Teil 1 der essenziellen Alben aus dem Februar findet ihr hier.
John Frusciante – . I : / : II . (Acid Test)
Dass John Frusciante, neben der Arbeit mit seiner Band Red Hot Chili Peppers, eine hohe Affinität zu elektronischer Musik hat, ist lang nun schon kein Geheimnis mehr. Gemeinsam mit Venetian Snares fabriziert er Breakcore-lastige Electronica an der Grenze zum Wahnsinn, als Trickfinger ist er solo unterwegs, mit sehr Roland-zentrierten Tracks im Stil des frühen Aphex Twin.
Laut Interviews hält er Drum’n’Bass für die beste und futuristischste Musik des Universums und mit seiner Freundin, DJ Aura T-09, betreibt er das Label Evar und veranstaltet auch Jungle-Partys im Raum L.A. Auch unter seinem bürgerlichen Namen veröffentlichte Frusciante schon Platten, diese waren bisher eher Krautrock-inspiriert. Er ist zudem großer Fan von Neu!-Gitarrist Michael Rother. Legendär das Peppers-Konzert in Hamburg, nach dessen Ende Frusciante und Rother noch zwei Stunden zusammen auf der Bühne jammten: sicherlich nicht das, wofür der gewöhnliche Fan gekommen war.
Nun, Krautrock im engsten Sinne ist diese neue Platte auch (. I : und : II . sind fast identisch, . I : die Vinyl-Version, : II . die doppelt so lange CD), in der Ausführung jedoch vollkommen beatloser Ambient. Musik, die sowohl kühl und futuristisch klingt als auch tief beruhigend wirkt. Tracks, die hauptsächlich aus nur einem Ton bestehen, um den herum die Zuhörerin kreist, ihn aus allen Perspektiven wahrnimmt. Musik sozusagen eher als architektonisches Konstrukt denn als Chronologie, als Geschichte, die erzählt wird. Oder wie Frusciante es selbst beschreibt: Musik, die eher das Sein reflektiert als das Tun. Spannend, wenn man sich darauf einlässt. Tim Lorenz
Kassem Mosse – Workshop 32 (Workshop)
Neues aus der Werkstatt. Und wie es scheint, wurde dort ein bisschen aufgeräumt. Bei Gunnar Wendel alias Kassem Mosse herrscht andererseits eigentlich immer Ordnung. Doch zeigt sich die beim Leipziger Produzenten mitunter in anderer Form als durch penibel abgezirkelte Arrangements, wie man sie im House schon mal vorfinden kann. War sein erstes Workshop-Album, Workshop 19, noch von vollendeter Rumpeligkeit, mit fiepig-verhangenen Synthesizern, hat er ein paar Platten und fast zehn Jahre später, auf Workshop 32, den Überblick ein wenig erleichtert. Transparenter wirken seine Produktionen jetzt, die Rhythmen rasseln vereinzelt zwar noch mit deutlicher Seitenlage über die Tonspuren, aber diesmal haben Beats und Sounds bei aller Komplexität eine merkliche Klarheit.
Das geht hin bis zu Techno-Studien wie „B1”, in der Kassem Mosse sich seinen eigenen Reim auf Jeff Mills’ heroische Tage in den frühen Neunzigern zu machen scheint. Andere Tracks wie „C1” geben sich in ihrem Ansatz abstrakter, skelettierter, überhaupt ist fast in allen Fällen die Beschränkung bei den Dingen, die gleichzeitig geschehen, als verbindender Ansatz herauszuhören. Nicht immer schreit das nach Tanzen, wobei man manchen Nummern einfach ein bisschen Zeit lassen muss. Im Zweifel geht es dann erst im letzten Viertel zur Sache. Und das tut es. Tim Caspar Boehme
Kelela – Raven (Warp)
Kelela war schon immer eine der stärksten Stimmen an der Grenze zwischen vorwärtsgewandter Tanzmusik und klassischem R’n’B. Nach ihrem Debüt bei Fade To Mind ist die Amerikanerin schon lange bei Warp Records zuhause. Zu dessen 30-jährigem Bestehen nahm sie das Mixtape Aquaphoria auf, das vieles aus dem Warp-Katalog mit ihren Vocals in ein neues Licht rückte.
