Alle Fotos: Camille Blake (The Long Now)
Als fulminanter Abschluss der MaerzMusik verwandelte sich das Kraftwerk Berlin am letzten März-Wochenende 2019 für dreißig Stunden mit Konzerten und elektronischen Live-Acts wie Alessandro Cortini oder Donato Dozzy zur Ambient-Spielwiese. Autor Raoul Kranz hat es sich für die GROOVE auf einer der Liegen gemütlich gemacht.
Samstagabend bot sich an der Köpenicker Straße ein ungewohntes Bild: Keine Feierwütigen standen leicht bekleidet Schlange vor dem Tresor oder OHM, sondern schwer bepacktes Publikum mit Schlafsäcken und vollen Rucksäcken. Nicht etwa für einen Camping-Trip an der Spree, sondern um es sich im ehemaligen Heizkraftwerk gemütlich zu machen, denn Übernachten war auch bei der nunmehr fünften Ausgabe von The Long Now ausdrücklich erwünscht. 30 Stunden lang lud der monumentale Industriekomplex dazu ein, sich laut Veranstaltern von der „getakteten Chronometrie der Gegenwart” zu lösen und Zeit bei dieser „körperlichen und künstlerischen Grenzerfahrung” neu zu erleben. Dazu wurden hunderte Liegen und dutzende Matratzen rund um die Bühne auf der obersten Ebene bereitgestellt, die allerdings bereits kurz nach Eröffnung allesamt belegt oder mit Jacken und Schals reserviert wurden. Klischees von Deutschen am Hotelpool lassen grüßen und führten zu Unmut, einige Gäste legten sich schließlich direkt auf den eisigen Betonboden. Immerhin gibt es Tee zum Aufwärmen umsonst.
Der musikalische Auftakt gestaltete sich schwerfällig avantgardistisch: Die experimentelle Vocalistin Stine Janvin kombinierte bei „Sound Of Sounds Between Sounds” abgehackte bis flächige Vocals mit gegensätzlichem Stroboskop-Gewitter. Die britisch-iranische Komponistin Shiva Feshareki lieferte bei ihrer Turntable-Performance gewaltige Bass-Drones und bedrohliche Scratches – technisch eindrucksvoll, musikalisch eher schwierig. Der libanesische Maler und Musiker Mazen Kerbaj setzte bei „Walls Will Fall: The Trumpets Of Jericho” auf den Widerhall des gigantischen Kraftwerks und schickte sein Trompetenensemble, das in Abständen immer wieder dieselbe Note spielte, einmal quer durchs Gebäude.
Der Rest des Abends gehörte abwechslungsreicher Live-Elektronik und Türmen aus Modular-Synthesizern: Romantisch und verträumt ließ es der Melody As Truth-Labelboss Jonny Nash angehen, auch bekannt von seinen Kollaborationen mit Suzanne Kraft. Dissonante Klangwolken, die an verstimmte Geigenensembles erinnerten, schickte der australische Multi-Instrumentalist Oren Ambarchi durchs Gebäude. Der US-Elektroniker Mark Verbos und Synthesizer-Wizard Alessandro Cortini von Nine Inch Nails ließen das Kraftwerk mit vor Industrial triefenden, bittersüßen Melodien und rostigen Bässen erzittern. Zur Geisterstunde ergründeten sie mit voller Klanggewalt alle möglichen Facetten und Feinheiten eigentlich nur eines musikalischen Motivs. Dabei bot die Uraufführung wenig Überraschungen, zumal Cortini Dauergast des ebenfalls im Kraftwerk gastierenden Atonal Festivals ist. Fast schon paradiesisch muteten die hoffnungsvolleren Klänge des US-Experimentalisten Byron Westbrook im Anschluss an.
Vereinzelte Performances, eine Installation in der Schaltzentrale mit psychotischem Stimmengewirr und Video-Screenings rundeten das Event ab. Vor allem die Skulpturen von Materiel Matano im Erdgeschoss stachen hervor: Vier schwere Eisblöcke baumelten an dicken Stricken von der Decke, teils mit eingeschlossenen Handschuhen und Metallstrukturen, und tröpfelten langsam vor sich hin. Sonntag war bereits ein Block komplett geschmolzen und von den drei anderen nicht mehr viel übrig. Hier wurde Zeit unmittelbar greifbar.
Der Sonntagabend mutete generell ruhiger an, das Kraftwerk war angenehm gefüllt, einige Liegen waren wieder frei geworden und von Glück beseelt schlafwandelten einige Gäste ins Freie. Die herbei geschworene Entschleunigung wurde spürbar: Wollte ich nicht eine Zigarette rauchen gehen? Ach, ich lege mich lieber noch mal eine Runde hin. 30 Stunden ohne Beats, aber voller Gegensätze wie zwischen den sanften Folk-Klängen der Band CTM unter Leitung der dänischen Sängerin und Cellistin Cæcilie Trier und den psychedelischen Modular-Exkursionen von Donato Dozzy. Der italienische Produzent und Mitbetreiber des Labels Spazio Disponibile gilt als Ikone des hypnotischen Technos, vermischte aber bei seinem dreistündigen Ambient-Set verstörende Bass- und Glöckchen-Drones mit versöhnlicheren Synthesizer-Flächen und ließ sogar die ein oder andere verhangene Kickdrum und langsame Acid-Bassline erklingen.
Vom gehobenen Kulturpublikum über artsy Hipster bis hin zu einzelnen deplatziert wirkenden Ravern in voller Montur waren alle Altersklassen und Schichten vertreten. Obwohl das Event deutlich zivilisierter als eine typische Technoparty über die Bühne ging, entstand gerade im Gedränge des vollen Auftakts am Samstag eine Disparität zwischen alkoholisierten und laut quatschenden Touristen an der Bar und Gästen auf benachbarten Liegen, die sich im Dämmerzustand zum Schlaf voll und ganz auf die Musik einlassen wollten und schließlich in eine ruhigere Ecke umziehen mussten. Interessant, wie sich im Liegen der Fokus weg von der Bühne zu einem selbst bewegte. Neben den Zuschauern direkt vor der Bühne hingen die meisten Besucher so ihren eigenen Träumereien nach oder ließen ihre Blicke über die gigantischen Betonplattformen des düsteren Kraftwerks schweifens. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die exzellente Arbeit der Lichttechniker, die von dezenten Visuals bis hin zum Blitzlichtgewitter perfekt abgestimmt auf die Intensität der Musik alle Möglichkeiten nutzten. In diesem besonderen Ambiente war The Long Now eine einmalige Erfahrung für Liebhaber von moderner Klassik, Live-Elektronik und Ambient. Wann feiert der in den 90er-Jahren auf Partys noch obligatorische Chill-Out endlich sein Revival?