Ihr erstes Album liegt acht Jahre zurück. Und das bestand damals vorwiegend aus rumpeligen Klangschichtungen, in denen ein Beat nur gelegentlich für leichtere Orientierung sorgte. Jetzt hat die britische Produzentin Shelley Parker, die unter anderem als DJ und als Klangkünstlerin arbeitet, sich auf ihrem zweiten Album für mehr Übersicht durch Breakbeats und andere clubkonforme Rhythmen entschieden. Ihre Produktionen wirken dadurch nicht weniger spröde, sie hat vielmehr lediglich einen Weg gewählt, um ihre Industrial-Ambient-Collagen in tanzbare Form zu bringen.

Der beschleunigte Amen Break des Drum’n’Bass dient ihr als bevorzugtes Strukturierungsmittel, und es ist kein kleines Verdienst von Wisteria, dass diese altehrwürdige Zutat bei ihr nicht nach Klischee klingt. Durch die unvertraute Umgebung, in die sie das aufgeputschte Getrommel stellt, macht sie es einfach zu ihrer Sache. Und die hat eine eigene, abweisende Schönheit, so wie der titelgebende Blauregen (Wisteria ist der botanische Name), dessen auf dem Cover abgebildete Blüten zwar durchaus ansehnlich, aber giftig sind. Eine auf unscheinbare Weise große Platte. Tim Caspar Boehme

SHXCXCHCXSH – Kongestion (Avian)

Präzise arrangiert wie Megalithanlagen prähistorischer Ritualstätten, stellen die tonnenschweren Produktionen von Hannes Stenström und Emmanuel Pascal Moreno die Welt vor ähnliche Fragen: Wie konnten diese Strukturen bloß errichtet werden? Was bedeuten sie? Wie wurden ihre Position, ihre Form und Ausrichtung bestimmt? Für Kongestion gaben die beiden Schweden mit dem Noisepattern-Namen kürzlich im GROOVE-Interview, das nächste Woche erscheint, konkrete Antworten. Geplant war das Album zunächst als experimentelles Austoben, skizzenhaft und untanzbar wie SsSsSsSsSsSsSsSsSsSsSsSsSsSsSs von 2016. Dann kam die Pandemie und unterbrach den Produktionsprozess für über ein Jahr. Als das Duo wieder zusammen im Studio arbeiten konnte, war die Lust auf eine ekstatische Rave-Platte bar jeder billigen Buildup-Logik zwischenzeitlich stark gewachsen, sodass sämtliche Tracks einer Neujustierung unterworfen wurden. Stochastisches Dröhnen verschmolz dann nahezu selbstständig mit panischen Beats wie im Opener „Kong” oder dem nervenaufreibenden „Nges”, das nie zu einem wirklichen Drop kommt, aber die Spannung bis zum Schluss auf Infarktniveau hält.

Der Tenor ist dabei nonstop laut, dringlich, vor Energie berstend. Erinnerungen an das fulminante Debüt STRGTHS erwachen, aber auch an die Rösten-EPs von 2017, die mit ihren deliranten Melodien zu entfremden wussten – allein: Auf Kongestion erfolgt das Bombardement des Tanzflurs so übermächtig, so unheilvoll und viszeral produziert, dass beinahe alle Vergleiche hinfällig erscheinen. SHXCXCHCXSH sprengen hier in gut 32 Minuten den Erwartungshorizont selbst erfahrenster Raver*innen auf wie Knäckebrot, lassen Stakkato-Bässe zwischen insektenartigen Samples niederprasseln und pushen mit Tracks vom Kaliber „Esti” die Limits dessen, was post-pandemischer Industrial Techno zu leisten vermag – Blutandrang in Hirn und Geschlechtsteilen incoming. Sogar das ominöse Drone-Intermezzi „Stio” betont mit muskulöser Flächendramatik, wie weit dieses Projekt immer noch allen anderen voraus ist. Es wird endlich Zeit, dass irgendwer beginnt, Kühltürme von ausrangierten Kraftwerken in Clubs umzufunktionieren – vielleicht als die neuen Ritualstätten unserer Zeit? Sie wäre reif, und dieser Sound hätte es allemal verdient. Nils Schlechtriemen

Space Ghost – Private Paradise (Pacific Rhythm)

