Den zweiten Teil der essenziellen Alben aus dem April findet ihr hier, den dritten hier.
Barker – Stochastic Drift (Smalltown Supersound)
Für sein zweites Soloalbum hat der Produzent Sam Barker alias Barker einigen konzeptionellen Aufwand betrieben. Das fängt beim Plattentitel an, der aus der Wahrscheinlichkeitsrechnung stammt. Einzelne Tracks verneigen sich zudem vor der Hochphase des Diskurstechno, insbesondere „Difference and Repetition”, der ein Buch des Philosophen Gilles Deleuze im Namen führt.
Die Musik selbst trägt dem begrifflichen Rüstzeug mit einer dauerbewegten Betriebsamkeit Rechnung, die zunächst noch an die computerbasierten Rhythmusmanipulationen von Künstlern wie SND erinnert, dabei aber von Anfang an mit klassischen Elementen wie Melodie, Bass und Harmonien ausgestattet ist. Diese sind bei Barker nie fix, sondern verschieben sich auf die eine oder andere Weise. Einiges schwebt vor sich hin wie Ambient, doch meistens fügt Barker einen Beat hinzu, selbst wenn der nie so recht für Tanzzwecke gedacht scheint. Eine prominente Rolle in der Produktion nehmen dafür mechanische Instrumente ein, die auf der Platte zum Einsatz kommen. Beim abschließenden Titeltrack angelangt, klingt das wie ein Jam mit einem Roboterschlagzeuger, über dessen eckige Akzente sich irgendwann ein Vangelis-artiges Synthesizersolo legt.
Handwerklich, wenn man so möchte, ist Stochastic Drift makellos, doch die Ergebnisse haben zugleich eine womöglich dem Perfektionismus geschuldete Sterilität, was keinesfalls unangenehm anzuhören ist, aber dennoch leicht auf Abstand zur Musik hält. Tim Caspar Boehme

Ceephax Acid Crew – Slam Zone (Waltzer)
Seit 27 Jahren veröffentlicht Andy Jenkinson alias Ceephax Acid Crew schon Musik, die auf die eine oder andere Weise der Genrebezeichnung in seinem Projektnamen gerecht wird. Sein jüngstes Album Slam Zone spielt das in diversen Variationen durch. Von Bleep Acid („Dr. Caboose”) über Tech-House-Acid mit Breakbeats („Acid Cruise”) bis hin zu Trance-Acid („Slamuel Blepys”) reicht das Angebot. Wie der Plattentitel suggeriert, sollen die Tracks in erster Linie knallen, und Jenkinson ist die Lust am Verwursten einiger Jahrzehnte Ravegeschichte hörbar anzumerken. Das Ganze ist mehr eine energische Feier von Tanztraditionen als zukunftsorientierte Clubmusikforschung. Muss ja auch nicht immer um morgen gehen. Jenkinsons grimmiger Humor sorgt zudem für einige schöne Quatschmomente. Auf Dauer hat die Beats-mit-dem-Hammer-Methode aber auch etwas Ermüdendes. Am besten daher in kleineren Dosen genießen, als die rund 72 Minuten komplett am Stück hören. Wie heißt es doch in dem Sample zu Beginn von „What the Phax”: „I’m gonna fight sound with sound! – Sounds crazy.” Tim Caspar Boehme

Djrum – Under Tangled Silence (Houndstooth)
Auf seiner 2024 nach fünfjähriger Veröffentlichungspause erschienenen Comeback-EP Meaning’s Edge hatte Djrum, nicht unähnlich André 3000 auf New Blue Sun, die Flöte als neues Leitinstrument entdeckt. Nun scheint es so, als gäbe auf seinem neuen Album das gesamte klassische Instrumenten-Repertoire, von Piano zu Cello zu Flöte, den Ton an.
Entlang der elf Stücke von Under Tangled Silence sind es immer wieder so langgezogene wie dennoch nicht langweilige Intros aus Streichern, Holzbläsern oder perlenden Klavierklängen, die in den weitgefassten Klangkosmos dieser Musik hineinziehen.
In „L’Ancienne” etwa morpht über eineinhalb Minuten ein dumpf präpariertes Piano mit atonal tönender Modular-Electronica, bevor sich der Track in tribalistischen Breakbeats auflöst, die federweich wippend ins Ohr schweben, während sie dabei tonnenschwere Sub-Frequenzen transportieren. Man wird mitgenommen zu tiefschwarz ins Dunkle schürfenden Klangritualen, die sich immer wieder in Kompositionen auflösen. Diese verbinden wunderweiche Electronica-Melodien, die, so verspielt wie verspult, an Gamelan-Sequenzen erinnern, mit sich rasend schnell ins Ohr bohrenden Perkussion- und Kickdrum-Attacken.
Mitunter lässt Djrum die vorantickenden Rhythmen auch komplett hinter sich und taucht ein in einen ambienten Atmosphäre-Teich aus Streicher-Drones und melancholischen Piano-Sentenzen, die auf einem Max-Richter-Album auch nicht fehl am Platze wären. Immer wieder verbindet er auf kongeniale Weise moderne Klassik-Momente mit den auralen Gesetzmäßigkeiten des Hardcore Continuums – ohne jedoch sich auch nur einmal in angestaubter Breakbeat-Pastiche zu verlieren. Und das macht Under Tangled Silence einzigartig, wenn nicht gar zu einem Anwärter auf den Pokal für das Album des Jahres 2025. Tim Lorenz

