Moderat – MORE D4TA (Monkeytown)   

Der Sommer 2022 steht kurz bevor, und wir müssen über Darkness reden. Zur Hölle damit! Alle Schwarzkittler*innen: Geht zurück in eure feuchten Keller. Schiebt euch das Experimentelle sonstwo hin. Wir haben gedarbt, gewartet, gelitten. Wir wollen kein vertracktes Desinteresse mehr. Stattdessen abfahren, ohne jemals wieder abgeholt zu werden. Wir passen auf uns auf. Keine Sorge.

Das Tollste am vierten Album der Band (!) Moderat ist die Tatsache, dass einfach kein Hit drauf ist. Kein Hit, der die ganz unterschiedlichen Begabungen der drei Mitglieder in unvergessliche Evergreens packt – also Pop-Songs. Stattdessen gibt es offenherzige, trancige und mit Burial-Trademarks vollgestopfte Rave-Eskapaden und fast schon introvertierte Miniaturen des elektronischen Songwriting. Ganz ehrlich: So ein perfektes Album habe ich noch nie gehört. Dabei hätten sich Moderat ja nichts mehr beweisen müssen. Ihr ganz eigener Style zwischen Umarmung und Deepness mag mit dafür mitverantwortlich sein, dass das Wort „Electro“ ein für alle Mal im musikalischen Repertoire des Mainstreams verankert ist. Aber: Da scheißt der Bassdrum-Hund drauf. Die Tracks und Stücke werden dadurch nicht schlechter oder weniger relevant. Im Gegenteil: Die Performance von Sascha Ring wird immer unwiderstehlicher, die Beats und Sounds und Track des Trios tatsächlich nochmal besser. Wie das geht? Keine Ahnung. Ich verstehe es schlichtweg nicht. Und bade doch voller Empathie und Euphorie in diesen Entwürfen. „Raving, I’m Raving“ proklamierten Shut Up And Dance 1992 auf ihrer gleichnamigen 12″ – und lieferten. Auch wenn A nichts mit B zu tun hat – Moderat folgen diesem Pfad. Mit neuen Sounds, neuem Selbstverständnis – und doch der gleichen Haltung, verstärkt mit Samples, die als semipermeable Membran in alle Richtungen strahlen, wirken, bluten. Thaddeus Herrmann 

Mr. Fingers – Around the Sun Pt 1 (Alleviated)

Larry Heard ist der Schuster der House Music: Er bleibt bei seinen Leisten, weswegen das Endergebnis in der Regel wie angegossen passt. Around the Sun Pt 1 verspricht einen Rundgang durch das Universum von Mr. Fingers und dementsprechend nimmt er darauf wenige Abzweigungen in andere Gefilde. Während parallel zu ihm Ron Trent mit WARM größere Sprünge wagt und sich in vergniedelten Fusion-Jazz-New-Age-Klängen suhlt, hält Heard weitgehend an den Grundfesten seines Sounds fest. Das gigantöse Vorgängeralbum Cerebral Hemispheres hatte auf knapp 100 Minuten noch Deep House ausgehend von Tempi und Rhythmen gedacht und mit Jazz-Elementen oder Vocals kombiniert. Around the Sun Pt 1 hingegen nimmt sich weniger Raum, konzentriert in diesem aber mehr Einflüsse aus anderen Spielarten, die das Genre und also ihn selbst in historischer Perspektive mitgeprägt haben.

Klänge aus der Synthesizer-Musik der siebziger Jahre, Rückgriffe auf Soul und R’n’B vor allem in den Vocal-Tracks, Funk und Disco geben sich über versiert eingespielt und im Grunde nicht wirklich innovativen Rhythmen die Klinke in die Hand. Dabei scheint Heard auch mal wieder auf “Dryve” oder “Electrostatic Elevation” auf das weiterhin grassierende Wave-Revival in der House-Musik zu antworten, nimmt mit “Like the Dawn” Latin-Elemente mit auf und formuliert auf “Pressurize” seinen ganz eigenen Electro-Entwurf. Im Einzelfall gelingen ihm damit zweifelsfrei ein paar Coups und insbesondere die genannten Tracks stechen heraus. Das aber vor allem, weil sie neue Perspektiven in alten Formeln zu entdecken wissen – und sich trauen, sich mal nicht maßgeschneidert anzupassen, sondern etwas Reibung zu erzeugen. Kristoffer Cornils 

Snippets findet ihr beim Online-Plattenhändler eures Vertrauens. 

Rosa Anschütz – Goldener Strom (BPitch)

„Beiß die Hand, die dich füttert“ – aua, aua, aua! Tja, Rosa Anschütz singt nicht ohne Grund bei Ellen Alliens BPitch-Label vor. Die zwischen Berlin und Wien commutende Künstlerin hat ein Händchen für Trompetentechno, die Stimme für den Dark Room und die Gespührerei, alles in einem Mischmasch zusammenführen. Etwas, das den Lebanon- Hanover-Gruftis genauso den Choker zuschnürt wie den Hedonisten in der Herrensauna und den Melancholiker*innen beim Moderat-Gig. Äh, ja … Anschütz, die mit Goldener Strom ihr Debüt über den BPitch-Kanal gleiten lässt, kommt damit genau zur richtigen Zeit, um Trance und Troubadour das Mystische entgegenzusetzen. Dabei könnte man allein für eine Ballade wie „Sold Out“ die Kleenex-Boxen hamstern. Zum „Goldenen Strom“ trinkt man Sekt auf der Streckbank. Und bei „Buddy“ haut’s den Zärtlichkeits-Stompern von HVOB die Schublade raus. Soll heißen: Die Platte ist alles andere als Drüberhauch-Techno für die Drei-Uhr-Ekstase. Anschütz brettert und segelt, gleitet und strömt – dafür muss man sich mindestens drei Jahre lang auf einer Kunstuni einschreiben, um halbwegs authentisch nihilistische Leere zu verkörpern, während man innerlich in See sticht. Wie auch immer – mit Anschütz schwebt nicht nur Techno in eine neue Richtung, sondern auch BPitch. Gut so! Christoph Benkeser

