Der tolle Soundtrack, den der Brite Gary Marlowe zum aller Voraussicht nach brillanten spekulativen Quasi-Doku-Science-Fiction-Film Everything Will Change (Denovali, 28. Mai / Filmstart 14. Juli) geschrieben hat, bedient sich ebenfalls schwerstens der Achtziger-Synthesizer-Idiome, allerdings in gefilterter Form, durch sämtliche Ideen retrofizierter Adaption, Aneignung und Hommage von Carpenter über Blade Runner bis Stranger Things.
Der verlässlich hochproduktive M. Geddes Gengras lässt sich da nicht lumpen und schiebt das ungewöhnlich entspannte und für ihn ungewöhnlich kurze C38-Tape Expressed, I Noticed Silence (Hausu Mountain, 15. Juli) in den hoffentlich irgendwann noch beginnenden Hochsommer. Eher an New Age und japanischer Enviromental Music der Achtziger orientiert als an Kraut-Motorik, liefert das Album eine willkommene Abwechslung zu den hochenergetisch verdichteten Synthesizerstudien, die Gengras sonst so produziert.
Wenn das nicht genügt, gibt es zum Glück Gengras und die geballte Hausu Mountain-Label-Power noch ausgiebig auf dem HausMo Mixtape III (Hausu Mountain, 22. Juni) zum zehnten Jahr des Bestehens. Und zwar nicht nur als Kassette, sondern mit jeder Menge adäquatem Merchandise-Nippes (2022 essenziell etwa das Mousepad). Gibt es die freundlichen Freaks aus Brookyln und Chicago wirklich erst zehn Jahre? Gefühlt bereichern sie die Nische zwischen nettestem Ambient und abgedrehtem Noise-Irrsinn schon immer und ewig. Vermutlich einfach, weil das Label eine klaffende Lücke ausfüllte, ein Bedürfnis, von dem wir zuvor nicht wussten, dass es überhaupt besteht.
Die Sound Art, die im Berliner kwia praktiziert wird und vom Label f-o-m (Forms of Minutiae) liebevoll dokumentiert, verdankt einige ihrer Inspirationen der japanischen Environmental Music, allerdings in einem zeitgemäßen Sinn und spezifisch queer gewendet. Ein besonders gelungenes Dokument ist das Tape Live at kwia (f-o-m, 15. Juli) der kwia/weich-Kurator*in Pablo Diserens, die ein exquisites halbstündiges Klangerlebnis aus Field Recordings, Gongs und Synthese gewoben haben.
Ebenfalls stark in New Age und japanischer Achtziger-Ambient-Coolness verwickelt präsentiert sich das nach zahllosen Chill-Out-Mixen und digitalen Releases physische Albumdebüt des Zefan Sramek alias Precipitation, der seit langer Zeit tatsächlich in Tokio lebt und arbeitet. Die sonnig-minimalen Synthesizer-Blubberscapes auf Glass Horizon (100% Silk, 29. Juli) werden von balearischen House- oder kleinen IDM-Beats angetrieben. Als einzelner Track ist das eher unspektakulär und unauffällig, als Ganzes ein wundervoller, tiefer Trip an einen Ort der Ruhe und Freude.
Der Kunst und Musikproduzent Vincent Schmid kultiviert in Köln eine nahe verwandte Ästhetik des minimalen Ambient wie Sramek in Tokio. Unter dem Alias Panta Rex allerdings in durchaus kölnischer Tradition verankert mit geraden Beats und etwas deftigerem Rumoren untenrum. Nach der eleganten LP1 auf Noorden aus dem März folgt nun auf Nikita von Tiraspols Label die EP Critter (Kontrapunkt, 1. August) als feine Ergänzung, die zwar direkt zurück in den Club will, aber eben doch eher als Deep-Listening-geschulter Feingeist denn als Pillenraver.
Gilt übrigens ähnlich für die Single des Berliners Lymbs auf dem neuen digitalen Outfit von Florian Sankts Crux Axul. Crux I: Terminal Beaches (Crux Axul, Ende Juli) ist mehr Rekonstruktion als Dekonstruktion des Clubs in zischelnden Breakbeats und grandiosem Staubsaugerbass. Drum’n’Bass wörtlich genommen ohne allzu viel Klischees. Wichtige Konsument*inneninformation für kommende Hitzewellen: dieser Bass kühlt einen Club je nach Raumvolumen um neun bis 13 Grad herunter.
Die Achtziger sind universell und generationenübergreifend eine der Quellen der zentralen Inspirationen elektronischer Musik. Die Ästhetik der Neonnächte der Dekade findet sich in dunkelstem Post-Industrial und pastelligen, fluoreszierenden Vaporvariationen jüngster Inkarnation. Die in Los Angeles lebende Keyboarderin Morgane Lhote, die in den späten Neunzigern mit Stereolab das Gegengewicht zu Tim Ganes Siebziger-Kraut-Obsessionen und Lætitia Sadiers Pop-Subtilitäten darstellte, hat mit ihrem Projekt Hologram Teen eine Parallelwelt geschaffen, in der die Achtziger, speziell deren französische Ausprägung (La Boum), die spätere Hommagen an die Ära wie etwa von Air bereits mitdenkt, in einem ewigen Sundowner den Hollywood Boulevard entlangcruisen. Das üppige Day-Glo Chaos (Ransom Note, 19. Juli) ist die perfekte Fortschreibung dieser unerschöpflichen Inspiration.
Und wie den Achtzigern entkommen? Geht elektronisch eigentlich nicht, und doch liegt ein logischer Weg in den Neunzigern, den der Brite Josh Thompson alias FFT konsequent beschreitet, mit einer ganz speziellen und einzigartigen Mischung aus Yamaha-DX7-Coolness, IDM-Kleinbeat-Geknatter und Proto-Drum’n’Bass als Ambient. Auf Clear (Numbers, 24. Juni) hört sich das an, als hätte es Aphex Twin, Autechre und SND nie gegeben. Also richtig frisch, inspiriert und Laune machend.
Mit einer 303 und dem richtigen Mindset ist auch der italienische Produzent Davide Glaser Nicosia genau da angekommen, wo die Referenzen auf die Pionier*innen der schlauen oder schlaumeiernden Tanzmusik, oder was auch immer IDM bedeuten sollte und was auch immer heute noch davon übrig ist, plötzlich wieder Spaß und Sinn machen. Die inspiriert-knappe EP Reverse Darkness (MFZ Records, 24. Juni) ist in der Hinsicht vielleicht das beste Ergebnis, mit dem Nicosias Projekt Acid Youth bislang rumkam.
Mehr Psychedelik für Fortgeschrittene? Nicht so digital, dafür aber abgefahren wie drei Wochen altes Bongwasser? Dann ist die Jamsession der gestandenen Alt-Weirdos Psychic Ills & Gibby Haynes genau das Richtige. Als jüngst wiedergefundenes und behutsam restauriertes Tape eines Allnighters und gehörige Erweiterung der 2010 von Juan Atkins (!) und Hans-Joachim Irmler geremixten Tape-EP ist FRKWYS Vol. 4.5: Nowhere in the Night (RVNG Intl., Juni) eine tolle Dokumentation frei flottierender Inspiration, die eventuell gar keine Substanzen benötigt, um abzuheben.