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Februar 2024: Die einschlägigen Compilations

VA – 10 (Music From Memory)

Jamie Tiller war die treibende Kraft hinter Music From Memory. Als er im Oktober überraschend bei einem Unfall verstarb, ging ein Schock durch die Szene, hatte sich sein Reissue-Label im vergangenen Jahrzehnt doch zum Liebling vieler Fans und Musiker:innen gleichermaßen gemausert. Was als Neuauflagen-Katalog vergessener Meisterwerke (die oft nur in geringer Stückzahl und ihrer Zeit voraus erschienen waren) begann, entwickelte langsam seinen eigenen Künstler:innenstamm, inspirierte Jung wie Alt und befeuerte die Karrieren vieler schon in die Jahre gekommener Artists wie Gigi Masin oder Suso Sáiz.

Auf 10, dem letzten Projekt, an dem Jamie Tiller noch als Kurator und Label-Chef beteiligt war, sind neben jüngeren Additionen zum Roster wie The Zenmenn, RAMZi oder Dea auch alte Bekannte wie Jonny Nash oder Terekke dabei. Die Jubiläums-Compilation demonstriert den zeitlosen Geist des Labels, bei dem es weder um Vintage-Sounds noch Retro-Nostalgie geht. Eher feiern die 20 Tracks eine Interpretation des Ambient-Begriffs, die weit über übliche Genregrenzen hinwegreicht und New Age, Jazz oder Elektronisches spielend miteinander verbindet.

Sei es Vito Riccis 25-minütiges Drone-Epos „Da Hamptons” von 1980 oder Yu Su & J. Wilsons modernes Electronica-Geflecht „Mitti Attar” aus dem Vorjahr — verbindendes Element hier ist die Insichgewandtheit der Musik, ein Außenseiter-Flair, der mutig seine Schönheit jenseits der Norm zu verkörpert weiß. Leopold Hutter

VA – Braindance (Die Orakel)

Mitte der Neunziger ersann das Label Rephlex von Richard D. James und Grant Wilson-Claridge den Begriff „Braindance” – vermutlich als Gegenentwurf zum unsäglichen, von britischen Musikjournalisten geprägten Genre-Namen „Intelligent Dance Music”. Diesen Namen borgte sich nun das Frankfurter Label Die Orakel für eine Compilation zum zehnjährigen Bestehen. Warum auch nicht? Zum einen ist der Begriff einprägsam, zum anderen sind die zahlreichen Künstler:innen des Labels offensichtlich geprägt von der Blütezeit englischer Electronica von Anfang bis Mitte der Neunziger. 

Dass die Compilation dennoch nicht wie ein Rephlex-Abklatsch klingt, ist ihr mehr als anzurechnen. Die Zusammenstellung klingt in allen Facetten auch heute noch frisch, originell und futuristisch. Und an Facetten mangelt es über den Verlauf der 15 Stücke hinweg wahrhaftig nicht. So gleiten die Tracks von upsammy, Poly Chain, Reptant, Gacha Bakradze oder O-Wells (um hier nur mal die Bekannteren zu nennen) behände von Ambient zu Electro, von sphärischer Electronica zu experimentellem Techno und hypnotischem Acid. Langweilig ist hier nichts, vielmehr voller Spannung und Überraschung. Musik, die sowohl zum Zuhören als auch zum Tanzen einlädt. Womit sie dem Genrenamen wie auch Die Orakel ein gebührendes Denkmal setzt. Tim Lorenz

VA – Jon Savage’s 1983-1985: Welcome To Techno City (Ace)

Zu seinem 2015 erschienenen sehr empfehlenswerten Buch 1966: The Year The Decade Exploded über ein für die Popmusik essenzielles Jahr stellte der Autor Jon Savage seinerzeit eine ebenso empfehlenswerte CD-Compilation zusammen. Weitere Bücher über wichtige Pop-Jahre hat er seither nicht geschrieben – aus dem Sampler aber ist dank des umtriebigen Labels Ace Records eine beachtliche Reihe geworden. Beginnend mit 1966 hat Savage mittlerweile zehn chronologisch geordnete Zusammenstellungen herausgebracht, jeweils mit den wichtigsten Stücken der entsprechenden Zeitspanne zwischen einem und vier Jahren. Mit Welcome To Techno City, der Titel deutet es bereits an, ist er nun an einem weiteren wichtigen Scheidepunkt angekommen.

Aus vielköpfigen Bands wurden über die Jahre vermehrt eher kleine Einheiten mit zwei bis drei Mitgliedern (Soft Cell, Pet Shop Boys). Oder der Band-Begriff wurde mit vermeintlich anonymen Projekten wie Art Of Noise komplett aufgebrochen. Zwar finden sich auch noch eher traditionelle Bands (The Smiths oder Orange Juice etwa), doch auch deren Musik wird zunehmend elektronischer (A Certain Ratio, Scritti Politti). Und der Einfluss schwarzer Musik nimmt auch nicht ab, im Gegenteil, sei es über kulturelle Aneignung (Malcolm McLaren) oder – dann doch lieber – im Original (Cameo). Nicht zu vergessen: Rap und Hip-Hop, hier unter anderem durch Grandmaster Flash & Melle Mel und die Rock Steady Crew vertreten.

