Lockdown-Platten gab es die letzten beiden Jahre so einige, schon im Sommer 2021 wollte man eigentlich längst keine mehr hören. Viele von uns feierten da ja schon den ein oder anderen persönlichen Freedom Day. Dann kam aber dieses neue Album von Joaquin „Joe“ Claussell, Raw Tones heißt es. Die Platte zeigte, dass in krisenhafte Situationen auch irre gute Dinge entstehen könne. Seit den frühen Neunzigern ist Joe Claussell als Produzent und DJ dabei. Eigentlich sind Studioproduktionen mit ausgiebigen Live-Elementen sein Ding, in der Not erschuf der New Yorker aber am Küchentisch ein House-Album, das so intensiv ist wie wenige andere. 

Ein Blick zurück: Vor etwa 25 Jahren war House in New York ganz schön tot. Samstags pumpte Junior Vasquez im Twilo sein Tribal-Geholze. Doch 1996 feierte an einem Sonntagnachmittag im Club Vinyl die Partyreihe Body & Soul ihr Debüt. Danny Krivit und François Kevorkian entwickelten sowas die Antithese zum sonstigen Geschehen in der Stadt. Irgendwann stieß Joaquin Claussell, Teilhaber des renommierten Plattenladens Dance Tracks, als dritter DJ hinzu. Der Club im Tribeca-Viertel, das im Südwesten von Manhattan liegt, erlebte einige erfolgreiche Jahre und viele magische Sonntage. 

Joe Claussell in den 2010ern (Foto: Presse) 

Claussells DJ-Stil, charakteristisch ist sein exzessives EQing, war für viele zunächst gewöhnungsbedürftig, doch genau damit prägte der in Brooklyn aufgewachsene DJ die Body & Soul-Jahre entscheidend mit. Gemeinsam mit Jerome Sydenham und seinem Label Ibadan brachte Joe Claussell wieder frischen Schwung in das herein, was man Deep House nannte. Nachzulesen war das im Oktober 1998 in einer großen GROOVE-Titelstory. 

Claussell gründete schließlich mit Spiritual Life sein eigenes Label und avancierte zu einem gefragten Remixer. Heute betreibt er von Brooklyn aus das Label Sacred Life Music. Bis Raw Tones schien er ein bisschen aus dem Blickwinkel geraten zu sein, was nicht zuletzt dem Umstand geschuldet ist, dass digitale Formate absolut keine Leidenschaft von ihm sind. Im Sommer 2021, ziemlich genau 23 Jahre, nachdem unser Autor Holger Klein Joaquin Claussell in New York besuchte, sprachen die beiden wieder miteinander, dieses Mal am Telefon.


Joe, du bist im Brooklyn der siebziger und achtziger Jahre aufgewachsen, gemeinsam mit neun Geschwistern. Was hat deine Erinnerung an diese Zeit geprägt?

Joaquin Claussell: Wir waren sieben Brüder und drei Schwestern, um genau zu sein. Wenn ich zurückdenke, erinnere ich mich vor allen Dingen an Musik. Musik spielte für uns alle eine extrem wichtige Rolle.

Was heißt das? Wurde bei euch zuhause auch selbst Musik gemacht?

Joaquin Claussell: Sagen wir es mal so: Hätten meine Schwestern und Brüder eine Musikkarriere angestrebt, sie alle wären wohl ziemlich weit gekommen. Wir alle waren ziemlich fanatisch, was Musik angeht, von klein auf. Ich selbst hatte niemals geplant, Musiker zu werden, doch mein ein Jahr älterer Bruder José war mehr als 20 Jahre lang der Bandleader von Eddie Palmieri, ein legendärer Latin-Musiker, der mit diversen Grammys ausgezeichnet wurde. José schlug also schon lange vor mir diesen Weg ein. Bei mir deutete erst mal überhaupt nichts darauf hin, dass ich irgendwann mal DJ und Produzent werden würde. Musikhören und Tanzen – das reichte mir völlig aus. Wir beide, also José und ich, haben aber unserem älteren Bruder Larry viel zu verdanken. Der war Schlagzeuger in einer Latin Rock-Band. Jedes Wochenende probten die bei uns im Keller – und wir waren sehr oft mitten drin. Musikinstrumente, insbesondere Schlagzeuge, waren also immer uns herum. Es hat sehr viel mit dieser Erfahrung zu tun, dass ich irgendwann damit begann, mir das Spielen von Perkussionsinstrumenten und Keyboards beizubringen. Unterricht hatte ich nie. Ich habe stets nach Gehör und Gefühl gespielt.

