Die zahllosen Charity-Compilations von letztem Jahr ließen das Segment explodieren. So wichtig es ist, das Netzwerk in der Krise am Leben zu erhalten und den Musiker*innen im eigenen Umfeld auch in dieser Zeit ein Forum zu verschaffen, klangen viele dieser Zusammenstellungen doch oft ein wenig beliebig. Einmal mehr wurde deutlich, dass Compilations eine Kunstform für sich sind, dass es auch 2021 darum geht, heterogene Ansätze in ein kohärentes Ganzes zu überführen. Zwischen Label-Werkschauen und Archiv-Zusammenstellungen bieten die folgenden, alphabetisch angeordneten Compilations über die bloße Kurationsleistung hinaus einen enormen Mehrwert.

Heisei No Oto – Japanese Leftfield Pop From The CD Age 1998 – 1996 (Music From Memory)

In den letzten zehn Jahren wurde japanische Musik aus den 1970er und 1980er Jahre – City Pop, New Wave, Ambient, japanischer Rare Funk und Jazz, aber auch 1990er-Jahre-House etwa von Far East Recordings – wegen des leichteren, digitalen Zugangs auf den DJ-Bar-Tanzflächen und in den kleineren Clubs Europas wieder entdeckt. Durch die stärkere Nachfrage nach den teils seltenen Platten schossen die Preise durch die Decke. Seither konzentrieren sich die beiden Compiler von Heisei No Oto – zwei Plattenläden-Betreiber aus Osaka, Eiji Taniguchi von Revelation Time und Norio Sato von Rare Groove – darauf, Japan nach unbekannten CD-Veröffentlichungen abzusuchen, von denen nun eine Auswahl auf Music From Memory erscheint Gerade mit dem ökonomischen Aufschwung der Heisei-Ära, die mit der Regierungs-Periode des Kaisers Akihito ab dem Ende der 1980er-Jahre einher ging, der popkulturellen japanischen Obsession zu neuen Technologien und sicherlich auch wegen des kulturellen Phänomens des Kawai, der Verniedlichung als Zeichen des Übergangs, ist es nicht verwunderlich, dass die Compilation eine Ansammlung geisterhaft-süßlichen, mopsig-niedlichen, nobel-verspielten Ambient-Synth-Pop-Songs geworden ist. Zwischen japanischer 1980er-Cutting-Edge-Technologie – Roland Synthesizer, Sampler, Vocoder und 808-Drumcomputer, Naturklängen, Zen-Buddhismus, Asian-Balearic, Slow-Italo und New-Beat-Creol-Grooves a lá Wally Badarou entspinnt sich in 16 Tracks eine träumerische Reise, die Cabrio-Fahrten im Sommer-Sonnenuntergang 2021 in allen Spiegel-Wolkenkratzer-Metropolen der Welt in Zeitlupen-triefenden Honig tauchen wird. Mirko Hecktor

Steve O’Sullivan – Green Trax (трип)

Bis zur Mitte der 1990er-Jahre war die Londoner Techno-Szene noch ein kleines Dorf, jeder kannte wirklich jeden. Puristischer Techno spielte in den Clubs eher eine Nebenrolle. Zu den Leuten, die stellvertretend für diese kleine, ab 1995 an Fahrt aufnehmende Szene standen, ist Steve O’Sullivan zu zählen. Der verbrachte seine Teenager-Tage in den Achtzigern mit Electro-Hip-Hop, Depeche Mode und New Order. Doch im Nordwesten Londons, wo er aufwuchs, war man auch immer mit Reggae konfrontiert – ein Einfluss, der für O’Sullivan noch wichtig werden würde. Am deutlichsten war dieser auf seinen späteren Bluetrain-Produktionen zu hören. Doch auch die minimalistischen Tracks, die er ab 1995 in seiner Green-Serie veröffentlichte, waren nicht allein von Vorbildern wie Robert Hood oder Jeff Mills geprägt. Dub spielte auf diesen fünf Veröffentlichungen ebenfalls eine Rolle. 