Im letzten Jahr hat der aus dem kalifornischen Oakland kommende Produzent Sudi Wachspress mit Dance Planet sein bisher bestes Album veröffentlicht. Vom dänischen Label Tartelet, wo seine letzten drei Longplayer erschienen sind, hat sich der US-Amerikaner zumindest für den Moment verabschiedet. Den Zuschlag für Private Paradise hat das kanadische Label Pacific Rhythm erhalten. Dass Wachspress ein großer Fan von Larry Heard ist, dürfte sich inzwischen herumgesprochen haben. Ein Geheimnis hat der Produzent aus Oakland daraus auch niemals gemacht. Während sein 2019er Album Aquarium Nightclub noch eher um klassische Mr.-Fingers-Tracks kreiste, erinnerte Dance Planet mit seinen gesprochenen Vocals und Frühneunziger-R’n’B-Anklängen mehr als nur ein bisschen an das völlig unterbewertete TheIt-Album On Top of the World. The It wiederum ist ein weiteres Projekt von Larry Heard, der sich damals mit dem Vokalisten Harry Dennis zusammentat.

Die acht Tracks auf dem neuen Space-Ghost-Album lassen House nun recht weit hinter sich. Stattdessen folgt Wachspress auf Private Paradise dem Ruf nach innerer Einkehr, der sich hier zwischen Ambient, New Age und Deep House an der Schwelle zum Chillout-Raum manifestiert. Ohne Larry-Heard-Verweise geht es auch dieses Mal nicht. Die Spuren führen zu den beiden Sceneries-Not-Songs-Alben, mit denen Heard um 1995 herum einen ganz ähnlichen Weg eingeschlagen hatte. Aber eine Space-Ghost-Platte wäre keine Space-Ghost-Platte, wenn man sich über zufällige Ähnlichkeiten nicht riesig freuen würde. Holger Klein

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The Irresistible Force vs RAMJAC Corporation – Live At The Brain 1990 (Musique Pour La Danse)

Als ich nach beendetem Zivildienst, gerade mal 21, Ende 1990 meinem damals besten Freund Rainer nach Hamburg hinterherzog, lernte ich alsbald dessen Mitbewohner Mickey kennen, eine kleine, virile Naturgewalt, halb Norddeutscher, halb Engländer. Der hatte Besuch von seinem Freund Morris, mit dem er in London gesquattet hatte. Mickey lud uns dann einen Abend in die Holiday Bar ein, in deren winzigem Keller dieser Morris Platten auflegen sollte. Kurz vor meinem Umzug hatte ich mir im Wiesbadener Boy-Shop (Schallplatten und Klamotten) eine Platte namens Space Is The Place von The Irresistible Force gekauft. Sun Ra kannte ich da noch nicht, ich fand nur den Titel cool. So war die Zeit, Euphorie und Ecstasy. Und natürlich ahnte ich, bis ich den Holiday-Bar-Keller betrat, nicht, dass Irresistible Force genau dieser (Mixmaster) Morris war, der dort nun einen eklektischen Ambient-House-Mix zum Besten gab. In derselben Nacht lernte ich noch einen anderen Freund von Mickey kennen, einen komischen Typen in Gummistiefeln, der von Tisch zu Tisch ging, alle fragte, ob sie auch richtig am Abfahren seien, und sich als Ralf Köster vorstellte. Später gab mir Morris, als er meine aus Krautrock und Techno bestehende, damals noch recht überschaubare Plattensammlung durchsah, den Tipp, doch Ambient-DJ zu werden. Kurz darauf gründeten Mickey, Köster und ich ein DJ-Team, aus dem später dann MFOC wurde – der Rest ist Hamburger Electronica-Geschichte. Warum ich das alles schreibe?

Weil mich diese Platte, ein 1990 im Londoner Acid-House-Club Brain aufgenommenes Live-Set von Morris alias The Irresistible Force und seinem alten Schulfreund Paul Chivers alias Ramjac Corporation, an genau jenen Abend in der Holiday Bar erinnert. Morris und Chivers wechseln sich am Sampler ab, die Musik ist rau und primitiv und dennoch futuristisch. In einer Zeit wie heute, wo jeder zweite House-Producer klingen möchte, als habe er seine Platte 1990 aufgenommen, schaut diese Musik immer noch in die Zukunft. Und bringt mich mit ihrer einfachen Schönheit zum Weinen. Wie gesagt, Euphorie und Ecstasy. (Nicht unerwähnt bleiben sollten auch das Sleeve-Design von Mark Wigan, der damals auch den Brainclub gestaltet hatte, und ausführliche Liner-Notes von Brain-Gründer Sean McLusky und Joe Muggs.) Tim Lorenz