Ricardo Villalobos & Samuel Rohrer – Microgestures (Arjunamusic)

Das Duo Villalobos/ Rohrer ist kein unbeschriebenes Blatt – bereits in der Vergangenheit remixte Ricardo Villalobos das Material des Schweizer Jazz-Drummers Samuel Rohrer und das seines Trios Ambiq — und auch auf der Bühne konnte man die zwei schon gemeinsam live erleben.

Nun hat sich das geteilte Interesse in eine vier Track starke EP übersetzt. Die sogenannten Microgestures sind rhythmisch komplexe Arrangements aus Drum Machines, Modular Synths, Keys und vielfältigen, kleinteiligen perkussiven und elektronischen Elementen.Was zu Beginn etwas wild und unfokussiert wirken mag, beginnt bald einen eigenen Reiz zu entwickeln. In guter, alter Minimal-Tradition dürfen sich hier diverse Sounds nebeneinander entwickeln und austoben. Das klingt mal mehr oder weniger Club-affin dank Bassline und Snare-Pattern („Incus”), ausgesprochen lebhaft mit ständigem Stereo-Panning und dubbigem Low-End wie in frühen Plastikman-Experimenten („Helix”), kann aber auch spukig wirken („Lobule”) oder organisch anmutende Elemente mit Radio-Samples mischen („Cochlea”).

Bei so viel kreativem Shuffle fällt es dann auch kaum auf, dass die Platte quasi ohne Melodien auskommt. Der Umstand allein schon zeigt die EP als gelungenes, feinteiliges Konstrukt zweier Rhythmus-Nerds, die es schaffen, den Spagat zwischen kühlem Arrangement-Struktur-Kalkül und dem Eigenleben der miteinander kommunizierenden Rhythmus-Variationen zu meistern. Leopold Hutter 

Shoko Igarashi – Simple Sentences (Tigersushi)

Aufgewachsen in Japan, als Saxofonistin ausgebildet am Berklee College of Music in Boston, hat Shoko Igarashi derzeit Brüssel als Lebensmittelpunkt gewählt. Eine Lebensreise, deren Stationen sich auch in ihrem Debütalbum spiegeln, mit dem Tigersushi das erste Lebenszeichen seit drei Jahren von sich gibt. „Sand Dungeon“ etwa gibt sich keine Mühe, die Verwandtschaft mit dem Synthpop von Yellow Magic Orchestra zu dementieren. „AppleBanana“, ein weiteres centerpiece der ausgezeichneten Platte, scheint eher von den experimentelleren Soloarbeiten Haruomi Hosonos inspiriert zu sein. Andere wie „Tsuki No Yama“ oder „Monochrome Chronicle“ stehen mit ihrem Zugriff auf ostasiatische Folklore in der Tradition der Allianz von Minimal Music, Weltmusikjazz und New Age, aus der Anfang der Achtziger Ambient entstand. „Happy Child“ ist ein Instrumental mit City-Pop-Appeal. „CASH OK“ wiederum referiert auf ihre Jazzausbildung, bearbeitetes Sopransaxofon- und Flötenspiel über einen trägen Downbeat. Mit dem „Anime Song“ kann „Simple Sentences“ zudem mit einem Bleep-Boogie-Hit aufwarten, in dem auch ein wenig Jan Hammer auszumachen ist. Durchwegs spürbar auch der Einfluss ihrer Wahlheimat: Zu ihren Hausgöttern zählt Igarashi auch Dan Lacksman von Telex. Grandiose Synthesizer-Etüde: „Shokoism“. Harry Schmidt

Stefan Goldmann – Vector Rituals (Macro) 

Der gerade Beat geht immer. Für den Berliner Produzenten Stefan Goldmann geht es in seinen Techno-Versuchsanordnungen jedoch selten um Dinge, mit denen man bestens vertraut ist. Vielmehr sucht er unablässig nach Anschlussmöglichkeiten von anderswoher. Mikrotonale Stimmungen etwa hat er in der jüngeren Vergangenheit in verschiedener Form erkundet, diesmal hat er sich Mikrorhythmen vorgenommen. Die Vector Rituals fußen dabei auf dem Prinzip des Grooves aus Polymetrik. 

Man hört mithin nicht verschiedene Rhythmen gleichzeitig, sondern ein und dasselbe Stück ist, vereinfacht gesagt, in verschiedenen Takten geschrieben. Interne Verschiebungen gehören zur Konstruktion, man hat es mit Gleichgewichten zu tun, die nie ganz in Balance zu sein scheinen, die aber dennoch einen in sich geschlossenen Fluss ergeben. Die oft metallisch glockenartigen Klänge dazu lassen an digitale elektronische Avantgarde denken – Goldmann hat der TU Berlin studiert. Vor ihm hat schon Chris Korda mit Polymetrik von sich reden gemacht, Stefan Goldmann gelingt es allerdings, weniger gleichförmig zu klingen und auch bei den Sounds die Innovationen nicht aus dem Blick zu verlieren. Tanzen? Kommt noch. Tim Caspar Boehme

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