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Die Platten der Woche mit French II & Bastian Benjamin, His Master’s Voice, Polygonia, Second Storey und Verraco

French II & Bastian Benjamin – End of Line (Nerve Collect)  

Basslinien: Die beiden niederländischen Produzenten French II und Bastian Benjamin teilen sich mit End of Line eine EP, die fast schon Albumlänge erreicht. Sie teilen die Arbeit dabei unterschiedlich auf. Die erste Hälfte wechseln sie einander mit den Tracks ab, in der zweiten folgt gemeinsam Produziertes. Bassmusik bildet den Kosmos, den sie auf ihre Weise erkunden. Bastian Benjamin verlässt sich in seiner Post-Dubstep-Forschung auf den Einsatz modularer Synthesizer, French II konzentriert sich in seinem reduzierten Ansatz vor allem auf verfeinerte Breakbeat-Modifikationen. Gemeinsam einigen sie sich auf einen schlank treibenden Groove, der gleichermaßen Bassmusik und Techno nutzt. Beim abschließenden „Pain and Pleasure” dann zeitgemäß mit erhöhter Beatzahl. Können sie alles ziemlich gut. Tim Caspar Boehme

His Master’s Voice – Wir Sind Alle Ungleich (Kuratorium) 

Verzerrung dient der Unkenntlichmachung, das kennt man von Erpressungsanrufen aus dem Fernsehen. Bei His Master’s Voice ist sie vielmehr Distinktionsmerkmal. Das noisy Klangbild wird von einer schleppenden Kick untermauert und obenrum von einer zackigen Hi-Hat zusammengetackert, dazwischen lassen die verzerrten Synthies wenig Raum im Frequenzspektrum. „Circles” greift tief in die Trick-, respektive Effekt-Kiste und flangert ordentlich los, „Golo The Demon” bringt etwas mehr Drive in die Schaltkreise und „Thunderdome OG Flynt” gräbt ein Vocal aus dem 20 Jahre alten Tocadisco Track „Nobody (Likes The Records That I Play)” aus. Ja, warum eigentlich? Hier präsentiert sich das Sample als dämonischer Wiedergänger im Stile von Aphex Twins „Come To Daddy” und geht damit viel besser rein als der naive Gute-Laune-Electro des Originals. Es sind eben die kleinen Unterschiede die einzigartig machen, das verdeutlichen auch die Illustrationen auf dem Cover. Wir sind alle ungleich und das ist gut so. Philipp Gschwendtner

Polygonia – Otro Mundo (Bambe) 

Das ist nicht zu viel versprochen: Mit ihrer EP Otro Mundo begibt sich die Münchner Produzentin Lindsey Wang alias Polygonia allemal in eine andere Welt. Ein Geflecht aus Stimmen und kaum zu durchdringenden Patterns treibt mühelos, doch mit steter Kraft im Titeltrack voran, man könnte sich mit dem Körper dazu bewegen, mitgezogen ist man so oder so. Hinterher hat man gar nicht gemerkt, dass fast sieben Minuten vergangen sind. Geradliniger der Einstieg bei „Mind Alteration”, dessen stoische Kickdrum nach und nach in einen polyrhythmischen Strudel aus diversen perkussiven Sounds hineingerät, der gut zum Stil von Kollege Bambounou passt, auf dessen Label Bambe die Platte erscheint. Ähnlich bewusstseinsverändernd der Sog in „Implosion of the Known”, bei dem die dauermutierenden Knarzfrequenzen wie durch Granularsynthese erzeugt klingen. Alles sehr feingliedrig gebaut, ohne dass es demonstrativ angestrengt wirkt. Sondern vielmehr kraftvoll leicht. Tim Caspar Boehme

Second Storey – Disrupted Dialect (Mechatronica) 

Seit er um 2013 herum seinen Nome de Guerre von Al Tourettes zu Second Storey änderte, ist Alec Storey auf einer Reise, deren Ziel es zu sein scheint, Electro wieder als das futuristischste Tanzmusik-Genre zu etablieren. Dabei ist seine Route geradlinig, die Musik eher nicht – im Gegenteil. Gebrochen, abgebogen, Schlenker gefahren werden hier an jeder Ecke. Nur eines tut Storey sicherlich nie: Umkehren. Die Reise geht straight nach vorne, in die Zukunft. Im Grunde ist sie da schon angekommen. 

Eckig sind dann auch die Beats, die klingen, als wären sie von Androiden für ihresgleichen entworfen worden. Die einen in kubistischen Tanz-Bewegungen über den Dancefloor grooven lassen. Roboterhaft auch die kühl – jedoch nicht kalt – klirrenden, glänzend verchromten Klänge der Soundpalette. Wen wundert’s – ein Rädchen greift hier natürlich perfekt ins andere. Doch bevor nun jemand denkt: Klingt ja eher anstrengend, wie Musik, die man sich wie ein abstraktes Gemälde erst erarbeiten muss: Mitnichten! This shit is hot! Versprüht Funkyness in rasend-riesigem Funkenregen. Stehenbleiben ist auf dieser Autobahn, die vom Düsseldorfer Kling-Klang-Studio über Detroits Autofabriken und New Dance Shows, vorbei an britischen Electronica-Schafweiden direkt ins Gehirn des Zuhörers führt, sicherlich nicht. Tim Lorenz

Verraco – Escándaloo (Voam) 

Gar nicht so einfach auseinander zu klamüsern, was Verraco hier macht. Aber ich kann vorwegnehmen, dass die auf Voam (dem Label von Blawan und Pariah) erscheinende EP Escándaloo zum Aufregendsten gehört, was man in diesem Spätsommer auf den Tanzflächen hören kann. Grob gesagt ist die Musik ein Hybrid aus lateinamerikanischer Rhythmik mit Anleihen bei Reggaeton und Dembow und technoiden Momenten des alten Kontinents. Im Detail wird es dann schon schwieriger, denn die drei Tracks sind doch sehr unterschiedlich. Sie halten es mal eher mit verschlungenen Breakbeats („Escándaloo”), mal eher mit hinkendem Dubstep („Jajaja”), mal eher mit euphorischem Rave („How Is This Even Possible?”). Eher, weil sich die Tracks nicht in Schablonen pressen lassen. Sie widersetzen sich geradezu. Doch während Verraco auf seinem Debütalbum Grial von 2020 die Dekonstruktion als Mittel wählte, um gängigen Stereotypen etwas entgegenzusetzen (Verracos Musik kann durchaus auch politisch gelesen werden), wählt er auf Escándaloo einen konstruktiven Ansatz. Alles ist erlaubt, alles steht gleichberechtigt nebeneinander, ohne das andere zu zerstören. So werden Zusammenhänge geschaffen, Gemeinsamkeiten musikalisch betont, die vorher nicht sichtbar waren. Ein visionärer Wurf. Sebastian Hinz

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