Es war also einiges los zwischen 1983 und 1985. Und dann ist da natürlich noch der Sound, der uns wohl am meisten interessiert und das folgende Jahrzehnt prägen wird wie kaum ein anderer. Cybotron (in der Ur-Formation Juan Atkins und Richard Davis) werfen hier ganz selbstbewusst (es ist 1984, verdammt!) gleich die passende Genre-Bezeichnung in den Ring: „Oh-ho Techno City / hope you enjoy your stay / welcome to Techno City / you will never want to go away.” Tim Lorenz

VA – no pare, sigue sigue 2 (TraTraTrax)

Das kolumbianische Label TraTraTrax stellt seit 2020 lateinamerikanische Produzent:innen ins Rampenlicht internationaler Clubs und Festivals. Dabei geholfen haben einige größere Namen wie Nicolá Cruz oder auch Nick León, aber vor allem ist es die ungestüme Aktualität der hier veröffentlichenden Künstler:innen aus Südamerika.

Auf der zweiten Compilation in weniger als 18 Monaten tummeln sich viele Mischungen traditioneller Rhythmen wie Cumbia und Reggaeton, aber auch Tropen aus Techno, Industrial und Breaks wie US-amerikanischem Pop. Was sich nach einem wilden Mix anhört, ist es auch. Am interessantesten dabei ist der Aspekt, dass dieses Label seinen eigenen Kosmos geschaffen (viele vergleichen das mit Hessle Audios Siegeszug durch die Zehnerjahre) und sich auf internationalen Festivalbühnen positioniert hat, ohne dabei Sounds aus UK und US zu kopieren, sondern den angestammten Spielarten elektronischer Musik gehörig Feuer unterm Hintern macht.

Von galoppierendem Industrial-Techno mit verrückten Synthkaskaden („Aló ma”) zu stampfendem Reggaeton mit dem Gewicht von Dubsteps Urvätern („Eleveaton”), zu Halftime-Steppern mit indigenen Instrumenten („HooHooHoo”) – TraTraTrax lässt globale Clubmusik so frisch und vorwärtsgewandt wie noch nie klingen. Die Compilation zeigt das vielleicht spannendste Label unserer Zeit auf der Höhe seiner Schaffenskraft. Leopold Hutter

VA – Optimo 25 Part 1 & 2 (Above Board Projects)

Diese Doppelalbum-Compilation sollte allen DJ-Jungproduzent:innen elektronischer Musik bis 40 Jahre eine Lehre sein. Wer danach immer noch nach Pappe-Metriken klingt, sollte schleunigst aufgeben. Sämtliche der vereinten Musikstile und Dancefloor-Klassiker auf dieser Compilation zeigen wunderbar die Produktionsbedingungen und Aufnahmetechnologien der vergangenen 40 bis 50 Jahre. DJs waren nicht wie heutzutage dafür da, digitale Masterings auf null zu pegeln. Sie mixten die teils sehr unterschiedlichen Frequenzen, Pegel und Musikgenres von ganz verschieden produzierten Platten. Das war die Kunst, denn nichts unterlag einem digitalen Standard oder einem bestimmten Lautstärkepegel.

Das Resultat waren Fehler in den Mixdowns, Wahnsinn und Wonne und weniger gleichmäßige Langeweile auf dem Dancefloor. So treffen flickernd-dreckige, panisch-paranoide Frequenzgänge (Idjut Boys & Laj – „Foolin”) auf endlos warme Flächen (T.J. Lawrence – „Fireplay”) und New-Wave-Kühle der Idolaters („Concentrate On Us”) aufeinander. Klar und prägnant knallt Smokin Cheeba mit „When I Was Young” 2Step-UKG kurz vor Speedgarage mit Rave-Dub-Vocals entspannt vor die Füße. Davor liefert der Altmeister Keith Hudson „Nah Skin Up Dub” tollen Dub Reggae. Nichts wird hingefaket, sondern extrem viel analoges Underground-Dancefloor-Wissen vermittelt.

Im Großen und Ganzen dominiert hier natürlich Disco in all ihren Spielarten (KC Flight – „Voices”). Denn welcher Dancefloor-Sound ist nicht der Disco entlehnt (Faze Action – „Good Lovin”)? Manchmal sind die Tracks etwas zu dumpf (Brainticket – „Places Of Light”), dafür unglaublich fett, rund und psychedelisch. Das war auf dem Underground-Dancefloor eben so. Und gerade das – die zu leisen Höhen – hat auch, um DJ C-Rock zu zitieren, die hypnotischen Momente erzeugt. Ganz am Ende kommt dann der No-Wave-Optimo-Klassiker „Liquid Liquid” aus den späten Siebzigern, von dem JD Twitch und J.G. Wilkes vor 25 Jahren den Titel ihrer Glasgower Sub-Club-Nacht und ihres Labels entlehnten. DJ-Wissen aus den goldenen Jahren der DJ-Kultur! Mirko Hecktor

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