/DL/MS/ – Calanhi (Trust)
Dieses Album hört nicht auf. Im Gegensatz zu vielen aktuellen Longplayern, die sich auf die klassische Länge beschränken, umfasst Calanhi 13 Stücke. Dafür braucht es schon Doppelvinyl für die Tonträger-Materialisierung. Und auch von der gepflegten Langeweile, die viele aktuelle Schallplatten verbreiten – oft gerade diese, auf denen Künstler*innen sich einem einzigen Genre widmen –, findet sich hier keine Spur.
Das österreichische Projekt /DL/MS/ bleibt zwar über alle vier Plattenseiten Electro in seiner Detroit’schen Ausprägung treu, verfällt aber nicht in Götzenanbetung, bastelt keine Reise ins Retroland. Electro bildet für /DL/MS/ einen soliden Rahmen, innerhalb dessen sehr viel und sehr Verschiedenes passieren kann. Und dies wiederum von Stück zu Stück auf andere Art. „Divide & Conquer” bekommt beispielsweise durch die Vocals der nigerianischen Rapperin G.Rizo nicht nur einen Twist in Richtung Hip Hop, sondern auch einen dezenten Pop-Appeal, und setzte nach der ersten Strophe der Refrain von „Buffalo Stance” ein, keine*r würde sich wundern. Stattdessen beginnt eine Off-Beat-Acid-Figur, die das Stück im Kontext des Albums hält, aber an der langen Leine, ohne Purismus.
„Accelerated Frequency” wiederum verbindet Side-Chain-Chords mit einem forschen Electro-Rhythmusfundament, über das die spanische Sängerin Xx Isis xX unerwartet zurückhaltend und einfühlsam singt. Einen Refrain im klassischen Sinn gibt es nicht, auch keine weitere Eskalation, dafür eher reduzierte Teile, die für Struktur sorgen. Ähnlich zurückhaltend aufgebaut ist das nachfolgende „Buclandia”, das mit seiner schummrigen Filmmusik-Atmosphäre ins Listening-Electronica-Fach eingeordnet werden könnte und statt sich, wie kurz vor Ende angedeutet, zu einer dramaturgischen Eskalation aufzubäumen, ein überraschendes Ambientfinale gönnt. Mit zwitschernden Synthies und rückwärts singenden Vögeln – zwei perfekte Beispiele dafür, dass nicht immer alle Möglichkeiten, die in einer Komposition stecken, ausgereizt werden müssen.
Aber natürlich gibt es auf Calanhi auch etliche reine Club-Kracher wie das auf gut 135 BPM dahinpreschende „Trusted Funk”, das eine Fülle von Elementen schlau abwechselt und verzahnt und so eine energetische, mitreißende Hatz kreiert. Oder das düstere „InvisibleBits” mit seinem pulsierenden, von der Dub-Step-Verwandtschaft ausgeliehenen Bass.
Diese Liste ließe sich noch um einige Tracks erweitern, aber entscheidend für das Album ist ein anderer Punkt: /DL/MS/ ist es gelungen, im extrem Dancefloor-orientierten und funktional definierten Electro-Kontext ein echtes und zudem sehr gutes Album zu kreieren. Mit der nötigen Dramaturgie, mit Brüchen, Abwechslung und Überraschungen. Das schaffen die Allerwenigsten. Mathias Schaffhäuser
Ben Kaczor – Sun Chapter One (KCZ)
Die frühen Singles von Ben Kaczor unter dem Klarnamen des Schweizers zeichneten sich durch einen Hang zu Lo-Fi-Ästhetik und schnurgeraden Rhythmen aus, seitdem aber hat der vormals auch als B.O.M bekannte Produzent sein Portfolio beständig erweitert und sich insbesondere im Rahmen von Kollaborationen als vielseitiger Künstler mit mannigfaltigen musikalischen Interessen bewiesen.
Sun Chapter One erscheint auf Kaczors eigenem Label KCZ und gibt mit dem zehnminütigen Opener „Lights” sogleich die Marschrichtung vor: Hier hat jemand die Kataloge von Basic Channel und Chain Reaction eingehend studiert, genauso aber einen Hang zum Atmosphärischen und bisweilen Pathetischen, wie es Traumprinz unter verschiedenen Pseudonymen im Dub Techno perfektioniert hat.