Joaquin Claussell 2021 (Foto: Seze Devres)

Als ich dich das erste Mal interviewt hatte, im Sommer 1998 in New York, erzähltest du mir, dass du nach der Schließung der Paradise Garage für ein paar Jahre das Interesse am DJing verloren hattest. Wieso war das so? Und was bedeutete DJing in jener Zeit überhaupt für dich?

Joaquin Claussell: Als die Paradise Garage für immer zumachte, das war im Jahr 1987, war ich vor allen Dingen ein Tänzer und Musikhörer. Ich beschäftigte mich zwar auch mit dem DJing, war aber nur das, was man einen Bedroom-DJ nennt. Ich schleppte mein Equipment zu einem Freund, oder er kam zu uns nach Hause, wir stöpselten unsere Geräte zusammen und legten Platten auf. Ich hatte damals noch nie in einem Club oder auf einer Party aufgelegt. Doch nachdem die Paradise Garage geschlossen war, verlor ich das Interesse daran, was aber auch Hand in Hand mit dem Prozess des Erwachsenwerdens ging. Ich zog nämlich von zuhause aus und musste mehr Verantwortung für mein Leben übernehmen. Das bedeutete aber nicht, dass ich nicht mehr auf der Suche nach Musik war. Musik blieb ein Teil meines Lebens, ich ging auch weiterhin aus. Mit dem Ende der Paradise Garage war’s das aber erst mal mit meinem Enthusiasmus für House und Garage. Es war ja noch so viel anderes los, ich hing danach viel im CBGB ab. Ich stand voll auf Punk und sowas, mein Outfit bewegte sich irgendwo zwischen Modernist und Skinhead.

„Rückblickend habe ich viele tolle Momente in der Paradise Garage verpasst, weil ich gerade lieber woanders sein wollte.”

In deiner Begeisterungsfähigkeit für Musik hattest du also keine Scheuklappen an. Hast du dir diese Vielseitigkeit bewahrt?

Joaquin Claussell: Ja, sicherlich. Zu verdanken habe ich das meiner Familie. Meine Mutter liebte afro-kubanische Musik oder all die Fania-Klassiker, sie hörte aber auch gerne Elvis Presley oder Frank Sinatra. Dass mein Bruder Larry in einer Afro-Rock-Band spielte, hab ich ja schon erwähnt. Er stand vor allen Dingen auf Rock und hörte seine Platten auf einer richtig guten HiFi-Anlage, die er aus seiner Army-Zeit in Japan mitgebracht hatte. Larry war bei uns im Haus also der Lauteste. Aus seinem Zimmer dröhnten klassische Rock-Bands wie Black Sabbath, Led Zeppelin, Grand Funk Railroad, Ashra Temple und Jimi Hendrix, manchmal legte er auch Punk-Platten auf. Ein anderer Bruder von mir, Jackie, kaufte sich irgendwann ebenfalls eine audiophile Anlage. Er schlug aus seinem Zimmer dann mit Soul, Disco und afrikanischer Musik zurück, währenddessen hörte meine Mutter im Wohnzimmer Radio, wo dann vielleicht gerade ein Carol-King-Song lief. Als ich endlich alt genug war, um selbst auszugehen, trug ich das, was ich zuhause kennengelernt hatte, immer in meinem Herzen. Bis zum heutigen Tag kann ich nicht nur ein Musikgenre für einen längeren Zeitraum hören. Als ich damals viel in Clubs unterwegs war, ging ich jedes Wochenende woanders hin. Ich war nirgendwo Stammgast, auch nicht in der Paradise Garage. Ich wollte zur Musik von Larry Levan tanzen, es ging mir nicht darum, mich mit irgendeiner Szene zu connecten. Okay, manchmal ging ich ins Underground, nur um Mädchen zu treffen. Rückblickend habe ich viele tolle Momente in der Paradise Garage verpasst, weil ich gerade lieber woanders sein wollte. 

