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Dezember 2023: Die essenziellen Alben (Teil 2)

A Mountain Of One – Ricardo Villalobos reimagines: Stars Planets Dust Me (Vicious Charm)

Ricardo Villalobos, kaum jemand weiß das besser als langjährige GROOVE-Leser:innen, ist nicht nur als DJ ein Pionier und Veteran des deepen Minimal-Techno-Dancefloors und international renommierte Afterhourlegende, sondern auch ein überaus produktiver Gestalter entsprechender Tracks im Studio. Über 70 EPs umfasst seine Diskografie, die Zahl der Remixe liegt im mittleren dreistelligen Bereich. Dennoch liegt hier etwas Außergewöhnliches vor: Ricardo Villalobos reimagines: Stars Planets Dust Me ist ein nahezu komplettes Remix-Album des aktuellsten, 2022 erschienenen Longplayers des Londoner Duos A Mountain Of One; sieben seiner Tracks liegen hier, gesehen durch die mittels jahrzehntelanger Cluberfahrung geschärfte und geschliffene Producer-Sonnenbrille des Deutsch-Chilenen, in neuer, freilich epischerer Form vor. Dass die Band um Zeben Jameson und Mo Morris dem Balearic-Revival zuzuordnen ist, stellt für das gesamte Unterfangen eine der bestmöglichen Voraussetzungen dar, das Ergebnis dessen entsprechend glückliche Verwirklichung.

Während Villalobos seine Versionen zunächst recht dicht an den Originalen hält und Jamesons Vocals noch breiten Raum gibt  – wobei gleich der Opener „Star” doch wie ein verschollener Italo-Piano-Disco-Track wirkt –, wechseln mit „Black Apple Pink Apple” Beleuchtung und Fokus der Szene: Sounds treten vor die Stimmen, eine Spiegelkugel rotiert durch nächtliche Trockeneisnebelschwaden, Konturen verflüssigen sich, Zeit wird dehnbar. Kristallines scheint durch Sublimation in Dampf überzugehen (wie in „Dealer”, veritables Space Night-Material), Mikro- und Makrowahrnehmung durchdringen einander (das hypnotisch-psychedelisch flackernde Tribal-Drumming in „Softlanding”). Zweimal bearbeitet wird „Make My Love Grow”, im „Mix Down” ein knapper, Compass-Pointiger Dub, im „Make My Love Groove Remix” eine Rhythm-&-Sound-Gedächtnis-Extension. Harry Schmidt

Harald Uunk – Unseen (Omen Wapta)

Der Wald – musikalischer Sehnsuchtsort und Inspiration für Generationen von Producer:innen. Man denke an den vernebelten Dub-Wust in GAS’ Königsforst oder den langsamen, bedachten Tech-House aus Recondites Hinterland. Auch der in Den Haag ansässige Harald Uunk erschloss sich den Wald musikalisch. Fünf Jahre hat das gedauert, das Resultat goss er in sein nebliges Debütalbum Unseen.

Herausgekommen ist ein Werk, das sein Sujet gleichermaßen als Faszinosum und Morbidität begreift. Possierliche, naive Tiergeräusche wie etwa bei Dominik Eulberg sucht man vergebens. Im Gegenteil: Der Wald selbst ist das Lebewesen, das von seinem Besucher zehrt, und das klingt entsprechend düster. Nicht nur „Drift”, die dritte der satten 18 Nummern, erinnert beispielsweise an den gehetzten Bass-Music-Techno von Forest Drive West. Über die gesamte LP hinweg arbeitet Uunk zudem mit einer Klangsignatur, die holländische Labels wie Nous’klaer oder Delsin mit kultiviert haben. Immerzu schiebt sich Schicht über Schicht, und die Platte hallt so organisch, als würde das Echo der Tracks zwischen den kargen Bäumen hin- und hergeworfen. Soll heißen: Die Produktion ist im besten Sinne plastisch, was der klaren Konzeption noch zuarbeitet. Maximilian Fritz

Roska – Late Nights Early Flights (Roska Kicks & Snares)

Schon der Titel deutet an: Bei Roskas mittlerweile fünftem Album handelt es sich um eine pure Party-Platte. Inspiriert von einer Asien-Tour, während der er in zehn Clubs zwischen China, Indonesien, Singapur und Japan auflegte, bietet die Veröffentlichung acht UKF-Dancefloor-Banger, so trocken wie funky.

Stimmen finden dabei, abgesehen vom emblematischen „Roska Roska Roska”-Vocal und einer UK Funky-Version von Suzanne Vegas legendärem Achtziger-Hit „Tom’s Diner”, so gut wie überhaupt nicht statt. Stattdessen sind alle Tunes stark rhythmusbetont, mit punchenden Kicks, schneidenden Snares und rollenden Percussions. Das alles ist dabei äußerst räumlich produziert, mit viel Luft zwischen den einzelnen Klängen, um sie perfekt zur Geltung zu bringen. Und es swingt wie die Hölle, mit dieser Roska-typischen Atmosphäre zurückgehaltener, mysteriös-mystischer Melancholie, die die darunter brodelnde Euphorie nur schwer im Zaum zu halten vermag. Perfektes Partyalbum. Tim Lorenz

Schaufler vs Schaufler – Schaufler vs Schaufler Part 1 & 2 (Magazine)

Die Schauflers, eine kreative Familie: Der eine superpitcht seit eigentlich immer an Mucke rum und sieht dabei so aus wie eine Mischung aus Bjarne Mädel und Kristoffer Cornils. Der andere malt Bilder, die man nur malen kann, wenn man das studiert hat. Zum Beispiel im sogenannten White Cube – vielleicht der letzte Ort, an dem der Mensch noch Künstler sein darf. Egal ob er zwei Striche auf Papier setzt, sich über der Leinwand erbricht oder seinen Penis in Epoxid taucht, warum und weshalb ist dort so egal wie die 25 Wände Wandtext, die man erst mal lesen muss, um nichts zu verstehen.

