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April 2023: Die essenziellen Alben (Teil 3)

Octave One – Never On Sunday (430 West)

Octave One sind seit über drei Jahrzehnten Techno-Geschichte. Die neueste Veröffentlichung Never On A Sunday ist ein weiterer Beweis für das Können der Burden-Zwillinge. 2021 kam die Vinylscheibe Contemplate EP heraus, auf deren Tracks das Album rekurriert. Und das klingt über weite Strecken wie Betroffenheits-Pop. Bessere Nummern gibt es allerdings auch, das sind die neuen Nu-Balearic-Cosmic-Add-Ons, selbst wenn das Album harmonisch ungebrochen nicht an die freshen, einstigen Detroit-Balearic-Techno-Hits wie „Burujha” herankommt. Dessen soundtechnischer Scope ist natürlich monströs fett, irgendwie klingen hingegen viele der Tracks auf Never On A Sunday nach AI und DAW.

Die alte, spannende, gut dreckige, analoge Detroiter Looseness ist nur noch in wenigen Tracks des Albums erkennbar („The Bearer” im Orbital- und P41-Remix). Dafür gibt es metrische Euro Disco in der noch metrischeren, nordamerikanischen EDM-Version („The Bearer BB Edit”). Wollen die Zwillinge mit ihrem Alterswerk echt noch einmal zurück in den UK-Mainstream, in dem sie mit Hits wie „Blackwater” reüssierten? Nein. „Mental Forest” etwa blubbert traumhaft, oldschoolig, IDM-mäßig im Breakbeat-Land ohne Breaks. Es ist ein herrlich unentschlossenes Album im Irgendwo. Ehrlich gesagt: Wäre es nicht Octave One, ich fänd’s richtig scheiße. Achtung, Überinterpretation: Es ist schon ziemlich cool, derart auf seine frühere Sound-Signatur und Legacy zu pissen – auch sehr detroit. Mirko Hecktor

Horbeispiele findet ihr in den einschlägigen Stores.

Panta Rex – V (Noorden)

Das Kölner Label Noorden versucht seit Jahren, eine Nische für vorwärtsgewandte, oft auch etwas abseitige Dance- und Electronica-Musik im lokalen Raum der Domstadt zu füllen. Der Künstler Panta Rex hat dazu bereits zwei EPs und ein Album beigetragen, nun erscheint sein zweiter Longplayer auf Kassette.

Dabei geht es zunächst genügsam los, mit Glockenspiel und zurückhaltender, aus Field Recordings gesampleter Percussion wird eine jenseitige, elektronisch-düstere Stimmung aufgemacht. Nachdem sich Synths und Bassdrum im zweiten Stück langsam einmischen dürfen, geht das Album doch merklich in Richtung Techno. Zwar bleibt es experimentell, mit Mut zu langen Breakdowns oder ungewöhnlichen Samples, doch der geradlinige Takt regiert und erinnert in seinem stoischen Auftreten manchmal doch an den klassischen Sound of Cologne der Zweitausender.

Wo Panta Rex allerdings scheint, da glänzt die druckvolle und effektiv abgemischte Produktion, die auf ungewöhnliche Art und Weise Elemente aus House und Techno zusammenspielen lässt, um dank unorthodoxer Sounds und analoger Maschinen einen sehr eigenartigen Stil zu kreieren. Zu straight, um als Songs durchzugehen, zu speziell, um als DJ-Tool zu funktionieren. Ein ganz persönlicher Entwurf zum Dance-Kanon eben, der auch viele Momente der Ruhe und Innenschau bietet, um am Ende ein ganz eigenes Gefühl zu hinterlassen. Leopold Hutter

Ron Morelli – Heart Stopper (L.I.E.S.)

Als Ron Morelli vor gut zehn Jahren mit seinem Label L.I.E.S. einer Reihe von jungen und ungestümen Produzent:innen eine Plattform bot und sich ein Hype um deren rohen Sound entwickelte, war oft von Outsider House die Rede. Richtiger wäre es wohl gewesen, die Sache „oldschool” zu nennen. Auch Morellis Album Heart Stopper ist einer Soundästhetik verpflichtet, die deutlich von Ron Hardys Reel-to-Reel-Experimenten und frühen Trax-Klassikern inspiriert wurde. Der erste Track heißt wohl nicht ohne Grund „House Music Revenge” in Anspielung auf einen ikonischen Frankie-Knuckles-Ausspruch, dem zufolge House die Rache von Disco gewesen sei.