Ähnlich fühlt sich Raven an, das mit dem Thema Wasser spielt und ihm verschiedene Zuschreibungen entlockt, aber auch persönlich eine tiefere Message enthält. Als schwarze Frau habe sie sich schon immer als Außenseiterin in der Dance Music gefühlt, so Kelela, trotz der schwarzen Wurzeln des Genres. Dieses Album stellt für sie eine Bestärkung der weiblichen, schwarzen Perspektive dar, die Verwundbarkeit in Kraft umwandeln will.
Unterstützung hat sie sich dabei bei Produzenten wie LSDXOXO, Kaytranada und Asmara geholt. Aber auch unbekanntere Künstler:innen wie das Ambient-Duo Yo van Lenz und die Dancehall-Produzentin Bambii aus Toronto sind vertreten. Bei aller Dancefloor-Affinität klingt Raven aber doch mehr nach Ambient als nach Club. Kelela verleiht dem Aufbegehren gegen überholte Machtstrukturen eine Stimme, die sowohl Stärke als auch subtile Eleganz in sich vereint. In einem Moment handelt das von Sinnlichkeit, dann wieder von denen, die ihren Wert nicht schätzen können, oder von der Wichtigkeit des Zusammenkommens.
Bei aller lyrischer Finesse überzeugt Kelela aber vor allem durch ihre einzigartige Verschmelzung von R&B und Elektronik, die so gut vielleicht noch niemand vor ihr gemeistert hat. Leopold Hutter
Khotin – Release Spirit (Ghostly International)
Der kanadische Produzent Khotin veröffentlicht mit Release Spirit ein verträumtes Album ganz im Stil älterer Werke wie New Tab oder Beautiful You.
Feinfühlig arrangiert, surren die Melodien herum, wobei Vocalschnipsel neue Sinnzusammenhänge herstellen und langsame Breaks rhythmische Nuancen hinzufügen.
Release Spirit ist ein Gesamtkunstwerk, in dem sich die Tracks nahtlos aneinanderfügen und eintauchen lassen in eine Welt zwischen Traum und Realität. Dabei entsteht eine einzigartige Atmosphäre, die der spielerische Einsatz von bearbeiteten Field Recordings, verschrobenen Piano-Sounds, 303-Acid-Fragmenten und synthetisierten Klangflächen hervorruft.
Mit dieser Veröffentlichung gelingt es Khotin erneut, ein Album mit Tiefgang zu produzieren, ummantelt von einem beim ersten Hören kindlich-naiv anmutenden Sound. Unbedingte Hörempfehlung für alle, die abends, kurz vor dem Schlafengehen, noch im Wachzustand mit dem Träumen beginnen wollen. Vincent Frisch
Loscil & Lawrence English – Colours Of Air (Kranky)
Scott Morgan alias Loscil und Lawrence English überbrücken die nicht unerhebliche Distanz zwischen Kanada (Morgan) und Australien (English) mit Colours Of Air auf beeindruckend homogene Weise. Was nicht weiter überrascht, wenn man sich vor Augen führt, dass beide seit vielen Jahren für ähnlich kontemplative und zugleich emotionale Ambient-Sounds stehen und in verschiedenen anderen Kunstzweigen aktiv sind.
Auf dem ersten gemeinsamen Album der beiden dienen Orgelsounds als Grundlage, die im historischen Old Museum in Brisbane aufgenommen wurden und durch sukzessives Post-Processing in elektroakustische Ambient-Stücke transformiert wurden. Dass die Kombination aus Orgel und Ambient zu wunderbar innovativen Kompositionen führen kann, hat im letzten Jahr schon der großartige Maxime Denuc mit dem fantastischen Album Nachthorn gezeigt, und auch hier verschmelzen organische Sounds zu epischen Drones, Flächen und melodiösem Ambient, denen von der pulsierenden Mechanik des Ausgangsinstruments viel Leben und Dynamik eingehaucht wird. Die entlang der synästhetischen Klangfarben betitelten Stücke erinnern auch mal an Chain Reaction („Cyan”) und bringen nur in seltenen Fällen („Pink”) sehr direkt die Ursprünge des organischen Ausgangsmaterials zu Tage. Eine wunderbare Symbiose, sowohl zweier großartiger Künstler als auch verschiedener Sounds und Kunstformen. Stefan Dietze