Deshalb also schaufler vs. schaufler. Der eine gegen den anderen. Competition macht Freude! Und eine Platte als Soundtrack für die gemeinsame Ausstellung, weil: Heute braucht ja alles einen Vibe, vor allem das Leben, aber eben auch diese Ausstellung, die Jens-Uwe Beyer freundlicherweise ermöglicht hat. Zum Bildergucken bleibt aber keine Zeit, schön, dass ihr alle da seid, vielleicht haben wir uns hier doch im Yogastudio vertan? Ne, die Adresse stimmt. Die Bilder sehen ja auch so aus, als hätte man der Regenbogengruppe das Acid ins Kompott gekippt. Und dann noch dieser Fitness-Müsli-Sound für ausgebrannte Overachiever, die sich Hörbücher von Werner Herzog zum Einschlafen reinziehen. Kann nicht endlich dieser Sammler auftauchen und das alles von der Wand runterkaufen? Christoph Benkeser

Species of Fishes – Some Songs Of A Dumb World (Galaxiid)

Reissue einer Aufnahme aus dem Jahr 1994 des russischen Duos Species Of Fishes. Es ist Some Songs Of A Dumb World anzuhören, dass dieses Album einem anderen psycho-akustischen Raum entspringt als etwa dem Nordosten Amerikas oder Mitteleuropas, von woher zur gleichen Zeit ebenfalls einige Modelle von Musik zum Hören zwischen Electro und Ambient kamen. Sprach-Samples etwa stammen von russischen TV-Moderatoren oder Wissenschaftlerinnen.

Vom einleitenden „takk” an durchzieht das Album eine Grundhärte, die sich aus Industrial-Sounds ebenso generiert wie aus einem kubistischen Sounddesign, hohen Aufnahmepegeln und dem Gebrauch von simplen Echo- und Delay-Effekten. So gibt es in „sh sh sh” eine liebliche Synthesizer-Gitarre in Girlandenform, die sich jedoch herumschlagen muss mit hysterischem Lachen, in die Fläche gestreuten Alt-Flöten und krassen Electro-Kickdrums und -Bässen. Ähnliche Konfrontationen von Süß mit Sauer und Krass gibt es etwa auf „yamal” („pt. 1” und „pt. 2”) oder „sh”. Mitunter, wie in „t”, ist auch noch ein Nachhall des frühen Acid House jener Jahre zu hören.
So entsteht beim Hören eine wundersame Fantasie, die ab und an schnelle Breakbeats durchlaufen, wie in „salmon hunting” oder „operators pt. 2”. Sie klingt erstaunlich aktuell und verschönert jeden, vor allem abendlichen, Alltag, indem sie ihm neue Facetten abgewinnen kann. Christoph Braun

Wallace – Red, Yellow, Black (Mule Musiq)

Eigentlich klingt der Name Wallace nach jemandem, den es irgendwie immer schon gab. Dabei hatte der schottische Produzent Jimmy Wallace bisher gerade mal drei EPs draußen, auf Labels wie Rhythm Section oder Studio Barnhus. Er war zudem fünf Jahre im Clubgeschäft, bevor er dazu überging, selbst Musik zu machen und sein eigenes Label Tartan zu starten.

Während er auf seinen EPs einen House-Stil pflegt, der die größeren Tanzflächen zu beschallen geeignet ist, nimmt er sich auf seinem Debütalbum stärker zurück. So kombiniert er in „Labyrinth” unauffällig einen geraden Viererbeat mit Jazzswing, legt in „DHQ” fließende Marimbaklänge und Kinderstimmen über reduzierte Breakbeats. Das Album beschreibt in seinem Verlauf einen Bogen, langsam beginnend, sich zur Mitte hin zu einem etwas fester angezogenen Groove steigernd und am Ende ausklingend mit Vogelstimmen-Field-Recordings und sanften Keyboardmelodiesprengseln, die an das Kraut-Duo Cluster in seiner pastoralen Phase erinnern.

Das mag alles nicht revolutionär sein, dafür wählt Wallace seine Sounds stets mit Bedacht, der Flow der Tracks stimmt, überhaupt klingt Red, Yellow, Black einfach gut. Der Titel seiner Platte nennt übrigens die drei Farben des Wallace Tartan, was auch dem Muster des Kilts entspricht, in dem er sich auf Pressefotos ablichten lässt. Wer weiß, vielleicht gehört er ja selbst zum hinter dieser Farbkombination stehenden Clan Wallace. Vom Namen her würde es passen. Tim Caspar Boehme

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