Boo Williams – Best Of Boo Williams (Boo Moonman)
Stampfende Maschinen ziehen los, geben Tempo und Rhythmus vor, es entsteht ein Sog, dessen Form sich durch kleine Percussion-Änderungen immer wieder wandelt. Dazu kommen Melodien von Synthesizern oder Piano, die sich stetig entfalten. Die Tracks von Boo Williams feiern Direktheit, der Produzent aus dem US-amerikanischen Chicago wählt für seinen House-Sound die reduzierte Form. Ein catchy Groove, der voran stampft, manchmal, wie bei „Feeling Good“, in einen housigen Hip-Hop-Jam stolpert, dazu harmonische Melodien, die sich in Klangschleifen um den Beat winden.
Als Teil der zweiten House-Generation begann Boo Williams in den frühen 1980ern, beeinflusst von der ersten Generation wie Frankie Knuckles oder Ron Hardy, aufzulegen, seit Mitte der 1990er produziert er. Aus der Vielzahl von Tracks, die Willie Griffen, wie der Musiker bürgerlich heißt, unter Pseudonymen wie Moon Man, Mandrake oder eben dem bekanntesten, Boo Williams, produziert hat, wurden für Best Of Boo Williams zehn ausgewählt. Sieben davon sind zwischen 1999 und 2001 erschienen. Dazu kommen drei frühe Stücke von 1995 und 1996, zwei davon von seinem Debütalbum Home Town Chicago. Boo Williams hat in fast drei Jahrzehnten eine Menge Musik veröffentlicht, hier präsentiert er, was seine Handschrift ausmacht. Sein ausgefeilter Sound, der Dancefloor und Jazz auf energetische Weise verbindet, ist auch heute noch überzeugend. Philipp Weichenrieder
On In Out (Advanced Public Listening Recordings)
Die Auftakt-Compilation On In Out des Labels Advanced Public Listening Recordings ist in mehrerlei Hinsicht beeindruckend. Zum einen ist da der Umfang: Ganze 22 Tracks verteilen sich auf vier 12-inches beziehungsweise zwei CDs. Zum anderen ist da die Tatsache, dass sich darunter viel Prominenz tummelt: Roman Flügel, Move D, Hans-Joachim Roedelius, Atom™, Ricardo Villalobos und Matthew Herbert sind etwa dabei – und übrigens mit Julie Marghilano nur eine einzige Solo-Künstlerin. Labelbetreiberin Miho Mepo ist seit über 20 Jahren in der internationalen Szene aktiv und offenkundig bestens vernetzt. Sie gab den versammelten Artists die Losung “no rules, no ego, no pride but pure essence of real music” auf den Weg.
Das äußert sich im ersten Viertel in ambienten Jazz-Stücken, bevor die Rhythmen fordernder und der Ton schroffer wird. Thomas Brinkmann etwa glänzt mit einer schubbernden Happy-Hardcore-Abstraktion, Move D mit einem bluesigen Downbeat-Jam und Tyree Cooper mit Breaks, die von nahezu atonalen Strings akzentuiert werden. Atom™, Matthew Herbert oder Ricardo Villalobos sind mit nahezu klassischem Material vertreten – die Art von Tracks, die eben nur von ihnen kommen kann. Mit Mixmaster Morris beziehungsweise dessen Projekt The Irresistible Force endet On In Out dann mit einem frühen Helden von Miho Mepo, der zum großen Finale einen fulminanten blubbernden Stepper hinlegt.
Es gibt in dieser ausschweifenden Compilation viel zu entdecken und die musikalische Bandbreite ist mehr als beeindruckend – Marghilano, Pierre Bastien oder das gleich doppelt vertreten Duo Takeshi Nishimoto + Roger Döring insbesondere brillieren mit unkoventionellen Sounds und Rhythmen, die sich perfekt ins vielseitige Gesamtbild zwischen die (Post-)Minimal-Music-Exerziten eines Thomas Fehlmann und den hektischen, Drums-getriebenen Experimenten des Japaners Zakino einpassen. On In Out mag auch dank seiner mehr als ausschweifenden Linernotes von Ken Hidaka und Naohiro Ukawa wie ein Personality-fokussiertes Vanity-Projekt scheinen – in der Tat aber handelt es sich um eine wahre Schatzkiste voll scheuklappenloser Musik, wie sie sonst nur selten zu finden ist. Kristoffer Cornils
Proximity II (Pure Space)
Das Pure-Space-Label: Verantwortlich dafür ist die Bookerin Andy Garvey des Community-Radio-Senders FBi Radio aus Sydney. Ihre Various-Artists-Fundraiser-Compilation Proximity II schleppt sich wie eine unheimliche Doppelfolge der X-Files durch die junge Soundtüftler-Ecke der australischen Elektronik-Szene. So startet die geheime Operation auf einem knarzenden Zerstörer, der von geschmackvollen Neunziger-Zitaten zehrt. Die gut geölten Kanonen des Schiffs schießen die Hörer*innen mit Ambient-Soundlayern (Hüda “Coffee with G”, Sandpit Alias “Macroworld”, Mike Midnite & Lia T “Untiteled”) und 1960s-Avantgarde-gone-Richard-Clayderman-Experimenten (Grace Ferguson “Deute”) in die 1990er-Jahre zurück.
