Sogar der gute alte Glitch mag hin und wieder psychedelisch werden. Sogar – oder vor allem? – wenn ein gestandener Technoproduzent auf das formative Label des Genres trifft. Der nach einigen Berliner Jahren inzwischen wieder in Australien operative Rick Bull alias Deepchild bewegt sich auf dem Tape Fathersong (Mille Plateaux, 7. Juli) auf den ausgeblichenen Spuren von Erinnerung und Dub im Sinne Vladislav Delays, einer verwaschenen Wirklichkeit, in der die robusten Realitäten des Clublebens sehr weit entfernt scheinen und doch nicht komplett verschwunden sind.

Das konzeptunterfütterte, üppig hyperrealistisch, fraktal, komplex und multimedial daherkommendede Bodyfullness (Audiobulb, 25. Juni) von Jacek Doroszenko feat. Ewa Doroszenko aus Warschau findet seinen Wesenskern ebenfalls in einem überraschend milden, psychedelischen Update der Glitches und Clicks der Jahrtausendwende.

Blasmusik ist universell global und endemisch lokal. Die transatlantischen und transpazifischen Fäden sichtbar zu machen, die den Marching Blues aus New Orleans mit Oberbayern wie mit Japan verbinden, hat sich die Compilation Alien Parade Japan (Alien Transistor, 24. Juni) als Aufgabe gestellt. Mit den vielfach bewährten Spirit-Fest-Kräften Markus Acher (The Notwist und viele mehr) und Saya von den Tenniscoats haben ein ausgewiesener Liebhaber und eine Expertin aus dem innersten Kreis der experimentellen japanischen Indie-Pop-Szene ein mehr als prächtiges Bukett an von Jazz, Blues und Volksmusik inspirierten Blechbläser-Stücken zusammengestellt. Der gemeinsame Nenner ist wenig überraschend, der Vorrang von Hingabe über Technik. Die mit wenigen Ausnahmen eher nicht oder gar nicht bekannten japanischen Kombos spielen allesamt mit einem spürbaren Enthusiasmus und einer Freude am Spiel und am Leben, die eventuell mangelnde instrumentale Fähigkeiten locker ausgleichen, sogar überwinden. Das ist der Sound der beseelten Amateur*innen.

Eine beseelte, um nicht zu sagen frühvollendete akademische Amateur-Avantgarde-Künstlerin lässt sich auf American Rituals (Freedom To Spend, 15. Juli) finden, einer Zusammenstellung von Arbeiten der brillanten Cheri Knight aus den frühen Achtzigern in der sich gerade formierenden Indie-Szene von Olympia, Washington, einem studentischen Zusammenhang des Evergreen College, aus dem später Indie-Größen wie Beat Happening, frühe und definierende Riot-Grrrl-Bands und globale Superstars wie Nirvana hervorgingen. Die erstaunlich modernen und jetztzeitigen Song-Tracks Knights klingen zwar durchaus nach ihrer Zeit, nach dem tiefen Eindruck, den Laurie Anderson und Pauline Oliveros auf die aufgeweckte Kompositionsstudentin gemacht haben müssen, aber nicht weniger nach dem Heute, das die Zukunft damals wohl war, also nach Aufbruch und nach experimenteller Folk-Avantgarde als dekonstruierte Vocal-Elektronik avant la lettre. Tolle Wiederentdeckung der wie immer findigen RVNG-Intl.-Crew.

Ein akustisches, analoges Instrument, gespielt mit einem Sinn für Strukturen und Ästhetik der Elektronik, das kann in Neoklassik enden, in so etwas wie Postrock oder in freier Improvisation. Aber eben immer mit Loops, Samples und Schleifen im Sinn. Im besten Fall bleibt es in der Schwebe und kommt eben nicht in einem fixierten Genre an. Wie beim in Paris lebenden spanischen Cellisten Gaspar Claus, der mit der EP 2359 (Infiné, 1. Juli) mal wieder höchst eindrucksvolle Beispiele dafür abliefert, wie sehr der unbearbeitete, noch rein akustisch genommene Klang des Cellos rocken und doch die besondere, filmische bis elegische Qualität beibehalten kann.

Wenn es um amerikanischen Primitivismus in traditionellem Folk und Blues, um akustische Gitarre und Banjo geht, kommt die Metapher des analog gespielten Digitalen schnell an ihre Grenzen. Und doch haben die ultraklassischen dunkel- und altamerikanischen Fingerpickings, die Glenn Jones auf Vade Mecum (Thrill Jockey, 24. Juni) in vollendeter spielerischer Brillanz vorführt, eine elektrische, elektrisierende Qualität, die weder den Sound noch die Struktur betrifft, sondern die gesamte zugrundeliegende Ästhetik, die eventuell genauso viel mit Kankyō Ongaku zu tun hat wie mit John Fahey.

Im inneren Kern des schweizerischen Seenidylls Bad Bonn, Düdingen zwischen Bern und Lausanne züchtet das Kilbi Festival seit über 30 Jahren einen schmutzig schimmernden Bergkristall der freien Sounds aus experimenteller Elektronik. Die beiden Schweizer Feldermelder & Julian Sartorius haben die ehrenvolle Aufgabe, den Vibe des Ortes und der Umgebung als Soundmap zu kartieren, auf Bonn Route (-OUS, 17. Juni) mit Bravour gelöst: Field Recordings von Wanderungen und Klangspaziergängen, von Feldermelder gesampelt und in markante Schleifen gepackt und von Sartorius’ präziser Percussionarbeit rhythmisch unterwandert.

Der Belgier Otto Lindholm ist ein findiger Improvisateur und gelernter Kontrabassist, der sein Instrument allerdings selten in den Vordergrund spielt, sondern es vor allem solo massiv digital bearbeitet und sogar ganz einstellt zugunsten elektronischer Produktionsweisen. So auf der LP FortyTwo (Totalism/Phantom Limb, 22. Juli), die in zwei je 21 Minuten dauernden Stücken die Tiefe und Weite von Drone und Dark Ambient auslotet. Klingt nach recht wenig, kann aber sehr viel. Schon lange kein Album im Mikrogenre gehört, das derartig formschön und durchdacht klingt und doch jederzeit einen spontanen und offenen Eindruck macht.

Dem Japaner Yui Onodera ist es gelungen, mit stilistischer Beharrlichkeit und technischer Brillanz ein breites Publikum für seine immersiven Soundskulpturen zu finden, Klänge zu produzieren, die weit jenseits von Sound-Art-Galerienkunst-Nischen funktional sein können. So ist er seit einigen Jahren regelmäßiger Gast auf den allweihnachtlichen Pop-Ambient-Compilations von Kompakt und hat kürzlich mit dem israelischen Technoproduzenten Yotam Avni die wundervolle Kollaboration YY (Critical Path, 4. März) gestartet, die beinahe schon in New Age abdriften würde, wäre da nicht der doppelbödig grummelnde Bass. Too Ne (Room40, 1. Juli), Onoderas erste Soloarbeit für Lawrence Englishs Room40, bleibt dagegen vollständig in der Domäne des Kristallinen. Solide fixierte, aber doch eine gewisse Wärme abstrahlende Drone-Sounds ohne Anfang und Ende, ohne Entwicklung: pure Präsenz, die zum Eintauchen und sich Verlieren einlädt.

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