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Motherboard: Februar 2025

Sollte Komposition von und mit künstlicher Intelligenz bereits zum Synonym für hochglanzpolierte Beliebigkeit und hochtechnologische Langeweile geworden sein – wofür einiges spricht –, liegt die Zukunft vielleicht doch wieder im Mensch-Maschinen-Hybrid, vielleicht sogar in seiner klassischen Ausformung, dem Androiden. Warum nicht gleich eine der klassischsten aller musikalischen Formen, die Oper, nutzen, um diesen klobigen Mechanoiden mit all der inkorporierten Vergangenheit strikt gen Zukunft auszurichten? Etwas in der Art könnte sich eventuell der japanische Pianist Keiichiro Shibuya gedacht haben als er das in so ziemlich jeder Hinsicht hyper-dimensionale ANDROID OPERA MIRROR (ATAK, 21. Februar) konzipiert hat. Ein mehr-als-menschliches Orchesterwerk mit einem teil-humanoiden Roboter als Dirigent:in, Shibuya selbst ganz analog am Piano und mit jeder Menge elektronischer Interaktion. Die Stimmen sind digital generiert, das Libretto stammt zu gleichen Teilen von GPT und Shibuya, mit Zitaten von Ludwig Wittgenstein und Michel Houellebecq angereichert. Aufwand und Ambition könnten also größer kaum sein. Das Erstaunliche ist, dass die Stücke in all dem elektronischen und akustisch-instrumentalen Überfluss (und manches Mal durchaus Bombast) doch exzellent als Electronica funktionieren. Die Rückübersetzung der transhumanen Extrawelten in menschliche Dimensionen gelingt jederzeit. Shibuya hat seine KI noch im Griff.

Anziehung und Abstoßung, elementare Emotionen, roh und zugleich ultimativ verfeinert. Die fragilen Song-Tracks der Kölner Sänger:in und Produzent:in TRACE sind furchtlose Tauchgänge in emotionale Tiefengewässer, haben keine Angst vor Schönheit oder Gewalt. Wenn zartestmögliche Elektroakustik auf die Brutalität und Härte (aber eben genauso Fragilität und Melancholie) der realen Welt da draußen trifft, entsteht im besten Fall so etwas wie TRACEs selbstverlegtes Albumdebüt t4tears (TRACE, 24. Januar). Es ist eine von vielen Transitionen, die dieses Album prägen, ein Übergang von Distanz zu Nähe, eine Brücke zwischen großen Gesten und intimstem Songwriting, zwischen kleinem Experiment und großem Pop.

Transformation, Widerstand und Veränderung. Sind sie möglich, allein aus Ästhetik und Melancholie heraus? Der mittlerweile in den Niederlanden lebende Kamancheh– und Modularsynthesizer-Virtuose Saba Alizadeh hat den Schmerz über die unterdrückten Hoffnungen, über die brutal niedergeknüppelten „Woman Life Freedom”-Demonstrationen in seinem Heimatland Iran in musikalische Empathie verwandelt. Temple of Hope (30M Records, 17. Januar) fühlt und spricht für die Getöteten, Verhafteten, Verletzten, mundtot Gemachten, für diejenigen, die sich ins Private zurückziehen mussten. Spricht notwendigerweise in tiefer Trauer, in einer Trauer, die sich nicht in Illusionen von Rache oder Gegengewalt übersetzt, sondern in vielfach gebrochene Schönheit. Musik kann so viel.

Die persönlichen und musikalischen Transformationen der seit geraumer Zeit in Berlin lebenden und dort sehr umtriebig produktiven Extrem-Gitarrist:in Jules Reidy bleiben mit jeder neuen Iteration faszinierend unvorhersehbar und doch unmittelbar wiedererkennbar. Vermutlich sind es die kleinen Abweichungen vom tonalen Standard, die deren Spiel und den daraus erwachsenden Gesamtsound so unverwechselbar machen. Da spielt es kaum eine Rolle, in oder an welchem Genre Reidy gerade spielt. Sei es freie Soloimprovisation, elektronisches Stimmexperiment oder der fast schon folkige Art-Pop von Ghost/Spirit (Thrill Jockey, 21. Februar) wo Stimme und Gitarre beinahe unverzerrt und natürlich aufspielen und doch immer den spezifischen Drang ins Freie, Unerkundete haben, wo Klänge mikrotonal verwildern und alles, was Song ist, quasi organisch ins Psychedelische hineinwuchert.

Die Kopenhagener Kontrabassistin Ida Duelund bewegt sich offenbar mühelos zwischen den verschiedenen Szenen ihrer Stadt, hat für Trentemøller gearbeitet, spielt in diversen Jazz- und Improv-Kombos und hat als Hälfte der tollen Lueenas Soundtracks, Electronica und Neoklassik produziert. Ihr spätes Solodebüt Sibo (Initiated Records, 24. Januar) bedient keine dieser Referenzen direkt, hat allerdings von allen jeweils etwas mitgenommen, was Duelund zusammengenommen in barocken, doch zurückhaltenden Art-Pop übersetzt. Zurückhaltend vor allem, was Pathos und Effekthascherei im Songwriting betrifft, keineswegs aber, was die sorgfältigen instrumentalen Arrangements angeht. Kaum ein Stück ohne eine größere Ansammlung von Streichern und Bläsern, die aber so unaufdringlich agieren, so frei von Pomp und Kitsch, wie es kaum möglich scheint. Es ergibt sich also eine unkonventionelle, doch überaus zugängliche Popmusik, wie sie in Skandinavien vergleichbar eigenwillig zum Beispiel von Astrid Sonne gemacht wird, oder in Südkorea von Minhwi Lee.

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