahren.
Sicher ist zumindest, dass wir von nun an der abrupten Erosion einer ganzen Infrastruktur live beiwohnen dürfen, nachdem die Marketinganstrengungen des Konzerns jedes Level unserer Szene durchdrungen hatten. Musiker*innen und DJs, vor allem aber Journalist*innen haben bei der Red Bull Music Academy ihre ersten Schritte gemacht, ganze Karrieren darauf aufgebaut und für nicht wenige Performer*innen werden regelmäßige Auftritte bei von Red Bull gesponserten Events die Miete bezahlt haben, die sich mittlerweile kaum noch allein mit Plattenverkäufen oder, na ja, Streaming-Erlösen und gelegentliche Gigs bestreiten ließ.
Kapitalistischer (Sur-)Realismus
Die Erfolgsgeschichte der Peggy Gou, die Bizarrerie des KFC-Sets und das Imperium der Red Bull Music Academy sind drei Stränge aus ein und derselben Erzählung davon, wie eine vermeintliche Subkultur langsam auf individueller und struktureller Ebene von Großkonzernen vereinnahmt und zunehmend aufgeteilt wurde. Die hyperventilierende Empörung über Gou, das hysterische Gelächter über den Hühnchen-Gig und der Rattenschwanz von verbalen Schlagabtäuschen über Red Bull und sein Marketing-Projekt sind allerdings scheinheilig. Denn so diametral diese drei Phänomene doch den ethischen und ideologischen Säulen unserer Szene gegenüber stehen zu scheinen, werden sie eigentlich von genau dieser Szene getragen.
Der raketenhafte Aufstieg von Gou beispielsweise beruht auf einem kongenialen Kippspiel zwischen Underground-Integrität und Mainstream-Kapitalismus. Gou legt in den richtigen Clubs die richtigen Platten auf, veröffentlicht ihre Musik auf den richtigen Labels und bietet nur eben deswegen Angriffsfläche, weil sie ihr Gesicht großflächig – oder sei es nur in der Größe einer Instagram-Story – für Werbung hergibt. Dass viel von der ihr entgegen geschleuderten Verachtung misogyn motiviert ist, lässt sich keinesfalls von der Hand weisen. Viel mehr noch geht alle Kritik an ihr ins Leere, weil sie als Individuum lediglich Symptom und das Problem indes ein strukturelles ist. Gou trennt tatsächlich wenig von dem jungen Mann, der mit Colonel-Sanders-Maske beim Ultra seine fünf Minuten Fremdscham-Fame feiern durfte. Beide lenken allerhöchstens von der eigentlichen Misere ab und die Empörung über beide verschlimmert diese eigentlich nur noch. Denn eine Diskussion um die grundlegenden Strukturen, welche sie repräsentieren, wird dadurch verunmöglicht.
Daran ist auch die Musikpresse mitschuldig. Bei Pitchfork schrieb Philip Sherburne beispielsweise unter dem Titel “Colonel Sanders at the Rave: Kentucky Fried Chicken’s Presence at Ultra Music Festival Was Disturbing“ einen kurzen Kommentar, der wortgewandt den Konsens in jeder Menge Hühnchenkalauern zum Ausdruck brachte. “Mega-Festivals werden mehr und mehr zu den Massentierhaltungsbetrieben der Musikindustrie. Was die feigsten unter ihnen anbieten, ist ein unbeständiges Fest, das chemisch gewürzt und künstlich aufgeblasen wird, bis es industriell gefertigtem Geflügel gleicht. Das reicht aus, um jede*n vegan werden zu lassen”, schließt der Text.
