Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks. Alle Beiträge findet ihr hier.
Was wurde 2024 so kompiliert? Wir haben eine stilistisch breite Auswahl getroffen, die Ambient, House, Techno und alle Zwischenstufen berücksichtigt.
VA – 10 (Music From Memory)
Jamie Tiller war die treibende Kraft hinter Music From Memory. Als er im Oktober überraschend bei einem Unfall verstarb, ging ein Schock durch die Szene, hatte sich sein Reissue-Label im vergangenen Jahrzehnt doch zum Liebling vieler Fans und Musiker:innen gleichermaßen gemausert. Was als Neuauflagen-Katalog vergessener Meisterwerke (die oft nur in geringer Stückzahl und ihrer Zeit voraus erschienen waren) begann, entwickelte langsam seinen eigenen Künstler:innenstamm, inspirierte Jung wie Alt und befeuerte die Karrieren vieler schon in die Jahre gekommener Artists wie Gigi Masin oder Suso Sáiz.
Auf 10, dem letzten Projekt, an dem Jamie Tiller noch als Kurator und Label-Chef beteiligt war, sind neben jüngeren Additionen zum Roster wie The Zenmenn, RAMZi oder Dea auch alte Bekannte wie Jonny Nash oder Terekke dabei. Die Jubiläums-Compilation demonstriert den zeitlosen Geist des Labels, bei dem es weder um Vintage-Sounds noch Retro-Nostalgie geht. Eher feiern die 20 Tracks eine Interpretation des Ambient-Begriffs, die weit über übliche Genregrenzen hinwegreicht und New Age, Jazz oder Elektronisches spielend miteinander verbindet.
Sei es Vito Riccis 25-minütiges Drone-Epos „Da Hamptons” von 1980 oder Yu Su & J. Wilsons modernes Electronica-Geflecht „Mitti Attar” aus dem Vorjahr — verbindendes Element hier ist die Insichgewandtheit der Musik, ein Außenseiter-Flair, der mutig seine Schönheit jenseits der Norm zu verkörpert weiß. Leopold Hutter
VA – 20 Years Of Phonica (Phonica)
Als Phonica Records 2003 in London seine Türen öffnete, stand es nicht gut um Vinyl. Trotzdem versuchten die Freunde Simon Rigg, Tom Relleen and Heidi Van Den Amstel, einen neuen Hub für Dance Music aller Arten zu entwickeln. Zunächst etablierte sich der Laden zur Nische für Minimal- und Microhouse-Labels wie Kompakt, Perlon oder Playhouse. Später kam das eigene Imprint dazu, das frühe Platten von Peggy Gou, Paul Woolford oder Midland herausbrachte.
Zum 20-jährigen Jubiläum gibt es 18 exklusive Tracks von neuen und etablierten Namen der Szene. Daniel Avery öffnet mit „Bell”, das wie ein aktueller Remix eines Neunziger-Aphex-Twin-Tracks klingt. Paramida & E-Talking liefern mit „Read My Lips” einen Oldschool-Acid-Banger zum Sonnenaufgang, während Dauwd einen wie immer basslastigen Offkilter-Techno-Groove verantwortet. Achtziger-Synths sind auch vertreten – dank der Italienerin System Olympia und ihrem „A Mezzanotte”, das geschickt zwischen Proto-Italo und verführerischen R’n’B-Vocals landet.
Tim Reaper und Comfort Zone geben mit ihrer Hymne „Subterranean” ein Update auf den Bukem-Sound einer vergangenen Ära, während NTS-Moderatorin Shy One auf „Uncle G” UK-Bass mit ausgefallener Live-Perkussion gleichermaßen nach Jazz und Funk schmecken lässt. Daneben gibt es noch allerlei Leckereien wie groovigen Breakbeat-House von Toby Tobias, trippigen Outsider-Minimal von Willow, einen ungewöhnlichen Techno-Stepper von Roman Flügel oder sogar schimmernden Electro in Remix-Form von Shanti Celeste. Leopold Hutter
VA – Braindance (Die Orakel)
Mitte der Neunziger ersann das Label Rephlex von Richard D. James und Grant Wilson-Claridge den Begriff „Braindance” – vermutlich als Gegenentwurf zum unsäglichen, von britischen Musikjournalisten geprägten Genre-Namen „Intelligent Dance Music”. Diesen Namen borgte sich nun das Frankfurter Label Die Orakel für eine Compilation zum zehnjährigen Bestehen. Warum auch nicht? Zum einen ist der Begriff einprägsam, zum anderen sind die zahlreichen Künstler:innen des Labels offensichtlich geprägt von der Blütezeit englischer Electronica von Anfang bis Mitte der Neunziger.
