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März 2023: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Burnt Friedman – Hexenschuss (Extended Versions) (Nonplace) 

Bei Bernd Friedmann alias Burnt Friedman gibt es einiges zu lernen. Auf dem Cover seines jüngsten Albums etwa sind die indischen Andamaner in Gesellschaft eines mutmaßlich deutschen Ethnologen zu sehen. Die Urbewohner der Andaman-Inseln lebten Tausende von Jahren ohne äußere Einflüsse, bis dort britische Kolonien entstanden, was, insbesondere durch eingeschleppte Krankheiten, dazu führte, dass sie beinahe ausstarben. Heute gibt es von ihnen noch einige Hundert.

Was das mit der Platte Hexenschuss zu tun hat? Burnt Friedman hat über die Jahre mit seinen Secret Rhythms eine ethnische Musik ohne Ort entwickelt, deren Grundlage „krumme Rhythmen” bilden. Ihre polyrhythmische Basis ist eine Abstraktion der spezifischen Grooves unterschiedlicher Regionen, der Versuch, etwas ihnen Gemeinsames herauszuarbeiten. Friedmanns Ziel ist ein Groove, der sich von lokalen Bedingungen jeglicher Art löst, allen voran der gerade Viererbeat in der hiesigen Clubmusik. Einen Zustand von Trance kann man mit diesen dichten, polyrhythmischen, virtuellen Ethno-Dubs durchaus erreichen, Tanzen ist mithin eine reale Option, theoretisch an jedem Ort dieser Welt. Vielleicht auch auf den Andaman-Inseln. Tim Caspar Boehme

Burnt Friedman – Hexenschuss (Extended Versions) (Nonplace)

De Ambassade – The Fool (Optimo Music)

De Ambassade, der holländische Anrufbeantworter von Joy Division, schwappt mit einer Coldwave an die Nordseeküste von Optimo Music. Man checkt nach drei Sekunden, dass das nix mit Sommer, Sonne und Strandkorb wird. Pascal Pinkert, der Ambassador von De Ambassade, denkt nicht umsonst über das Leben und seine Abgründe nach. Er befolgt damit die alte Tatort-Weisheit: Wenn’s nicht lustig wird, bleibt’s traurig.

The Fool gibt sich deshalb gar keine Mühe, gegen die Gesamtscheiße anzukämpfen. Von den ersten Synthesizer-Sirenen bis zum letzten verschrammelten Seufzen: ein Lamento, das die Randale sucht, aber den Rausch wählt. Dazwischen knarzen Stimmen-Schnipsel, als hätte der Wu-Tang Clan einen Kung-Fu-Kurs für niederländische Ninjas abgehalten. Die zerschnipseln wie auf „Oh Light, Oh Flame” kurz die Wolkendecke, tauschen aber bald wieder Säbel gegen Sehnsucht – auf „De Dwaas” setzt man sogar kurz auf die schottischen Highlands über, um den Dudelsack-Trail nach Frühlings-Vibes abzutrampeln. Zappelfipsis springen danach rum, während sie versuchen, „Verwijder Jezelf” auszusprechen. Dazu grinst der Geist von Ian Curtis. Gscheid schön! Christoph Benkeser

De Ambassade – The Fool (Optimo Music)

DJ Girl – Hellworld (Planet Mu)

Bei Planet Mu haben sie beim Frühjahrsputz einen vergessenen Footwork-Bänger gefunden. Wäre eine super Geschichte, stimmt aber nicht: DJ Girls Hellworld zündelt nämlich an der Gegenwarts-Jukebox. Die in Detroit geborene und Austin ansässige Producerin gibt außerdem eine fette Kick auf die Vergangenheit. Sie versucht deshalb gar nicht erst, ihre Motorcity-Einflüsse wegzuschrubben.