Sherburne beschwört implizit eine Rückkehr zum Underground beziehungsweise schwört dem Werbe-übersaturiertem Treiben ab – und das in einem Magazin, welches derzeit auf Instagram ein Video mit der Caption “Wir haben uns mit Jack Daniels zusammengetan, um herauszufinden, wie die Zutaten ihres Whiskeys auf Klangwellen reagieren” anteasert und welches 2015 vom Medienimperium Condé Nast mit dem expliziten Ziel aufgekauft wurde, mehr “männliche Millennials” erreichen zu wollen. Und beim Mixmag schreibt ausgerechnet jemand einen wütenden Beitrag darüber, dass KFCs Werbekampagne “lachhaft” und das DJ-Set das “schlechteste aller Zeiten” sei, der den Titel “Global Brand & Content Editor” trägt. Das immerhin spricht eine unbequeme Wahrheit aus: Mixmag versteht sich genauso als brand wie Kentucky Fried Chicken und mischt in derselben Szene mit. Der Unterschied, dass Mixmag seinen Anfang ebendort genommen hat, ist mittlerweile auch nur marginal bei einem Magazin, das überall auf der Welt Dependenzen hat und deswegen ein multinationaler Player im Publikationswesen ist.
Der Ragebait-Strom
Nun ist es zweifellos gefällig, auf diese performativen Widersprüche hinzuweisen, ungefähr ebenso sehr, wie Gou irgendwelche Vorwürfe zu machen. Vor allem auch deswegen, weil selbst ein Magazin wie die Groove sich neben seinem Abo-Modell auch durch das Geld von Festivals (Medienkooperationen) und Unternehmen aus zum Beispiel der Alkoholbranche finanziert, mit Bannerwerbung etwa oder noch direkter mit sogenannten Advertorials, die eine inhaltliche und stilistische Nähe zur Groove aufweisen, im Grunde aber nur zum Bier- oder Schnapsverkauf verleiten sollen.
Für die schulterzuckende Hinnahme solcher Widersprüche prägte der Kulturtheoretiker Mark Fisher im Jahr 2009 den Begriff “Kapitalistischer Realismus”. Wenn es unmöglich scheint, Alternativen zum bestehenden System zu erdenken, setzt eine große Apathie ein und mit ihr eine Akzeptanz für das Gegebene. Denn wer wird dank ein paar Artikel, die sich in den Strom von schnell konsumierbaren Click- oder besser noch Ragebait-Wortmeldungen einreihen zum – in Sherburnes Metaphorik – Veganismus übergehen? Wo brechen Journalist*innen noch selbst mit dem System, in dem sie unerbittlich um jeden Groschen kämpfen müssen, weil durch den Wegfall von Anzeigenannahmen noch weniger Geld als zuvor vorhanden ist?
Es bleibt indes falsch, das Gegebene überhaupt als Gegebenes zu akzeptieren. Vor allem, weil der Kapitalistische Realismus immer mehr der nächsten Stufe weicht, wie Markus Metz und Georg Seeßlen Ende 2018 in Kapitalistischer (Sur-)Realismus. Neoliberalismus als Ästhetik argumentieren. Aus der bitteren Illusion, dass sich an den bestehenden Verhältnissen nichts ändern lässt, wird der hitzige Wunsch, als Gewinner*in aus dem allgemeinen Nullsummenspiel herauszugehen. Im fortschreitenden Siegeszug des Neoliberalismus wächst der Zwang zur “Kreativierung”, schreiben die beiden. “‘Kreativ’ ist, was Raum für die Kapitalisierung schafft. Etwas erzeugen, das was unmöglich Ware zu sein scheint und dann eben doch Ware wird. Kreativ ist es, eine Idiotie in eine Show zu verwandeln.” Wie die Kreativierung selbst einer ganz banalen Fast-Food-Kette klingt, lässt sich im anderthalb Minuten langen Clip vom Ultra-Festival nachhören und ansehen.
Oder doch gleich bei Peggy Gou, wenn sie im Newsfeed hier über Sonnenbrillen und dort über schnelle Autos sinniert? In jedem Fall. Und auch bei allem, was aus der Red Bull Music Academy kam. Die nämlich war, pardon, wird eine Brutstätte für Kapitalistischen Realismus und seinen Nachfolger gewesen sein.