Kaczors eigener Entwurf ist dementsprechend emotional aufgeladen und energetisch, voller kleiner Spitzen und Spielereien. Auf „The Fool” etwa singen Theremin-ähnliche Klänge einen wortlosen Song, „Spinning Wheels” bringt über einem nervösen Groove schwebende Töne und wirbelnde Sounds in einen trilateralen Dialog miteinander und „Alternation” lässt sogar funkige Melodien über einem schwerelos scheinenden Track erklingen.
Es sind solche feinsinnigen Ideen, die Kaczors geschichtsbewusster Adaption von Dub Techno einen eigenen, sehr zeitgenössischen Charakter verleihen. Dass er darüber hinaus noch ein mehr als solider Arrangeur ist und selbst auf den längeren Stücken die Spannung aufrecht halten kann, macht Sun Chapter One umso mehr zu einem gelungenen Album. Kristoffer Cornils
Carsten Jost – La Collectionneuse (Dial)
22 Jahre nach der Gründung von Dial kümmert sich Carsten Jost, der eigentlich David Lieske heißt, noch immer um die Belange des gemeinsam mit Lawrence ins Leben gerufenen Labels, hält sich aber weitgehend im Hintergrund.
Nun präsentiert der gegenwärtig in Berlin lebende Hamburger nach längerem musikalischen Schweigen mal wieder ein neues Album – es ist erst sein drittes. Unter seinem bürgerlichen Namen arbeitet er schon länger hauptsächlich als bildender Künstler, auch wenn sich der Autodidakt selbst nicht so bezeichnen würde. Wie sehr sich der Produzent Carsten Jost vom musikalischen Tagesgeschäft entkoppelt hat, verdeutlicht ein Blick auf seine Release-Historie. Eine Maxi hat er schon seit mehr als zehn Jahren nicht herausgebracht. Wobei Dial eh in erster Linie ein Longplayer-Label war und ist.
Auch das neue Carsten-Jost-Album La Collectionneuse, auf Deutsch Die Sammlerin, kommt natürlich mit einem dieser typischen Dial-Cover. Schwarz-weiße Gestaltung, in der Mitte der weißen Umrandung ein Bild, das eine junge Frau zeigt, die auf einem Steinboden sitzt, womöglich an einem Flussufer. Sie trägt einen Sweater, darunter ein gestreiftes Herrenhemd, dazu einen Wollrock. Sie hält ein Foto, das einen Mann abbildet, vor ihr Gesicht. Eine Ecke des Fotos ist herausgerissen, der Mann auf dem Foto wurde zu einem Einäugigen, stattdessen schaut uns diese Frau mit einem Auge an. Vermutlich wird sie das Foto mit einem brennenden Feuerzeug gleich ganz zerstören wollen.
Gestaltet wurde das Cover von La Collectionneuse von Lieske selbst. Als Carsten Jost hat er sich musikalisch nicht allzu weit von seinen Ursprüngen entfernt. Recht lange Tracks voller Melancholie und Hypnose, zumeist eher langsam, bestimmen das Geschehen. Eine im frühen Minimal verwurzelte Formensprache trifft auf eine House-Ästhetik, die noch immer verrät, dass Lieske mal ein großer Fan von Theo Parrish oder Rick Wade war.
Während die Tracks „La Collectionneuse III” und „La Collectionneuse V” für die Carsten-Jost-Transformation von Detroit House stehen, erinnert das mit einem französischen Vocal-Sample ausgestattete „La Collectionneuse IV” ein wenig an Isolée. Vielleicht das Highlight dieses gerade wegen seiner Unterschwelligkeit und Reduktion fesselnden Albums, das mit „La Collectionneuse IX” noch ein wenig Electro ins Spiel bringt, um dann mit dem Schlusstrack beinahe unmerklich auszuklingen. Holger Klein
Cristian Vogel – 1Zhuayo (Mille Plateaux)
Seit gut zwei Jahrzehnten erforscht der gebürtige Chilene Cristian Vogel fleißig die Grenzen zwischen Techno und elektronischer experimenteller Musik. Auf sein Debütalbum von 1994 folgte eine langjährige Partnerschaft mit Tresor, wo sechs weitere Alben erschienen, die allerdings nur einen Bruchteil des Gesamtwerkes von Vogel darstellen.