Fluxion – Haze (Vibrant Music)
Konstantinos Soublis war einer der wenigen Musiker der zweiten Chain-Reaction-Welle, gehörte also zu den Producern, die auf dem Berliner Label veröffentlichten, obwohl sie nicht im Schlafsack unter dem Hard-Wax-Tresen aufgewachsen waren. Damals, Ende der Neunziger, war sein Sound durch das Fernrohr des Dub-Techno-Leuchtturms so fulminant wie traditionell.
Heute, viele Alben später, hat sich daraus ein ganz eigener musikalischer Entwurf entwickelt, der nicht mehr nur monochrom leuchtet, sondern viel farbenprächtiger strahlt. Das dubbige Rauschen, die Delays und die passenden Chords sind zwar noch präsent, jedoch eingebettet in ein Sounddesign und eine kompositorische Praxis, die Soublis‘ Ansatz betont, den er – These! – schon immer hatte, aber weit hinten in den Hallfahnen parkte. Mal ist es eine vorsichtig pluckernde grade Bassdrum, mal ein waschechtes Score-Arrangement, um das die Trademark-Sounds herumschleichen. Das ist schon ziemlich sehr gut und vor allem immer noch so deep, wie jeder Art von Musik eigentlich sein müsste. Es braucht Alben wie Haze, um uns immer wieder daran zu erinnern, dass Dub Techno lebendig und wichtiger denn je ist. Thaddeus Herrmann

Meese X Hell – Gesamtklärwerk Deutschland (Buback)
Von Anfang an klar: Das ist kein Album, das man einfach so hört. Das ist ein Werk, das man durchlebt. Und es brennt, volle Lautstärke – rein in die Zukunft der Vergangenheit. Vier Jahre nach Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst schieben Jonathan Meese und DJ Hell das nächste Monster aus dem Maschinenraum deutscher Hoch- oder doch eher Undergroundkultur ins Licht der Öffentlichkeit: Gesamtklärwerk Deutschland auf Buback Tonträger – eine betörend brettharte Liebeserklärung an Kunst, Klang, Kraftwerk und die klärende Kraft der Eskalation. Hier wird nicht gefeiert. Hier wird gefordert. Ein Werk, das nicht Everybody’s Darling sein kann und will, und gerade deshalb bereits jetzt schon Kultstatus hat.
DJ Hell – der Grandseigneur der Nacht (jüngst rockte er 24 Stunden das Pimpernel an der Müllerstraße in München, wo einst schon Freddie Mercury abhing) und notorischer DAF-Disco-Architekt – schichtet Beats, die wie brutalistische Betonplatten krachen, während Meese – ewiger Kunstfurorist, schäumender Gesamtkunst-Guru – sich in stroboskopischer Sprachgewalt verliert. Was dabei entsteht, ist keine einfache Kollabo, sondern eine elektroakustische Exorzismus-Oper, zwischen Volksbühne und Tresor, zwischen Kunsthalle und Kathedrale.
Schon der Opener macht klar: Hier wird ein Land durch den Synth gezogen. Die Vocoder-Stimme predigt, während Hells Hi-Hats zischen wie Laser auf Beton – eine technoide Taufe im Namen des Irrsinns. Und dann kommt „Dr. Deutschland”, die schillernd-schizophrene Hauptfigur des Albums: Meese in der Rolle eines grotesken Superstaatsarztes, der Diagnosen stellt wie „Mach Deutschland groß, klein, groß, klein, DJ Hell!”
Ist das Parodie? Prophezeiung? Pop? Am Ende ist’s egal. Es ist wahr. „Apokalyptiker”: eine nihilistische Techno-Operette, in der Meese gegen seine eigene Mutter anbrüllt. Brigitte Meese als Lady Toleranz im vocodierten Duett mit dem Sohn, der alles opfert inklusive seiner selbst. Family Drama auf Acid. „Müde” dagegen ist das tieftönende Nachtstück: eine morbide Schlafpille mit Industrial-Bittermandelgeschmack. Einschlafen? Nein. Einnicken in den Irrsinn? Ja. Der eigentliche Schlag in die Synapsen ist aber das Finale: „Gesamtkunstwerk Deutschland”. Hier erklärt sich Meese selbst zur nationalen Installation, Wagner grinst aus der Gruft, während Hell Synthie-Kaskaden türmt wie NS-Dokumentationszentren aus Schaumstoff. „Ich bin Kunstdeutsch / Ich bin Deutschkunst” – eine postironische Selbstermächtigung, die man nur lieben oder fürchten kann. Dazwischen gibt’s nichts. Wie schon gesagt, ein Album not for everybody.
Was macht dieses Album so stark? Seine Unberechenbarkeit. Seine Weigerung, sich zu glätten, zu fügen, sich ironisch wegzuducken. Meese und Hell meinen das ernst – radikal, durchgeknallt, leidenschaftlich ernst. Und das ist seine größte Überraschung: Wie retrofuturistische Wahnsinnskunst heute klingen kann, wenn man sie nicht auf Kompromiss mixt, sondern auf Wahrhaftigkeit mastert. Und ja: Hätten Kraftwerk nach Electric Café noch einmal eine Platte gemacht – sie hätte vielleicht so geklungen. Nur nicht so chaotisch. Und nicht so geil. Gesamtklärwerk Deutschland ist kein Album. Es ist eine Zumutung. Eine technoide Therapie. Ein Manifest aus Beats, Pathos und pathologischer Kunstliebe. Ein hochaufgelöstes Schwarz-Weiß-Foto aus der Zukunft – mit Subwooferanschluss. Meese X Hell klären Deutschland. Und wir tanzen uns frei. Liron Klangwart