Blut, Schweiß und Energy Drinks
2015 kamen die Produzenten Arca und Evian Christ über, natürlich, Twitter ins Gespräch. “Warum lassen wir einen Energy-Drink-Hersteller sein Logo über das Blut, den Schweiß und die Tränen von allen setzen?“, fragte der Venezolaner. Der Brite antwortete, dass er zwar eine Reform von RBMA für notwendig hielte, letztlich manche Künstler*innen “das Geld brauchen”. “Ich bin nicht gegen Sponsorships und Partnerschaften: Das gehört zum Überleben dazu”, resümierte Arca seine Position und schob nach, dass Fragen zur Aggressivität der Marke berechtigt sein sollten. Der Konsens der beiden: Wenn schon, dann bitte nachhaltig, zurückhaltend und an den Bedürfnissen der Musiker*innen orientiert. Was bei den Mitgliedern der Marketing-Abteilung von Red Bull selbst vermutlich schallendes Gelächter hervorgerufen hätte, ist ein Paradebeispiel für Kapitalistischen Realismus. Reform statt Revolution wird gewünscht, nicht mehr von strukturellen Umwälzungen, sondern individuellen Anpassungen geträumt. Solche Diskussionen wurden in den folgenden vier Jahren allerdings kaum noch geführt – selbst, als die Empörung hochschlug, ging es vorwiegend um die menschenverachtenden Ansichten eines Großkapitalisten, weniger aber um den Einfluss seines Unternehmens auf eine gesamte Subkultur.
Wenn nach der Ankündigung vom Ende der Red Bull Music Academy über das Projekt gesprochen wird, sind eindeutige Positionierungen eher die Ausnahme. Überwiegend wird die Ambivalenz der Situation beleuchtet: Ja, Unternehmen sind irgendwie nicht okay, aber die Academy hat doch einen guten Job gemacht. Sie hat spannende Musik in den Fokus gerückt, tolle Events auf die Beine gestellt und nicht zuletzt ein umfassendes journalistisches Angebot dargeboten, das irrwitzig interessant war. Wo sonst legt Stephen O’Malley schonmal eine Stunde lang uralte Black-Metal-7”s auf, wenn nicht bei Red Bull im Radio? Wo anders ließ sich mit Musikjournalismus in den letzten Jahren noch gutes Geld verdienen? Hätten wir ohne die Academy überhaupt die Musik von Nina Kraviz, Palms Trax, Objekt oder Octo Octa gehört? Und die vielen Talks mit Moodymann, Björk, Laurent Garnier und anderen – wäre diese unsere Welt nicht wesentlich ärmer ohne sie?
I’m not against sponsorships & partnerships: that’s just survival. but it should be ok to ask questions about how aggro branding will get.
— Doña Arca (@arca1000000) 16. Juni 2015
Nein. Sondern im Gegenteil vielleicht viel reicher. So wenig sich gegen die eigentliche Arbeit der Red Bull Music Academy einwenden lässt und obwohl ihre Mitarbeiter*innen über zwei Jahrzehnte einen tollen Job geleistet haben, war der bescheidene Traum von Nachhaltigkeit von der ersten Sekunde an ein Luftschloss. Denn wiewohl Yadastar bei der Durchführung der Red Bull Music Academy-Aktivitäten von Red Bull entkoppelt handeln durfte, war das Ende immer schon vorprogrammiert.
Denn das Kapital richtet sich nach seinen eigenen Interessen und schert sich herzhaft wenig um Nachhaltigkeit und erst recht nicht um Menschen, die allerhöchstens ein Minimum an Coolness-Faktor zur Markenidentität beitragen. Wenn Felix Baumgartner aus dem All springt oder der Leipziger von Red Bull aufgekaufte Fußballverein auf die Bundesliga-Spitze schielt, dann bringt das schlicht mehr. Und selbst dann ist es immer eine Partnerschaft auf Zeit. Der Markt macht die Gesetze, die Idiotie verkauft ihre Show als Show der szeneinternen Integrität, der kapitalistische Surrealismus gewinnt an Boden. Reicher wäre die Szene geworden, wenn sie durch die musikindustriellen Krisen seit Ende der Neunziger ihre eigenen Versorgungsnetze aufgebaut hätte, statt sich auf den Geldfluss eines einzigen Unternehmens zu verlassen. Indem wir die RBMA erst als gegeben akzeptiert haben und schließlich ihr Spiel mitgespielt haben, sind wir vom Regen in die Traufe geraten, soll heißen vom Kapitalistischen Realismus in den Surrealismus gelangt. Und nun?