Das Sag-niemals-Ghetto-Geböller zwischen „Get Down” und „Gallery” könnte so als Planet-Muh-Muh aus den early 2000s durchgehen (Hellfish wirft schon mal die Meat Machine an). Gleichzeitig schleifen Nummern wie „So Hot” zum Acid-Revival an den Sägezähnen, bis die Kuhglöcklein bimmeln. Dass das Erbe von SOPHIE für „When U Touch Me” mindestens einen Kaugummiautomaten knackt, lässt die ganz Gscheiden auf „Groover” (yeah!) nochmal in die Steckdose stochern. Wer danach nicht breitbeinig in Cowboystiefeln die „Old Town Road” entlangmarschiert, versucht sich immer noch am Footwork von Rashad. Christoph Benkeser

DJ Girl – Hellworld (Planet Mu)

Doc Sleep – Birds (in my mind anyway) (Tartelet)

In ihren DJ-Sets spielt Melissa Maristuen alias Doc Sleep gerne Tracks, die vom konventionellen Four-To-The-Floor-Rhythmus abweichen. Ihre Produktionen rumoren für gewöhnlich, verschränken, einer upsammy nicht unähnlich, Rurales und Urbanes. So etwa Your Ruling Planet von 2019. Auf ihrem Debütalbum, das sich nicht nur im Titel, sondern auch klanglich dem Naturalismus annähert, übersetzt sie diesen Hang zum Verworrenen in dubbige, bassige Tracks, die sich etwas ruhiger ausnehmen als gewohnt. Keine unübliche Praxis für Producer:innen, die ihren musikalischen Ansatz vom Dancefloor weg ins Albumformat übertragen. Allein: Bei Doc Sleep gelingt das besser als bei vielen Kolleg:innen.

Sehr lange Spaziergänge durch den Plänterwald und den Treptower Park hätten Birds (in my mind anyway) beeinflusst; Impressionen aus dem Grünen wurden – klar, gängige Praxis – in elektronische Musik übersetzt. Wo etwa Dominik Eulberg träumerischen Tech-House aus Meisenknödeln destilliert, entsteht bei Doc Sleep Überwältigendes und Schönes. „Tomorrow Is Beautiful!” mit Glenn Astro setzt auf taktiles Ambient-Geklimper, „Flooding Meadow” vollzieht mit presslufthammerartigen Kicks einen Stimmungswechsel, der Bass Music mit dem übermenschlichen Potenzial der Natur auflädt. Mit den leicht unheimlichen Kinderstimmen in „Polymer Bloom” und den verhallten, sphärischen Chords in „C&L At The Sea” wandelt Maristuen relativ offensichtlich auf den Spuren von Boards Of Canada, spielt auf ihrem Debütalbum also alle Aggregatzustände des psychedelischen Chillouts durch. Maximilian Fritz

Doc Sleep – Birds (in my mind anyway) (Tartelet)

I:Cube – Eye Cube (Versatile)

I:Cubes neues Album nach zehnjähriger LP-Auszeit von diesem Künstlernamen unterscheidet sich recht deutlich von seinen Vorgängern. Allerdings trifft das auf fast jeden Longplayer dieses Projekts zu, der Franzose hat sich in seiner langen Karriere noch nie auf einen Stil festgelegt, Kohärenz ist definitiv nicht sein Hauptanliegen, und das setzt sich auf Eye Cube auch auf produktionstechnischem Level fort. Das Album entstand nicht am Rechner, sondern fast gänzlich beim Jammen mit Hardware. Nachbearbeitet wurde laut Infotext nur wenig, es ging I:Cube um den Moment, und nicht um die „formelhaften Strukturen der Tanzmusik”.

Das Ergebnis ist trotzdem immer dann am besten, wenn Beats im Spiel sind, vor allem der Track „Vantablue” überträgt die Energie und Spielfreude der Aufnahmesituation spürbar. Toll, wie sich aus seinem ambienten Beginn ein eher rockiger Beat entwickelt und in der Folge eine interessante Verbindung zwischen Electro und Krautrock entsteht. In „0-0-01-48” legt I:Cube ausgiebig Synthie-Schlieren und Noises über einen synthetischen Tom-Tom-Beat, der in aufgeschlossenen Techno-Sets bestens funktionieren wird. „La Grotte aux Fées” und „Kaszio Plus 1” wecken dann Erinnerungen an psychedelische Sechziger-Jahre-Soundtracks und Mort Garsons Pioniertaten auf diesem Feld. Den restlichen Stücken hört man den Jam-Charakter eher nicht an, im Plattenladen würden sie ins Ambient-Fach einsortiert. So erweist sich einmal mehr, dass Produktionsweise und Equipment letztlich sekundär für das Ergebnis sind – am Ende geht es immer um die Idee. Mathias Schaffhäuser

I:Cube – Eye Cube (Versatile)

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