Heart Stopper balanciert dementsprechend zwischen analoger Wärme und waviger Kälte, zwischen hartem Gejacke und soften Sounds. Morelli dröselt die Einflussnahme von Italo Disco, Synth Britannia und Industrial auf den frühen House-Sound auf, ohne diese eher düsteren Elemente der Beseeltheit der alten Schule komplett zu opfern. Der Titeltrack, „Tangled Trap of Love” und „Time Stands Still” sind von lichten Tönen durchzogen, egal wie sehr das rhythmische Grundgerüst auch rumpeln mag.

Das macht das Album auf zweierlei Art zu einem ambivalenten: Euphorie und Melancholie mischen sich auf ihm genauso, wie sein Eklektizismus einer reinen und ursprünglichen Lehre verschrieben ist. Lässt sich wohl von einem progressiven Konservatismus sprechen? Radikaler Nostalgie? So oder so: Toll klingt es allemal. Kristoffer Cornils

Rupert Marnie – Evocative Rhythm Experience (The Press Group)

Dieses Doppelalbum startet mit einem beatlosen Stück, das anfangs an die Zusammenarbeit von Brian Eno mit Robert Fripp erinnert, dann zunehmend vielschichtiger und basslastiger wird. Der Track gibt die Richtung für die A- und B-Seite vor, die komplett sehr gelungenen, ruhigeren Stücken vorbehalten sind. Zwar pulsiert ab und zu ein Element und lässt so etwas wie einen Groove entstehen, es dominieren jedoch Flächen, Synthesizer und stark bearbeitete Field Recordings, während klassische Drums nicht zum Einsatz kommen.

Diese wiederum haben ihren exponierten Auftritt auf Seite drei und vier, die dort versammelten acht Tracks bestehen fast ausschließlich aus Drumsounds und rhythmischen Elementen. Dazu kommen mal verhallte, Industrial-artige Schläge, mal subtiles Rauschen und verfremdete Stimmen. Oder auch vorsichtig dosierte Synthie-Sequenzen, Chords und Bässe, die die Beats eigentlich schon zu kompletten Tracks werden lassen – zumindest zu perfektem DJ-Futter in Tradition der großen Little Helpers-Reihe von Butane und dem verstorbenen Someone Else.

Womit diese Rezension einen wesentlichen Aspekt des Albums berührt: Das Doppel-Vinyl schreit natürlich danach, die Ambient- über die Beat-Tracks zu legen und dabei Neues entstehen zu lassen – am besten mit vier Playern. Die Grooves bewegen sich überwiegend im „geraden” Feld mit eher technoider als housiger Tendenz, dazu kommen zwei Tracks mit Electro-Breakbeats und entsprechenden Ergänzungs-Sounds. Viel Bandbreite und jede Menge Klangfutter für ein unterhaltsames und vor allem kreatives Set. Mathias Schaffhäuser

The Creative Technology Consortium – Panoramic Coloursound (Dark Entries)

Zur Feier der 300. Katalognummer erscheint ein opulentes Triple-LP-Paket von The Creative Technology Consortium auf San Franciscos Disco-Wave-Schmiede Dark Entries. Panoramic Coloursound ist das Debüt eines neuen Trios, das sich in der Pandemiezeit gefunden hat, wobei Melvin Oliphant III alias Traxx gewissermaßen das verbindende Element des Producer-Kleeblatts darstellt: Mit Jason Letkiewicz (und Beau Wanzer) hat die Chicago-Legende als Mutant Beat Dance veröffentlicht, mit Andrew Bisenius unter dem Namen An Anomaly.

Auf Panoramic Coloursound leben sie ihr gemeinsames Faible für Film- und TV-Scores der Achtziger (und Neunziger) aus. Eine Liste des opulenten Analog- und Digital-Synthesizer-Maschinenparks liegt der Vinylveröffentlichung als Postkarte bei, entsprechend mannigfaltig wird die Neonklangfarbenpalette aufgefächert. Viele der Charakterstücke wirken skizzenhaft und gejammt, manche wie „Far From Amateur” auch ein wenig übersättigt. Aus der Menge des dennoch überdurchschnittlichen Longplayers – die 25 Tracks summieren sich auf eine Spieldauer von immerhin knapp zwei Stunden – sticht der nervöse, nächtlich-urbane Drive von „Complicity In The City” heraus, ebenso die sinistre Carpenter-Stimmung im bedrohlichen Andante „Confrontation”, der programmatisch betitelte Opener „A Retro Vice” und „Undercover Heist” zum Ausklang. Harry Schmidt

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