Violet – Transparências (Rádio Quântica)

Die Portugiesin Maria Inês Borges Coutinho ist eine Musikerin auf der Suche. Eine, die Fragen stellt. Vor allem diese: Was kann Musik leisten? Mit Transparências nimmt Violet nun mit auf die Suche, sie macht die Suche – ähem – transparent. Führte ihr 2019er Debüt Bed Of Roses noch in die Vergangenheit, wühlte noch in Erinnerungen, so ist ihr zweites Album viel gegenwärtiger. Stilistisch zwar zerrissen, konzeptuell aber weiterhin fokussiert.

Die selbst gestellten Vorgaben sind den Titeln abzulesen: „Musica Para Ler” (Musik zum Lesen), „Musica Para Contemplare e Natureza” (Musik zum Betrachten in der Natur), „Musica Para Passear o cao a Noite” (Musik für den nächtlichen Spaziergang mit dem Hund). Mit jedem Zweck ändert sich auch der Stil. Die Intensität nimmt im Laufe der 49 Minuten zu. Von seichtem Ambient hin zu treibendem Drum ‘n’ Bass. Ihr Faible für die Neunziger scheint weiterhin durch wie im an Leslie Fiedler geschultem Trip-Hop von „Musica Para Limpar e Arrumar” (Musik zum Putzen und Aufräumen) oder im an Róisín Murphy erinnernden „Musica Para Cantar No Banho” (Musik zum Singen in der Badewanne). Ganz am Ende singt Violet in Dauerschleife die Worte „Thank you music”. Denn: Was kann Musik leisten? Sehr viel. Da kann man auch mal Danke sagen. Sebastian Hinz

Vladislav Delay – Anima (Keplar)

Gechannelt durch Sequenzen der rabenschwarzen Existenzialistenkomödie Hurlyburly von 1998, die als konzeptionelles Gerüst dient, nimmt Anima nicht nur in Sasu Ripattis ausufernder Diskografie einen speziellen Platz ein. Als Vladislav Delay entwarf der Finne zu Beginn des neuen Jahrtausends einen Sound, der in seiner collagenhaften Logik tatsächlich gar keiner musikalischen Konvention mehr folgte, visuelle Eindrücke stattdessen akustisch begleitete und zugleich dekonstruierte, um sie anschließend in variierenden Konstellationen neu zusammenzusetzen. Nicht das erste und auch nicht das letzte Mal war Delay seiner Zeit damit Jahre, vielleicht Jahrzehnte voraus. Ästhetisch einer lauwarmen Sommernacht wirrer Fieberträume ähnelnd, sind die konstanter Evolution unterworfenen Klangskulpturen dieses Albums ein Fest für das abenteuerliche Ohr.

Unter anderem produziert mit einem alten MSQ-700-MIDI-Sequencer, Ensonic-EPS16-Sampler und einem DrumKAT-MIDI-Controller sowie erstmals einem DAW auf seinem Mackie, tröpfeln hier Kaskaden fremdartiger Samples an Dub-Flächen herunter, die in der Augustsonne flirren wie heißer Straßenteer. Über 62 Minuten hinweg atmet und pocht, gluckert und glitzert, klirrt, reißt und verschlingt sich diese Klangstudie genussvoll selbst – wieder und wieder und wieder. „An kein Album bin ich danach jemals wieder so organisch herangegangen”, erinnert sich Delay anlässlich der nun bei Keplar veröffentlichten Neuauflage, die den Remaster der gesamten Originalproduktion und eine zehnminütige, zuvor nur auf CD erhältliche Kurzversion umfasst. Dabei sind beide weder Komposition noch Improvisation, mehr so etwas wie sequenzierte Intuition, ein lebendiges Anfluten und Abebben hochgradig prozessierter Synth-Shots, Kicks und Klicks, Bässe und Field Recordings, die im dialogischen Widerspiel mit Filmszenen entstanden, dann aber in einem Mix aus sechs Stereospuren ertränkt wurden. Längst überfällig erscheint die Veredelung dieses Klassikers daher zwar seit Jahren, doch gerade jetzt, in unserer aberwitzig paranoiden und zerfaserten Epoche, gibt Anima den Zeitgeist wieder wie kaum ein anderes Album elektronischer Musik. Nils Schlechtriemen

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