Dass die Compilation dennoch nicht wie ein Rephlex-Abklatsch klingt, ist ihr mehr als anzurechnen. Die Zusammenstellung klingt in allen Facetten auch heute noch frisch, originell und futuristisch. Und an Facetten mangelt es über den Verlauf der 15 Stücke hinweg wahrhaftig nicht. So gleiten die Tracks von upsammy, Poly Chain, Reptant, Gacha Bakradze oder O-Wells (um hier nur mal die Bekannteren zu nennen) behände von Ambient zu Electro, von sphärischer Electronica zu experimentellem Techno und hypnotischem Acid. Langweilig ist hier nichts, vielmehr voller Spannung und Überraschung. Musik, die sowohl zum Zuhören als auch zum Tanzen einlädt. Womit sie dem Genrenamen wie auch Die Orakel ein gebührendes Denkmal setzt. Tim Lorenz
VA – Gonzo Goa Vol. II (Sound Migration)
Goa Trance gilt heute als verzichtbarer Sound, der die immer gleichen, trippigen Klänge in farblose Tracks gießt. Das war nicht immer so: Als das Genre in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern entstand, erschufen die Goa-Vordenker einen wilden Mix aus allem, was zum enthemmten, psychedelischen Feiern taugte – zum Beispiel die von Talla 2XLC produzierte wüste Depeche-Mode-Paraphrase „R.O.E.” oder eine verspielte Auseinandersetzung mit marokkanischer Folk Music eines vergessenen Nebenprojekts von Jah Wobble’s Invaders of the Heart. Alexis Waltz
VA – 10 Years Love On The Rocks – Sky Is The Limit (Love On The Rocks)
Mit klarer Handschrift und beständiger Qualitätskontrolle hat Paramida mit Love On The Rocks eines der besten Houselabels der Dekade geschaffen. Nach zehnjährigem Bestehen ist der Katalog immer noch überschaubar, denn: Qualität steht über Quantität. Umso erfreulicher also, mit der Jubiläums-Compilations gleich acht neue Tracks von alten und neuen Bekannten in die Hände zu bekommen. Die von OYE Records und als Panorama-Bar-Resident bekannte Herausgeberin Paramida legt mit „Limbo In Heaven” gleich den perfekten Opener vor: Ihr angetranceter House mit atmosphärischen Drums und Strand-Ambience beschwört Bilder von Goa beim Sonnenaufgang herauf.
Er setzt den Ton für diese gut gelaunte Compilation, die Elemente aus klassischem House mit stilsicheren Prog- und Trance-Einschlägen mischt. Langzeit-Kollaborateur Massimiliano Pagliara, der 2014 mit dem ersten Labelrelease einen Hit landete, knüpft an den euphorisch-balearischen Vibe an, ebenso der französische Produzent Sweely mit seinem betont oldschool klingenden, String-geschwängertem House. Etwas mehr proggy-groovend die Beiträge von Simone De Kunovich, Alex Kassian & Running Hot sowie Neuzugang E-Talking. Am spannendsten ist die atmosphärische Achterbahnfahrt durchs Dschungel-Unterholz der beiden Busenbrüder Fantastic Man & Tornado Wallace – hier endlich mal als Produzenten-Duo. Leopold Hutter
VA – The Sound Of Love International 006 – Palms Trax (Love International)
Diese Compilation für Love International bildet das perfekte Gegenstück zu Palms Trax’ erfolgreichem Dekmantel-Ten-Mitschnitt. Auf dem Dekmantel ist Jay Donaldson sich für keinen Banger zu schade, für Love International gräbt er zwölf Songs vergessener Künstler:innen aus, die oft keine weiteren Platten veröffentlicht haben und ursprünglich oft im Selbstverlag erschienen sind. „I Play The Body Electronic” von Gerd Thrue etwa ist ein zehnminütiger Synth-Epos zwischen Cosmic Disco und TV-Einspieler, bei dem Hammond-Orgel und Moog miteinander kommunizieren und der mit psychedelischen Phaser-Effekten garniert ist. Nicht weniger unwahrscheinlich ist La Luna von El Pedro aus Südafrika, das den Bubblegum-Pop der Neunziger mit Flamenco-Rhythmen und spanischen Texten verbindet. Alexis Waltz
VA – Place: Chile (Air Texture)
Mit seiner Reihe Place tut das Label Air Texture, grob gesagt, Gutes. Es sammelt Spenden für politische Selbstbestimmtheit (Georgien), queerfreundliche Organisationen (Frankreich) oder betont die Perspektiven einzelner Länder auf ökologische Themen – Klimaschutz, Renaturierung, Artenvielfalt, wie im Fall von Chile. Bevor an dieser Stelle jemand aussteigt: Ja, in den letzten Jahren überschwemmte eine Flut absolut mediokrer Fundraiser-Compilations den – wie nennt man das sonst? – Markt.