Bedauerst du das?

Joaquin Claussell: Nein, ich bereue nichts. Hätte ich die Möglichkeit, noch mal in der Zeit zurückzugehen, würde ich es nicht anders machen. 

Joaquin Claussell 2021 (Foto: Seze Devres)

Deine Familie ist aus Puerto Rico eingewandert, dein Familienname ist aber nicht spanischer, sondern französischer Herkunft. Wo kommt der Name her?

Joaquin Claussell: In Puerto Rico gibt es einen Ort, in dem sich viele französische Einwanderer niederließen. Peinlicherweise kann ich dir nicht sagen, wie dieser Ort heißt. Soweit ich weiß, liegt er in der Nähe von Ponce, wo mein Vater herkommt. Meine Mutter stammt aus Cayey. Leider spreche ich nicht das kleinste Bisschen Französisch, genauso wenig verstehe ich die Kultur.

Du hast dich auch viel mit der Kultur der Yoruba, einem Volk im heutigen Nigeria, beschäftigt. Gibt es da eine Verbindung in deiner puertoricanischen Herkunft?

Joaquin Claussell: Puerto-Ricaner, Kubaner, Dominikaner und möglicherweise auch Haitianer haben alle Vorfahren, die vom nigerianischen Volk der Yoruba abstammen. Die in der lateinamerikanischen Musik verwendeten Perkussionsinstrumente Batá, Conga und Bongo lassen sich auf die Yoruba zurückführen, durch den Sklavenhandel kamen sie nach Puerto Rico und auf die anderen karibischen Inseln. Der Ursprung unserer Kultur liegt in Afrika, daher spielen Trommeln in Puerto Rico eine so prominente Rolle. Trommeln sind auch der Mittelpunkt der Musik, die ich mache. Wie du damals in meinem Büro gesehen hast, sammle ich Trommeln. Von Reisen ins Ausland bringe ich immer mindestens ein Perkussionsinstrument und damit einen andersartigen Sound mit, an den ich hier in Amerika sonst nicht herankomme. Insbesondere von Reisen in die Karibik bringe ich immer Instrumente mit. Als ein Produzent, der sich in seiner Arbeit viel mit Rhythmus auseinandersetzt, versuche ich natürlich stets, neue Soundfacetten meiner Musik hinzuzufügen, mögen sie auch noch so klein sein. Ich will nicht ständig die gleichen Instrumente und Sounds verwenden. Okay, grundlegende Instrumente wie die Conga sind eigentlich immer dabei, aber ich arbeite gerne mit mir noch unbekannten Instrumenten aus aller Welt. Vor allem in Asien gibt es unfassbar tolle Perkussionsinstrumente.

„Wenn ich mich auf irgendwelche Businessleute verlassen hätte, wäre ich mit meinem Label längst nicht mehr hier.”

Dein erstes Label hast du Spiritual Life genannt, danach hast du Sacred Rhythm Music gegründet, in den Namen deiner Labels findet sich also jede Menge Spiritualität. Was haben für dich Spiritualität und Musik miteinander zu tun?

Joaquin Claussell: Alles, was ich tue, ist eine persönliche Angelegenheit. Es geht mir nicht so sehr darum, mich nach außen zu wenden. Die Musik war seit dem ersten Tag meine Retterin. Wenn ich von Musik eine Gänsehaut bekomme, dann zeigt mir das, welche spirituelle Verbindung zwischen Musik und mir besteht. Wenn mir Musik einen Schauer über den Rücken jagt, wenn sie mir Gänsehaut verursacht, dann heilt das etwas in mir und nimmt mir die Sorgen.

Wie ist dein Verhältnis zu Religion?