Wirtschaftsfaktor Techno
Nun ist der Markt schlicht übersaturiert. Das merken wir jedes Mal, wenn uns Peggy Gou in die Instagram-Storys gespült wird, das sehen wir am KFC-Gig und erst recht am Rückzug von Red Bull. Marken sind in dieser Szene mittlerweile so dermaßen überrepräsentiert, dass sich in uns Widerwille regt. Wir projizieren ihn allerdings auf Individuen oder einzelne absurde Vorfälle, statt den Kern des Übels anzugehen – selbst in der Presse, welche die Show des Colonel-Sanders-Sets zwar aufgreifen, die Idiotie dahinter jedoch nicht erfassen können. Sie reihen sich ein in einen endlosen Stream empört klingender Belanglosigkeiten. Sie beschreiben schlicht nicht die strukturellen Widersprüche, sondern verschreien nur ihre Symptome. Genauso, wie es immer zu kurz greift, Red Bulls Präsenz in der Szene mit Verweis auf die gute Arbeit der Academy zu rechtfertigen, ist es nicht zielführend, Gou oder Colonel Sanders’ hibbeligen Wiedergänger zur Zielscheibe zu machen. Wir müssen über Strukturen reden, und über Ideologie – unsere eigene.
Denn der Kapitalistische Surrealismus hat uns schon längst ergriffen, wenn nicht sogar vielleicht unsere Szene überhaupt erst eine Petrischale für sein Aufkeimen war. Tobias Rapp begrüßte im Jahr 2009 die Leser*innen seines Buchs Lost and Sound. Berlin, Techno und der Easyjetset mit den Worten “Ein neues Berlin entsteht, und keiner kriegt es mit”. Ein schlechterer Einstieg ist aus heutiger Perspektive kaum denkbar, denn es haben alle mitbekommen und alle wollten ein Stück vom Kuchen abhaben: Der Energy-Drink-Konzern genauso wie die Start-Up-Blase, welche mittlerweile Clubs wegen Ruhestörung das Leben schwermachen oder die Investor*innen, welche die Mietpreise – “eine Stadt, in der die Mieten billig sind und die Behörden äußerst liberal” schreibt Rapp 2009, diese Worte sind nicht gut gealtert – explodieren ließen. Dazu führt Kreativierung unweigerlich.
Techno und Clubkultur sind potente Wirtschaftsfaktoren und eben keine kleinen – in Berlin und sonst überall auf der Welt. Wenn ihr Potenzial aber ausgeschöpft ist, zieht das Kapital weiter. Rapp beschreibt in Lost and Sound die regionale Clubszene als temporär. Auch das schmeckt angesichts von gleich vier geschlossenen Clubs im ersten Quartal 2019 mehr als bitter. Nach Feiern scheint zumindest diesbezüglich niemandem zumute. Oder öffnen entsprechend viele Alternativen ihre Tore? Da hilft es auch nichts, wenn die Clubs der Stadt laut einer Studie im letzten Jahr noch 1,48 Milliarden Euro in die Stadt gebracht haben. Denn von dem Geld sehen Promoter*innen und Residents oder andere Stützpfeiler der regionalen Infrastruktur herzlich wenig und nur die Gastronomie beziehungsweise einige wenige Clubs sehr viel, das meiste jedoch geht letzten Endes in die Immobilienwirtschaft. Von wegen Nachhaltigkeit. Schönes Neues Berlin.
Rapp jedoch brachte mit seiner Arie auf die Berliner Szene zumindest ein Selbstverständnis auf den Punkt, das sich um einen schwammigen ideologischen Kern gruppierte, ein Lebensgefühl oder einen Lifestyle. Soll heißen etwas, das unmöglich Ware zu sein schien und dann eben doch Ware wurde. So oft in Berlin auf die Touris und szeneweit über die Großkonzerne geschimpft werden mag: Angelockt wurden diese nicht von ungefähr, sondern uns allen, unserer (Selbst-)Begeisterung und unseren Versprechungen – ob von einem neuen Berlin, einer anderen Lebensweise mit eigener verschwörerischer Kultur oder anderen Luftschlössern.
Neue Sprache – neue Strukturen?