Place: Chile sticht aus dieser aber locker hervor, weil die zehn enthaltenen Tracks durch die Bank überzeugen: Der Afterhour-Piano-House von „Fantasna”, Mucho Sueños sanfter Roller, die aufgeräumt produzierten Breaks von lilen, der moderate Bleep Techno von Atom™ oder das verschachtelte, übersteuerte Chaos von Kuratorin Kleine Pia. Die Einnahmen des Ganzen gehen dieses Mal übrigens der Guiña Working Group zugute, die sich dem Schutz der chilenischen Wildkatze verschrieben hat. Daran ist zumindest mal nichts verkehrt. Maximilian Fritz
Patrick Holland – Infra (Verdicchio Music Publishing) (Canada House)
Patrick heißt zwar Holland, kommt aber aus Kanada. Weil Musik aber keine Grenzen kennt und Glasfaser verbindet, landen Disco, House und Täterä auch in den entlegensten Ecken. Kanada ist immerhin das zweitgrößte Land der Welt (wer wusste?), und trotzdem kennen wir es nur von bärtigen Männern, die auf DMAX ihren LKW über zugefrorene Seen in der Größe von Nordrhein-Westfalen lenken. Das heißt, wir wissen fast nix, aber hören halt mal hin. Patrick hat beim letzten Verhör zwar noch 2009er-Indie-Pop produziert, aber davor auch schon Sommerhits für Sommerfestivals. Das heißt: Das Leben ändert sich, und wenn es dir Zitronen gibt, quetschst du die nicht alle auf einmal aus, sondern freust dich über die Abwechslung – die kanadischen Winter sind schließlich lang und finster. Vielleicht ist Infra deshalb ein Mixtape geworden, das den Serotoninspiegel von lebenslangen Abstinenzlern besitzt. Christoph Benkeser
Sandwell District – Where Next? (Point Of Departure)
Klar, man könnte sagen, bei Sandwell District darf Techno noch Techno sein (deshalb schauen ja alle immer so böse drein). Oder man hört sich Where Next? an und sagt: Ja, also. Weil der Titel natürlich was suggeriert, nämlich dass es wohin geht, aber man in diesem Moment noch nicht weiß, wohin genau.
Nachdem aber eines der engsten Sandwell-Mitglieder nicht mehr ist, schlägt man hier notgedrungen den Rückweg ein. Das heißt: Die Tracks von Regis, Function und Silent Servant sind eine Sandwell-District-Compilation – das Schaffen längst vergangener Tage, wo eigentlich alles besser war, sogar die Schokoladenmilch von Müller. Na ja, wohin denn nun? Zurück zum Techno, der fünf, sechs Minuten die Luft anschiebt, bis die Welt stehenbleibt und alles anders ist. Das haben Sandwell District immer gut gekonnt, diese Tools für die Tooltime. Wobei das natürlich in der landläufigen Auffassung eine Beleidigung ist, die man unmöglich so stehenlassen kann. Deshalb muss man es wie einer der eifrigsten Nachahmer Rene Wise halten: „Es gibt keine langweiligen Tools, nur langweilige Tracks!” Und die findet man bei Where Next eher nicht – wenn man böse drein schaut. Christoph Benkeser
VA – Sonic Transmutations (Clone Records 1992/2023) (Clone)
Das 1992 von Serge Verschuur in Rotterdam gegründete Label Clone hat die elektronische Tanzmusik entscheidend geprägt. Mit Sonic Transmutations feiert das Imprint sein 31-jähriges Bestehen und präsentiert ein 33 Tracks umfassendes Boxset, das die stilistische Vielfalt und Qualität von Clone eindrucksvoll widerspiegelt.
Jeder einzelne Track lässt sich auch als tiefe Verbeugung vor dem Lebenswerk des Gründers hören. Highlights wie Dopplereffekts „Dyson Sphere”, Keith Tuckers „Detroit (313)” oder Legowelts hypnotisches „La Nuit Invisible” zeigen Clones Wurzeln im Electro, während Ausflüge in House, Techno und Disco die Breite des Sounds verdeutlichen. Tracks wie Alberta Balsams „Anthem” und PRZ’ „This Time” bezeugen die Innovationskraft des Labels. Harry Schmidt