2022 wird ein gutes Jahr. Es kommt zwar erst, aber ich sag’ es mal. Weit lehnt man sich damit nicht aus dem Facebook-Fenster. Viel beschissener als die letzten 24 Monate kann es nicht werden. Vorsorglich sollte man trotzdem die Webcam wachsen, den Ton fürs Töpfern einweichen und die Jogginghosen nach Zoom-Meetings sortieren. Nachdem man sich zum Weihnachtsfest von seinen liebsten Feinden, den eigenen Verwandten, den neuesten Shit aus Telegram-Gruppen erzählen ließ, atmet man dreimal in die FFP2-Maske, lädt das Kassettendeck durch und rattert mit zehn Tapes durch den Dry January. Groove präsentiert zum beschwerlichen Jahresbeginn zehn Tapes – zwischen Schneeballschlacht auf der Herrentoilette, Power-Workouts mit Pamela Reif und einer Initiativbewerbung am Berliner Flughafen.
Aiko Aiko – Radical Nopionion (Whales Records)
Hätten sich Nils Frahm und Lana Del Rey von Four Tet verkuppeln lassen, um eine Platte zu produzieren, bei der Klimper-di-Pimper und Streicher-Einheiten den Totentanz einer Beerdigung nachempfinden, das Ergebnis hätte so ähnlich geklungen wie Aiko Aikos Radical Nopinion. Das Wiener Düster-Duo um Nada Aiko und Pascal Holper gibt’s seit zehn Jahren, das Tape auf dem französischen Label Whales Records ist das zweite Album. Man spielte schon Support für Dirty Beaches und auf der Nation of Gondwana. Radical Nopinion schickt trotzdem heftiger als eine Schneeballschlacht auf der Herrentoilette. Allein mit „Ai Lat” steppen die beiden aufs Stockerl für die Hymne des Jahres – ein Tape wie ein Film von Matthew Barney, bei dem man nicht weiß, ob man im White Cube oder Technokeller gelandet ist.
Employee – Hold Music Vol.2 (Beatbude)
Kleines Yoga-Einmaleins: Am Abend gibt man sich den Rest und am nächsten Morgen die Recreation. Glücklicherweise sorgt die Beatbude aus Neukölln für den passenden Smoothie-Soundtrack, bei dem Friends von Fischerhüten ihre 180-Euro-Teppiche bei Hare Krishna auslüften. Um endlich mal richtig krass zu detoxen. Ich schwör, keine Drugs für mindestens drei Tage! Vodka-Mate zählt nicht, oder? Na ja, der als Employee des Monats getarnte Berliner Max Graef hat für die Beatbuden-Sitzsäcke seine zweite Warteschleifen-Platte veröffentlicht. Mit Hold Music Vol. 2 wählen dreamy Süßibois freiwillig die Hotline der Sexy Sportclips. Einfach, um der schönen Musik zu lauschen und sofort erschrocken aufzulegen, wenn doch jemand rangeht. Was ein Zufall, dass es den musikgewordenen Traumfänger jetzt im Doppelpack auf einem Tape gibt! Damit spart man sich garantiert nicht nur die Nullneunhunderter-Nummer.
A/B – A/B (sama recordings)
Techno, Tropen, Tralala! Was Jan Herb und Sandro Nicolussi auf A/B zwischen Berlin und Wien transferieren, stelzt mit drei Ausfallschritten in den Kunstnebel, poscht gegen einen Kaugummiautomaten und spült die bunten Teller-Teile mit Magenbitter-Bumms-Tata zum Sonnenaufgang runter. Habedere, Hustensaft – das sind sechs Stücke als Visitenkarte für den elektronischen Baukasten zwischen Ambient-Ausnahme und Draufgänger-Dub, Techno im Malkurs für Fortgeschrittene und Balla-Balla-Breaks, bei denen man beim Power-Workout mit Pamela Reif drei Kilo runterspeckt. Erschienen bei Vienna’s Finest sama recordings, haut’s einem auf dem Weg zum Dancefloor schon mal die Schublade aus dem Leierkasten. Ein Tape für alle, die Techno noch ernst nehmen.