Dass niemand per se etwas dafür kann, dass sich mit Techno Geld machen lässt, ist das Eine. Dass kaum darüber diskutiert wird, dass Techno schon lange vor der legendären Camel-Tour im Jahr 1994 immer auch wirtschaftliches Terrain urbar machte, ein Anderes. Denn der vermeintliche Underground gehört immer noch zum erweiterten Feld der Popkultur, und Popkultur ist Teil der allgemeinen Kulturindustrie, soll heißen es handelt sich um eine Industrie wie so ziemlich jede andere Industrie auch. Mit all ihren Verwertungsketten, ihren (Selbst-)Ausbeutungsmechanismen. Indem unsere Rhetorik immer auf den metaphorischen Veganismus, also auf den Verzicht von Profitinteressen und Kapital pocht, verschließen wir vor dieser harten Wahrheit aber die Augen – und öffnen Profitinteressen und Kapital genau dadurch Tür und Tor. Der Archetypus des Harder-Faster-Better-Stronger-Raves ohne Ende oder Einschränkungen ist nicht so weit von der Figur des*der perfekten Konsument*in entfernt, wie wir es gerne hätten.
Auch diese Einsichten mögen nicht neu sein, und sie sich in Erinnerung zu rufen, löst zuerst keine Probleme. Spätestens jetzt aber, wo mit der Red Bull Music Academy ein ubiquitärer Geldgeber die Szene verlässt, müssen wir endlich die Gelegenheit nutzen, um davon ausgehend über Strukturen oder bessere noch ihre interne Restrukturierung zu sprechen, statt uns nur über einzelne DJs oder kurze Aufreger-Clips zu echauffieren. Wie können wir selbst gemeinsam eine Community gestalten, die de facto nachhaltig ist? Die sich nicht bis ins kleinste Detail vom big money abhängig machen muss? Die überhaupt nicht das big money anzieht, sondern sich selbst trägt? Die keine Schere zwischen 1%-Superstar und 99%-Normalo-DJs aufklaffen lässt? Das sind die Fragen, die wir langfristig diskutieren müssen, anstatt uns Tag für Tag über die Symptome des Kapitalistischen Surrealismus im Techno zu ereifern.
In jedem Fall aber müssen wir uns zuerst von der Illusion verabschieden, dass unsere Szene jemals irgendwie von kapitalistischen Prozessen entkoppelt gewesen wäre. In einem Kommentar zum RBMA-Ende im britischen Guardian verwendet der Künstler Mat Dryhurst den Begriff der “interdependence”, um die Strukturen im vermeintlichen Underground differenzierter beschreiben zu können, als es das ideologisch überdehnte Schlagwort “independence” vermag. Spätestens jetzt, wenn wir jeden Tag die vollkommene Übersaturierung von Marken aufgezwängt bekommen und die ersten Geld und Füße in die Hand nehmen, gar eine künstlich konstruierte Infrastruktur lautstark in sich zusammenkracht, steht fest, dass diese Szene nie so unabhängig war, wie sie gerne behauptet.
Dryhursts semantische Intervention ist eine wichtige und richtige. Denn bevor wir selbst nachhaltige Veränderungen anstoßen können, müssen wir eine präzisere Sprache finden, um uns über unsere Ziele zu verständigen. Denn anderweitig stoßen wir nur weiterhin dieselbe heiße Luft durch alle Kanäle, ob über Instagram-DJs, Hähnchenkeulen-House oder den nächsten noch ausstehenden Aufreger. Das alles wird im Äther verpuffen, erst recht natürlich, wenn die Presse sich noch weiter an diesen Prozessen beteiligt, um dadurch über Klicks Werbeeinnahmen zu generieren. Wir müssen über Strukturen und die sie tragende Ideologien reden, statt uns künstlich aufzuregen. Und wenn wir darüber keine neue Sprache finden, dann schauen wir irgendwann ebenso bedröppelt drein wie heute, wenn wir Lost and Sound lesen und das neue Berlin ebenso wie die Techno-Szene als solche dagegen als surreale Realität erscheinen.
Mit seiner zweimonatigen Kolumne konkrit verdichtet Kristoffer Cornils das Hintergrundrauschen und analysiert große mediale Bewegungen und urbane Entwicklungen ebenso wie den Eingriff von Großkonzernen in die Szene.