Die Tracksammlung kämpft sich so zu melodischem, indisch-britischem Tabla-Dub mit Deephouse-Elementen und zur Asian Dub Foundation vor (Pugilist “Jade”). Als blutiges 2-Step-DnB-Kettensägen-Massaker verteilt sie die genmanipulierten Tentakel der Musikhistorie irgendwo in den UK-Midlands (Dividens “Paradox”). Consulates “Auto Da Fe” faschiert dort auch fromm den Amen Break zu klassischem Jungle. Und im Nachbardorf “zerbreakt” die sexy Hillbilly-Familie auf ihrem Schrottplatz im Acid-Bad die Knochen unzähliger Dorfpub-Cyborgs (Monako “Savannah”, Andy Garvey “Path to the Dark Side”). Die überlebenden Replikanten fliehen hinkend mit Circas “Asteroid Blues” durch das nächstgelegene Tannhäuser-Tor.
Mit IN2STELLARs “Voyage” donnern Mulder und Scully weiter zu den richtig üblen Aliens. Schleicht sich dort Reptant mit “T.O.R Approach” von hinten an verängstigte Mystery-Serien-Fans heran? Und verwandelt sich Sam Brickel auf dem Sammelsurium gerade in “Mystique”? Hilfe ist vom Cover, das die übliche glossy CGI-Oberfläche der Zehnerjahre des 21. Jahrhunderts re-enacted, nicht zu erwarten.
Proximity II kann man sich sehr gut Sonntag morgens nach einem Netflix-SiFi-Sleepover zusammen mit übrig gebliebener kalter Pizza zum Frühstück reinziehen. Das musikalisch harmonische, schön produzierte Label-Showcase erfindet aber die Breakbeat-Welt nicht neu. Die Gleichstellung von Musikproduzentinnen auf der Compilation ist allerdings cool und upfront. Mirko Hecktor
Reactions Vol. 2 (Erbium)
Über Bristol steigen Dämpfe auf, die nicht in Vierviertel-Destillaten abgefüllt werden. Peverelist hat uns das zuletzt ausführlich erzählt. Wer Platten von Livity, Hessle oder Keysound auf den Teller legt, knattert selten mit dem Technomoped in die Stadt, sondern mit der E-Kiste aufs Land. Dass man in südenglischen Gefilden auch auf seltenes Gestein stoßen kann, deckt Erbium Records auf – ein Label, für das man sich den Kittel über die Schultern und eine Schutzbrille auf die Nase hängt. Wer den Chemiebaukasten nur von der Clubtoilette kennt, zu oft am Bunsenbrenner geschnüffelt hat oder das Periodensystem für eine Tetris-Kopie hält, bekommt mit Reactions Vol. 2 Grundlagenwissen vermittelt. In zwölf einfachen Schritten tröpfeln Bristol-brewed-Beats ins Reagenzglas, bis man das Zeug wie Ahoj-Brause runterschütten kann. Davor wiederholt SDS MAX den Stoff des letzten Rave-Semesters, Kim[bal] hängt sich links aus dem Fenster raus, Harry Oscillate flext zur großen Pause mit seiner Wellness-Playlist und KWAKE betet vor der Klassenarbeit zwölf Amen Breaks. Wieder nix gelernt, aber alles gutgegangen. Hauptsache, die Bude fackelt nicht ab. Christoph Benkeser
System 01 – 1990-1994 (Mannequin)
Wer Anfang der Achtziger nach Berlin ging, der wollte höchstwahrscheinlich in einer punkigen DYI-Combo Musik machen. So auch Johnny Klimek, der 1983 aus Melbourne, Australien emigrierte. Nach einem Bandprojekt mit seinen Geschwistern zog es Klimek aber bald tiefer in den aufkeimenden elektronischen Untergrund der Stadt. Etwa zeitgleich, ein paar Jahre später, fand auch Paul Browse seinen Weg aus England nach Berlin. Gemeinsam formten die beiden unter anderem das Techno-Duo System 01, dessen gesammelte Werke für Tresor und Interfisch auf dieser Compilation nochmal das Licht der Welt erblicken.
Die Zusammenstellung umspannt die kurze, aber produktive Schaffensphase des Projekts von 1990 bis 1994. Von der Debüt-EP Psychodelics To Cybernetics bis zum wohl bekanntesten Album Drugs Work. Die erste Platte paarte die Stimme von LSD-Advokat Timothy Leary mit frühen Technobeats und funky Basslines (Klimek war selbst Bassist und tourte etwa 1996 mit Nina Hagen); Drugs Work ist immer noch voll von Vocal-Samples rund um Rausch und Substanzen, meist aus obskuren Soundtracks gefischt (diese würde er später selbst komponieren – gerade hat er den neuen Matrix-Film vertont).
Aus heutiger Sicht wirkt das Werk von System 01 vielleicht ein wenig altbacken oder aus der Zeit gefallen. Mit seinen stark auf Psychedelica und deren Konsum ausgerichteten Samples und den oft überdrehten Sounds folgt System 01 klar einer (damals vorherrschenden) Mehr-ist-Mehr-Ästhetik. Aber als verlässlicher Spiegel der damals dominierenden Technokultur und der möglicherweise aufregendsten Zeit im Berliner Untergrund ist diese Rückschau alle Male einen Blick wert. Leopold Hutter