Joaquin Claussell: Ich habe mit Religion nicht viel am Hut. Meine Religion ist die Musik, so abgedroschen das auch klingen mag. Wenn ich zurückblicke auf die Welt, in der ich aufgewachsen bin, dann war meine Mutter zwar katholisch und ging zur Kirche. Aber das war es auch schon wieder. Sobald ich als Kind in der Lage war, Dinge als das wahrzunehmen, was sie sind, stellte ich fest, dass Musik bei uns zuhause alle zusammenbrachte. Du kannst dir ja vorstellen, dass es bei sieben Brüdern und Schwestern oft richtig chaotisch zuging. Wenn ich aber die Welt da draußen betrachtete, dann stellte ich fest, dass Religion eher das Gegenteil bewirkt, Religion trennt die Menschen sehr oft. Ich konnte nicht feststellen, dass Religion die Menschen in meiner Umgebung versöhnte, wenn sie miteinander Streit hatten. Musik konnte das aber.

Joaquins Plattenladen Dance Tracks im Jahr 1989 (Foto: Archiv Joaquin Claussell)

Im Musikgeschäft bist du recht zufällig gelandet. Hattest du, bevor du ausgehend von einem Zufall Anfang der 90er-Jahre Teilhaber des East Village-Plattenladens Dance Tracks wurdest, irgendwelche Ambitionen, eines Tages dein Geld in der Musikbranche zu verdienen?

Joaquin Claussell: Nein, überhaupt nicht. Bevor ich bei Dance Tracks anfing, hatte ich eine ziemlich gute Karriere außerhalb der Musik eingeschlagen. Als ich dann doch im Musikgeschäft landete, versuchte ich mir meine eigene kleine Nische zu bauen. Im klassischen Sinne bin ich nie Teil dieses Geschäfts gewesen, noch nicht mal in der DJ-Welt bin ich jemals so richtig drin gewesen. Ich wertschätze diese Branche für das, was sie ist. Wäre ich aber so in ihr aufgegangen wie viele Leute um mich herum, hätte ich es mit Sicherheit nicht wirklich lange ausgehalten. Meiner Meinung nach ist das Musikbusiness nicht so nahe an der eigentlichen Sache, also der Musik, dran, wie sie es sein sollte. Ich umgebe mich lieber mit Leuten, die wie ich etwas erschaffen möchten. Wenn ich mich auf irgendwelche Businessleute verlassen hätte, wäre ich mit meinem Label längst nicht mehr hier.

„Dance Tracks war mein Club, das war der Ort, wo ich Platten auflegte.” 

Was hast du denn gemacht, bevor du bei Dance Tracks eingestiegen bist?

Joaquin Claussell: Ich habe sehr aufwändige und teure Dinge aus Holz gebaut, das beschränkte sich nicht auf Möbel. Ich habe damit wirklich gutes Geld verdient. Doch als Dance Tracks in mein Leben kam, hatte ich plötzlich die Möglichkeit, mit Musik mein Geld zu verdienen. Also entschied ich mich dafür. Ich freundete mich mit Stan Hatzakis, dem ursprünglichen Inhaber an. Anfangs hing ich dort einfach gerne ab oder legte im Laden Platten auf, doch eines Tages kam Stan auf mich zu und ließ mich wissen, dass er Dance Tracks verkaufen wollte. Gemeinsam mit einem Partner, Stefan Prescott, übernahm ich schließlich den Plattenladen. Der Laden war wirklich etwas besonderes, er war ein bisschen wie ein Club mit einem wirklich extrem amtlichen Soundsystem. Wir hatten dort alles, SL-1100-Technics-Plattenspieler, aber auch ein Tonbandgerät. Es gab gemütliche Ecken, wo du abhängen konntest. Dance Tracks war mein Club, das war der Ort, wo ich Platten auflegte. So ziemlich jeder aus dem Musikgeschäft kaufte bei uns ein. So lernte ich auch François Kevorkian und Danny Krivit kennen, beide waren Stammkunden. Eines Tages fragten sie mich, ob ich nicht Lust hätte, bei Body & Soul aufzulegen.