Various Artists – In. SEMANTICA 130.4 (Semantica Records)
Neun von zehn Zahnärzten empfehlen Semantica Records. Das Techno-Label von Svreca aus Madrid existiert mittlerweile 15 Jahre und hat schon manch dahinsiechende Dentol-Existenz vor der Wurzelbehandlung bewahrt. Deshalb läuft das Ballerzeug auch in Wartezimmern zwischen Kreuzberg und Kinshasa. Alles Quatsch. Wer sich schon mal das Viervierteldröhnen mit Pupillen wie Pirellireifen gegeben hat, dürfte von Semantica gehört – oder Tracks von Silent Servant oder Oscar Mulero geballert haben. Schließlich gehören die Teile auf die Langstrecke, Dancefloors kollabieren mit dem Material aus Menschen, die alle kauen, ohne zu essen. Der Labelsampler macht sich deshalb nichts vor. Von Yukari Okamura bis Mary Yuzovskaya und Laura BCR ist das Tape ein Paradeprojekt für trendresistenten Techno, der vor 20 Jahren funktioniert hat, heute den Tresor durchpustet und in 100 Jahren immer noch Beine in Beton stampfen lässt.
Jeff T Byrd – Nighty Night (Fort Evil Fruit)
Jeff T Byrd hat es aus den USA ins Schnitzelparadies verschlagen. Er dreht Musikvideos, komponiert Soundtracks für Filme – und bastelt seine eigene Musik. Außerdem ist Byrd eine Hälfte der Budokan Boys, die letztes Jahr ein Trauer-Tape veröffentlichten – irgendwo neben Klaus Nomis Kopfstimmenkrawall und Gaga-Opern von Herbert Fritsch. Für sein Soloprojekt schnipselt Byrd aber besonders gern an Field Recordings rum, weil er – wie man in Wien sagt – ein Handerl dafür hat. Nighty Night besteht aus Tapes, die sein Vater in den 80ern aufgenommen hat. Sirenen, Flugzeuge, US-Fernsehen und Pornos. Dazu klemmt sich Byrd hinters Piano und prustet durch die Jazztröte. Zwischen Rotweinflecken auf der Rolf-Benz-Couch, einem verregneten Nachmittag in der 25hours-Lobby und Schmuddelkassetten erlebt man strangere things, als sie sich David Lynch jemals hätte ausdenken können.
Various Artists – Compilation Conviviale (Radio Sofa)
Radio Sofa klingt nach Füße-Hoch-Vibes im Deluxe-Massagesessel. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Radiostation. Aus Paris. Der Stadt der Liebe – je t’aime, je’taime! Für den ersten Sampler, den die lieben Leute von Sofa quasi auf dem Sofa aufgenommen haben, checkt man am Gare de l’Est in den Euronight-Zug für einen klimacoolen Kurztrip durch Europa ein. Nächste Halts: München, Neapel, Odessa und Berlin. Die Reihenfolge ist egal. Hauptsache, die Nacht strahlt, während im Speisewagen eine Secret-Dinner-Party mit 14 Gängen steigt. Wer danach doch noch träumen will, muss zwischen Mosleo oder Jose Manuel und Residentes Balearicos mit der Zugbegleiterin quatschen. Oder Radio Sofa eine E-Mail schreiben. Um sich diesen 90-minütigen Trip ins Kassettendeck zu schieben, sollte man natürlich das vernudelte Französischheft aus der Neunten auspacken. Alors, Bonjour. Wuleehh wuuhh?