Was macht so ein erfahrener Produzent also im Jahre 2022? Weiterforschen, so klingt es jedenfalls. Wenn man dem Pressetext Glauben schenken möchte, nennt sich das zwischen Genregrenzen hoffnungslos verlorene Etwas, das dabei herauskommt, „non-music”. Vogel ist also weniger daran interessiert, noch Musik im herkömmlichen Kontext darzustellen, seien es nun dekonstruierte Clubmusik oder defragmentierte Technotropen. Stattdessen geht es hier um Sounds und Rhythmik. Und weil wir als Menschen eben immer irgendwie Rhythmen und Strukturen von Sounds wahrnehmen, haben wir am Ende doch wieder so etwas wie ein musikalisches Erlebnis.
Abgesehen von diesem konzeptuellen Drumherum braucht man tatsächlich ein paar Tracks, um sich in die non-musikalische Welt von 1Zhuayo hineinzufinden. Wo will das hin? Und was will es mir sagen? Viele Texturen, Sounds, Geräusche, Rhythmen, ein wenig industrial-schroff präsentiert und trotzdem molekular-kleinteilig arrangiert. Und schließlich klickt es doch, spätestens zur Albummitte, wenn man sich mit dieser ungewöhnlichen Soundsprache angefreundet hat. Denn bei aller Experimentierfreude bilden die vielschichtigen, rhythmisch komplexen Kompositionen Vogels ziemlich einnehmende Grooves und bauen zusammen ein in sich geschlossenes Konstrukt, in dem man es gut und gerne für die Albumlaufzeit aushalten mag und zu dem man vielleicht ab und zu für Besuche zurückkehren mag. Definitiv kein Album für den Konsum einzelner Stücke auf Streamingplattformen, sondern zum intensiven Hörerlebnis in der Dunkelkammer. Leopold Hutter
DMX Krew – Party Life (Permanent Vacation)
Mit Party Life veröffentlicht Edward Upton möglicherweise das 27. DMX-Krew-Album. Und knüpft mit seiner zweiten Permanent-Vacation-Veröffentlichung direkt an seinen 1998 erschienenen Rephlex-Meilenstein Nu Romantix an, dem das Münchner Dauerurlaubsreisebüro vor vier Jahren ein Luxus-Reissue spendiert hat.
Der Titeltrack fällt als Opener gleich mit der Tür ins Haus: Zu betont relaxtem Electrofunk erklärt Upton, während er sich ungeniert am Retro-Büffet bedient, dass das Party Life ihm ja nicht so viel bedeute. Und alles, aber auch wirklich alles an diesem Boogietrack, von dem wie auch von „Show Me” zusätzlich ein Dub vorliegt, klingt, als schreibe man aktuell das Jahr 1983.
Derart unverschämt gut gelaunt geht’s weiter: Der vocodergesättigte, vom Hip Hop kommende Electro der frühen Achtziger regiert „Show Her Your Soul”, das auch eine entspannte Chromeo-Nummer sein könnte, Fusion-Funk das slicke „Audrey” – inklusive jazzigem E-Gitarren-Solo! Gewagt und gewonnen: In „Thought You Were The One” reiht Upton ungehemmt eine Plattitüde an die nächste – jede Zeile wurde schon abertausendmal in Songtexten und Lebenshilferatgebern gehört: „Life is never quite what you expected” – und kommt damit durch: Die Lyrics sind ein in Versmaß und Reimschema perfektes Libretto, dem die Melodie nur noch folgen muss. In „Anything” gelingt Upton eine Art Reggae-P-Funk-Hybrid, mit „The Key” stellt er seine Version einer Prince-Ballade vor. Insgesamt eine Liebesgeschichte von A bis Z und wieder zurück. Entwaffnendes Album. Harry Schmidt
D. Tiffany & Roza Terenzi – Edge Of Innocence (Delicate)
Sowohl auf ihren bisherigen Einzelveröffentlichungen wie auch auf der gemeinsamen EP Oscillate Tracks 001 von 2018 bewiesen D. Tiffany und Roza Terenzi beiderseitiges Talent, die Grenzen von Techno, House, Bass und Electro gehörig zu verschieben.