Joaquin Claussell 2021 (Foto: Seze Devres)

Die Body & Soul-Sonntage im Club Vinyl waren definitiv extrem beeindruckend und mit wenigen anderen Clubs vergleichbar, damals wie heute. Das Publikum war extrem gemischt, die Musik war ebenso breit gefächert. Ich erinnere mich daran, wie damals im August 1998 ganz am Schluss bei Putzlicht „Luxury: Cococure“, ein Track des R&B-Sängers Maxwell, gespielt wurde. Ich hatte Gänsehaut und feuchte Augen, weil eben alle diesen Moment so intensiv feierten und man das Glück in den Augen der Leute sehen konnte. Was hat Body & Soul für dich so besonders gemacht?

Joaquin Claussell: Oh ja, ich hatte diese Platte gespielt. Body & Soul war wirklich eine sehr besondere Partyreihe. Ich bin als Tänzer groß geworden in der Paradise Garage. Knapp zehn Jahre später kam Body & Soul. Für mich waren diese Partys eine unvergleichliche Erfahrung. Es fängt schon damit an, dass die Partys sonntags stattfanden, so etwas gab es damals in der Stadt nicht. Jedes Mal kamen zwischen 1.500 und 2.000 Leuten. Wir schafften dort eine Umgebung, in der es in allererster Linie um Musik ging. Leute aus aller Welt gingen dort aus genau diesem Grund hin und fühlten sich dort sofort zuhause. Du doch auch, oder?

„Manche Leute können es nicht nachvollziehen, dass ich nie mein Telefon aus der Tasche ziehe und das Publikum filme.”

Oh ja, definitiv. Ich hatte nicht das Gefühl in einem extrem angesagten Club zu sein, da war nichts, was einen in irgendeiner Weise einschüchterte. Ich erinnere mich auch daran, dass wir dort DJ Duke sahen, der in einer Ecke mit anderen Jungs einen Breakdance-Kreis gebildet hatte.

Joaquin Claussell: Ja, es waren wirklich ganz unterschiedliche Leute dort, die alle auf ihre Weise die Musik feierten. Meiner Meinung nach war das für New York City eine ganz besondere Zeit, die dann leider auch irgendwann wieder vorbei war.

Wäre eine Clubnacht wie diese im heutigen New York noch möglich? Wobei es ja keine Clubnacht im eigentlichen Sinne war, die Partys begannen ja am Sonntagnachmittag und endeten bereits um 22 Uhr. 

Joaquin Claussell: Vor zwei Jahren hätte ich gesagt: Na klar, nicht ist unmöglich. 

Joaquin Claussell 2021 (Foto: Seze Devres)

Okay, ich hatte die Pandemie eben ganz verdrängt.

Joaquin Claussell: Heute bin ich mir nur in einer Sache sicher: Die Musik wird uns nichts und niemand nehmen, Musik wird bleiben und uns weiterhin verbinden. Ich kann mir aber nicht vorstellen, dass es hier in New York City jemals wieder so werden wird wie damals bei Body & Soul. Ich hoffe, dass ich damit falsch liege. Im Augenblick fehlt mir aber der Optimismus, an eine bessere Zukunft zu glauben. Wir in der Musikbranche sollten uns aber einer Sache bewusst sein: Wir verfügen über eine ganz besondere Macht, über Macht der Musik. Wir müssen lernen, die spirituelle Macht der Musik und ihre positiven Schwingungen zu verstehen. Musik bringt die Menschen zusammen und versetzt sie in die Lage, gegen all das anzukämpfen. Wann immer ich auflege, möchte ich diese Energie vermitteln. Manche Leute können es nicht nachvollziehen, dass ich niemals mein Telefon aus der Tasche ziehe und das Publikum filme. Ich habe kein Interesse daran, von meinen Gigs ein supertolles Video für Instagram mitzunehmen. Wenn mich jemand anderes filmt oder fotografiert – das ist cool für mich, poste es. Aber ich selbst konzentriere mich auf die Kraft der Musik, die uns in diesem Moment zusammenbringt.

„Wir tanzten und blickten uns dabei in die Augen. Plötzlich hast du dich dabei ertappt, wie du dich zusammen mit jemand Fremdem im Groove der Musik und dem Moment verloren hast.” 