Daniel Craig – Memory Garden (Econore)
Wer sich immer noch ASMR-Videos von halbnackten YouTube-Influencer*innen reinzieht, hat die neue Knisterknarz-Kassette von Ex-Agent Daniel Craig nicht gehört. Der in Berlin lebende Aussie durfte für Econore aus Mönchengladbach ein Tape aufnehmen, bei dem Herzen bumpern und Lippen schmatzen – aber vor allem die Spulen rauschen, bis sich Burials Erzengel mit dem vergesslichen Caretaker zusammentut, um vor Entzückung das Weihnachtsoratorium anzustimmen. Soll heißen: Man muss nicht an Geister glauben, um welche zu sehen. Auf Econore, dem Label von Julian Flemming und Ramco, lauern die Gruselgestalten sowieso hinter jeder A-Seite. Dass Craig mit Memory Garden Proust’sche Teetunker-Momente auf 18 Tracks brennt wie Erinnerungen in den Hippocampus, muss man trotzdem gehört haben. Adele sei Dank auch ohne Shuffle-Modus.
Yaporigami – IDMMXXI-R (The Collection Artaud)
Yu Miyashita alias Yip Origami alias underarrow hat auf Labels wie Mille Plateaux oder Detroit Underground veröffentlicht. Der in Brighton geborene und in Berlin lebende Producer mit dem schönen Haupthaar weiß also, wie man das Ganzkörper-Stretching zwischen Gletscher-Glitches und Techno-Tamtam hinbekommt, ohne sich beim Twistern das Kreuz zu verreißen. Mit IDMMXXI-R erscheint außerdem ein Tape auf seinem eigenen Label The Collection Artaud. Ergebnis: Abfahrtstraining auf der schwarzen Piste, aber in Zeitlupe – als hätte sich Squarepusher die Carvingski unter die Füße geschnallt, um die Streif runter zu pflügen. Oder sich Extremsport-Videos auf einem Mix aus Red Bull und Valium reinzupfeifen. Ist auch egal. Am Ende weiß man ohnehin nicht mehr, wo man die ganzen Flügel hinstecken soll, die einem während der neun Tracks über den Kopf wachsen. So einen Release wünscht sich Warp zum 30. Geburtstag. Zum Glück haut Miyashita das Ding in einem schick-schlichten Tape schon jetzt raus. Überfliegermukke!
Clafrica – Elefante EP (PARADOXY)
Clafrica. Producer aus Sizilien, in der Reggaeszene aufgewachsen, mit zwölf die ersten Plattenspieler gecheckt. Mittlerweile wohnhaft in Edinburgh, den Master in Sounddesign erbüffelt und die 808 in den Schwitzkasten genommen. Der Mann weiß also nicht nur, wie man eine Basstrommel zu tektonischen Verschiebungen antreibt, sondern bringt auch das nötige Equipment dafür mit, um die Elefante EP in den Porzellanladen zu jagen. Für das Kreuzberger Label PARADOXY scheppern die Kristallgläser im Küchenkaschtl. Man gießt Acid auf Orangensaft, schlabbert an einer Autobatterie und kreiselt so lange mit den Armen, bis der Tanzstil als Initiativbewerbung am Berliner Flughafen durchgeht. Wem das zu viel Hustle ist: Tape holen, aufdrehen, Boom!
Sundl – Sundl II (Cut Surface)
Christian Sundl, der Nosferatu des Wiener Nachtlebens, hat den Shining-Streifen neu vertont. Zumindest könnte einem das durch den Frontallappen geistern, wenn man sich die zweite Soloveröffentlichung des Wilhelm-Show-Me-The-Major-Label-Caretakers reinpfeift. Es gruselt und spukt in der Proseccobar des Overlooks. Sundl packt die Drehorgel aus und schnuppert am Sandelholz, entscheidet sich aber doch für die bewährte Mischung: Weihrauch und Myrrhe. Schließlich ist die Messe angerichtet, die Tchibo-Kerzen flackern. Ein Karpfen wird zu Ehren des heiligen Christopherus filetiert. Wer die Beats vom ersten Tape vermisst, muss wissen: Die hat der gute Mann in Zimmer 237 hinterlegt. Na, wer traut sich jetzt?