So auch auf diesem Release, auf dem sie – im Gegensatz zur Oscillate-Platte, die ja eine Split-EP war – nun erstmalig kooperieren. Und das macht gehörig Spaß, denn die geradezu ungehörige Art, wie hier Genres vermischt werden, lässt etwas Frisches, Neues, niemals Langweiliges entstehen: vor Freude an Innovation sprudelnde elektronische Tanzmusik, die sich weder irgendwo anbiedert, noch wirklich einordnen lässt. Das beginnt mit den beiden dubbig-bekifften Einstiegstracks „Spiritual Delusion” und „Gravity Bongo” und steigert sich dann über die zwischen Trance und House changierenden Folgestücke „Liquorice Skritch” und „Lil Drummer Boi” zum wahren Rhythmus-Crescendo der drei folgenden Tracks. Die springen wie wahnsinnig zwischen hypnotischem Bass, Electro und Breakbeat herum und lassen dabei gewiss keinen Fuß auf dem Tanzboden unbewegt. Zum Abschluss dann noch ein ambientöser Trance-Dub, und fertig ist die psychedelische Reise durch Tiffanys und Terenzis Tanzwelt – und was für eine beeindruckende Reise das war! Tim Lorenz
Earth Trax – The Sensual World (Shall Not Fade)
Zwei Jahre, drei Alben – und alle auf einem eigenen Level. Bartosz Kruczyński ist entweder absurd talentiert, hat einen maßgeschneiderten Microdosing-Schedule von Hamilton Morris bekommen oder rackert sich schlichtweg seit Jahren den Frontallappen an seinem Gear wund, um einen völlig idiosynkratischen Sound zu entwerfen. Wahrscheinlich spielt all das eine mehr oder minder gewichtige Rolle im Output des Warschauers, der unter seinem Echtnamen mindestens seit 2011 Musik macht. Sucht erzeugende Deep-House-EPs, formidabel produzierter Ambient, pumpende Warehouse-Banger, bittersüße Nostalgieduschen – es scheint kaum etwas zu geben, was dieser Typ nicht mit unwahrscheinlicher Lebendigkeit seiner Signatur zu unterwerfen versteht. Pünktlich zum pandemischen Clusterfuck droppte Kruczyński 2020 als Earth Trax die LP1, der kaum ein halbes Jahr später schon LP2 folgen sollte. Beide bis zur letzten Sekunde randvolle Perlen zeitgenössischer Techno-Synthese, nach der die Klubkultur am Beginn des neuen Jahrzehnts so sehr dürstete – und das immer noch tut. Denn es sieht nach wie vor wenig rosig aus, weder kulturell noch gesamtgesellschaftlich oder gar global, ganz gleich, welchen Diskurs man nun anschneidet. Resignation kann aber keine Antwort sein.
Und so lässt die dritte Earth-Trax-LP wenigstens für gut eine Stunde den Exit aufschimmern, der aus der Tristesse des Status Quo in grelle Sommernächte mit Freund*innen hineinträumt. The Sensual World ist nichts weniger als die Kulmination unterschiedlicher Skillsets, die Kruczyński nun über die ganze letzte Dekade hinweg auf zig Releases konsistent zu verfeinern wusste. Vom Acid-getränkten Opener „Metal“ und seiner Schwester „Fade” über die abgefahrenen 90er-Patches „Dream Pop“ oder „Pearl” bis hin zu ganz heftigen Tränentracks wie „Fireflies” und dem brillanten Finale „Everlong” gibt es hier nichts, aber wirklich gar nichts zu meckern. Wie kaum jemand seiner Zunft vermag Earth Tracks auditive und emotionale Wirkmechanismen unterschiedlicher Gattungen gegenwärtiger Klubmusik so miteinander zu verschalten, dass die Grenzen durchlässig werden, während ein fast schon narrativer Flow entsteht. Industrial Techno zum Implodieren, Ambient House für einen Abend am See, kirre Breakbeats, Trap-Vibes, Wegdriften auf ätherischen Flächen, ein Dancefloor auf der ISS – was du auch willst. Es ist hier. „The Sensual World“ ist ein gottverdammter Klassiker im Game, jetzt schon. Nils Schlechtriemen