Damals bei Body & Soul tanzten die Leute miteinander. Das war natürlich nicht nur dort so, sondern eigentlich überall, ganz egal, wer da auflegte. Doch inzwischen sieht man das nur noch selten. Schon lange ist es so, dass die allermeisten Leute beim Tanzen in die Richtung der DJs schauen. Tut man das nicht, fühlt man sich ein bisschen wie ein Geisterfahrer. Wie siehst du das?

Joaquin Claussell: Schön, dass du das sagst. Ich vermisse das sehr. Als ich früher in die Paradise Garage gegangen bin, guckten die Leute nicht ständig zum DJ. Wir tanzten und blickten uns dabei in die Augen. Plötzlich hast du dich dabei ertappt, wie du dich zusammen mit jemand Fremdem im Groove der Musik und dem Moment verloren hast. Es soll nicht sarkastisch klingen, aber ich denke, wir haben diese Entwicklung Instagram zu verdanken. Heute haben viel zu viele Leute ständig im Kopf, direkt von der Tanzfläche aus den Moment abzupassen, in dem man ein cooles Video oder Foto machen kann, das dann auch direkt gepostet werden will. Wer fängt den besten Hands-in-the-Air-Moment ein? Verstehe mich aber bitte nicht falsch, ich bin jemand, der an Wandel und Fortschritt glaubt. Ich verbringe meine Tage nicht damit, der Vergangenheit nachzuhängen. Weißt du noch, wie schön es in der Paradise Garage war? Ich betrachte mich selbst als Futuristen.

Joaquin Claussell 2021 (Foto: Seze Devres)

Wenn du auf Body & Soul zurückblickst – an was denkst du besonders gerne zurück? 

Joaquin Claussell: Am liebsten denke ich an jenen Sonntag im Jahr 1996 zurück, an dem ich dort das erste Mal auflegte. Es gab natürlich viele weitere schöne Momente. FK (François Kevorkian, Anm. d. Red.) und Danny Krivit hatten mich drei Monate vor der Eröffnung schon mal gefragt, ob ich nicht Lust hätte. Aber ich hatte zunächst abgelehnt, weil mir das neben der Arbeit bei Dance Tracks einfach zu viel war. Als dann schließlich die Party zu Ehren von Larry Levans Geburtstag anstand, sagte ich schließlich zu. Und da war ich nun und sollte zusammen mit Danny Krivit, François K und Joey Llanos, der früher in der Paradise Garage aufgelegt hatte. Außerdem war noch der Lightjockey der Paradise Garage am Start. Mehr als 2.000 Leute waren da, die Atmosphäre war unglaublich, da war so eine Energie im Raum. Die Leute konnten unterschiedlicher nicht sein, alle Hautfarben, alle sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten. Man hatte wirklich das Gefühl, dass der Geist von Larry Levan anwesend war. Die Party lief zwar schon drei Monate lang, aber das war der Sonntag, an dem Body & Soul zu dem wurde, was es die nächsten Jahre war. Von da an war jede Woche irgendwie anders und besonders. Schon bald war Body & Soul in aller Welt bekannt – und das in einer Zeit, als noch so gut wie keiner Internet hatte.

„Ursprünglich wollte ich das Album Raw Tones – Pandemic Blues nennen, weil ich den Blues fühlte.” 

Heute betreibst du neben deinem Label Sacred Music in Brooklyn auch noch das Cosmic Arts Community Center. Ein Laden, in dem es unter anderem Platten gibt, ist integriert, aber um den geht es offenbar nicht in erster Linie. Worum geht es dort?

Joaquin Claussell: Es ging mir darum, ein Forum für Kunst und Musik zu schaffen. Cosmic Arts befindet sich mitten in dem heute angesagten Kunstviertel in Brooklyn, in East Williamsburg. In dem Gebäude, das The Bogart heißt, sind außerdem noch Galerien drin. Somit gehen da alle möglichen Leute ein und aus. Bei mir können sie dann chillen oder etwas kaufen, wenn sie möchten – Platten oder Kunst. Ich veranstalte dort auch regelmäßig Musik-Events oder Lesungen. Wichtig ist, dass sich die Leute bei mir wohl fühlen, dass sie ein Gefühl von Liebe spüren.

Joaquin Claussell 2021 (Foto: Seze Devres)

Im Sommer 2021 ist dein neues Album Raw Tones auf Rekids, dem Label von Radio Slave erschienen. Ursprünglich hast du es schon eine Weile vorher auf Kassette herausgebracht, aufgenommen hast du es bei dir zuhause. Ohne den Lockdown der ersten Corona-Monate hätte es dieses Album wohl nicht gegeben, oder?

Joaquin Claussell: Nein, ganz sicher nicht. Ich bin jemand, der normalerweise immer in Studios arbeitet. Ich produziere meine Musik nicht zuhause. Entsprechend habe ich zuhause auch gar kein Setup. Doch ich hatte das unbedingte Bedürfnis, kreativ zu sein. Ich dachte: Scheiße, wie kriege ich das hin? Aber ich habe mich umgesehen und ein bisschen gewühlt und fand meinen 4-Spur-Portasound-Tape-Recorder von Tascam. Es ist viele Jahre her, dass der mir zuletzt begegnet ist. Das Ding war ziemlich eingestaubt, also habe ich es gesäubert. Aber Moment, Kassetten brauchte ich ja auch noch. Ich durchsuchte alles und fand tatsächlich einen Karton mit Leerkassetten. Ich war total happy und stöpselte alles zusammen, den Portasound-Rekorder, meinen Drum-Sequencer, ein Mikro und ein paar Effekte. Obwohl Raw Tones das vermutlich düsterste Projekt von mir jemals ist, fand ich es total erfrischend, so zu arbeiten. Man muss sich vorstellen: Das war genau die Zeit, als in New York gar nichts mehr ging. Alles war geschlossen. Und was schallt den ganzen Tag lang von der Straße rein? Die Sirenen von Feuerwehrautos und Krankenwagen. Und die Regierung sagte: Leute, bleibt zuhause. Ich dachte nur: Scheiße, was ist hier eigentlich los? Zum Ausgleich habe ich mich in der Musik verloren, jeden Tag. Das Album habe ich innerhalb kürzester Zeit aufgenommen. Manchmal hatte ich nach zwei Stunden schon einen Track fertig. Ursprünglich wollte ich das Album Raw Tones – Pandemic Blues nennen, weil ich den Blues fühlte. Das Album ist eine musikalische Dokumentation einer Denkweise, die sonst so gar nicht meine ist. Weil ich die Tracks auf Kassette aufgenommen hatte, entschloss ich mich dazu, sie auch auf Kassette zu veröffentlichen. 

François Kevorkian & Joaquin Claussell bei Body & Soul in New York 1997 (Foto: Archiv Joaquin Claussell)

Schon sehr bald kontaktierte mich Matt Edwards und fragte mich, ob ich das Album nicht auf Rekids herausbringen wollte. Anfangs war ich von der Idee gar nicht begeistert, doch Matt blieb dran. Wir kennen uns ja schon lange und hatten bereits zusammengearbeitet. Damals fragte er mich, ob ich dieses The Machine-Album, das er gemacht hatte, nicht komplett neu interpretieren wollte. Das war für mich eine große Ehre, denn es zeigte, wie sehr er meine Musik schätzt. In diesem Zusammenhang hatte ich ihn als extrem professionellen und zukunftsorientierten Menschen kennengelernt. Ich habe großen Respekt vor dem, was er mit Rekids macht. Und so sagte ich schließlich ja, als er mich zum zweiten Mal fragte. Ich bereue es nicht, alle Leute, die für Rekids arbeiten, haben einen phänomenalen Job gemacht.

Wäre es bei dem Tape-Release geblieben, hätte kaum jemand dieses sehr intensive Album mitbekommen.

Joaquin Claussell: Ja, natürlich. Ich bin über meine Entscheidung auch glücklich. Aber hätte sich nicht diese Möglichkeit aufgetan, wäre ich genauso zufrieden gewesen. Wenn ich Musik herausbringe, geht es mir nicht um Reichweite oder Lob. Glaub mir, ich mache all das vor allem für mich.

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