Die Platten waren bloß mit einem grünen Label versehen, von der Nummerierung in französischer Sprache abgesehen gaben sie keine weitere Information preis. Langlebiger als die Green-Serie war sein Label Mosaic, dort war er bis zum Jahr 2003 umtriebig. Doch nach der Insolvenz des damals wichtigen UK-Techno-Vertriebs Prime zog sich O’Sullivan für knapp zehn Jahre ganz aus dem Geschäft zurück. An einer Wiederveröffentlichung seines Kataloges zeigte der Londoner bisher kein Interesse. Er wolle nicht als Techno-Dinosaurier von seiner Vergangenheit leben, sagte er 2014 in einem Interview mit dem Blog Innate. Dass Steve O’Sullivan nun doch sein Archiv geöffnet hat, ist Nina Kraviz zu verdanken. Für die Compilation Green Trax hat O’Sullivan der Russin neben zehn Highlights aus dem Green-Katalog (die nun erstmals Tracktitel tragen) auch drei bisher unveröffentlichte Aufnahmen zur Verfügung gestellt. Das Spektrum der Green-Tracks reicht von kompromisslos straight („Grænn“ oder das bis dato unveröffentlichte „Hijau“) über klar konturierten Techno-Minimalismus mit Dub-Einflüssen („Berdea“) bis hin zu eher verschachtelten Produktionen („Kijani“). Zirka 25 Jahre später klingt der Sound dieser Steve O’Sullivan-Produktionen noch immer irre frisch. Holger Klein

Solidarity 002 (Durch)

Die Corona-Zeit, dieses lästige Thema, das man stets versucht aus Gesprächen, Texten und Musik zu verbannen, schleicht sich doch irgendwie in alles ein. Es ist eben unumgehbar. Und bringt Probleme, die primär erstmal überhaupt nichts mit der Krankheit selbst zu tun haben. So etwa der Verlust wichtiger Freiräume für marginalisierte Gruppen der Bevölkerung. Die Queer-Community ist eine dieser Gruppen. Clubs und Partys dienen oft als Safe-Spaces für gegenseitigen Support, für Austausch und Begegnung. Viele Angehörige dieser Gruppen fühlen sich ohne diese Safe Spaces wieder an den Rand gedrückt, ausgeschlossen und allein. Umso wichtiger ist es daher, andere Formen der Unterstützung und des Zusammenhaltes zu finden. 

Das queere Party-Kollektiv Durch aus Berlin und Tel Aviv hat sich das zur Aufgabe gemacht und veröffentlicht mit Solidarity 002 die zweite Compilation, deren Einnahmen an soziale Einrichtungen und Initiativen gespendet werden. Diesmal geht der gesamte Profit an TrIQ, einen Verein, der sich für trans, inter und queer lebende Menschen einsetzt und an das Trans, Queer und Inter Community & Health Center Casa Kua in Berlin.

Musikalisch ist Solidarity 002 eindeutig eine Ode an den Dancefloor. An einen dunklen stickigen Raum. An schwitzende Massen. An sich nah sein. Die Crew hat sich harter, schneller und düsterer Musik verschrieben. Dass Genres wie Gabber schon längst wieder angekommen sind, beweist das Berliner Duo Brutalismus 3000 mit seinem Track „Satan Was A Babyboomer”. Auf gut 160 BPM treffen eine Genre-typisch schnarrende Kickdrum und ein Vocal, das immer wieder den Tracktitel ins Getümmel schreit, aufeinander. Mit „Mehr Schein Als Sein” lenkt Sylvie Maziarz die Stimmung wieder ein wenig mehr in Richtung Ruhe. Die Kick-Drum ist dumpfer. Eine Stimme erzählt. Das Tempo bleibt auf Trapp. Zum ekstatischen Höhenflug setzt Metaraph mit seinem Track „Contaminations” an. Melancholische Pads auf der einen Seite und harte, maschinelle Rhythmen auf der anderen erzeugen eine energiegeladene Harmonie. „WIITWD” von Glitchgirl schafft einen interessanten Kontrast aus schnarrender Gabber-Akustik im Wechsel mit klickenden gebrochenen Beats. Abgeschlossen wird das Album von einem emotionalen Beitrag von AMRTÜM. „Pleiades” bildet als synthiger Acid-Techno-Treiber das Ende dieser Compilation – könnte aber auch gut und gerne am Anfang einer langen Nacht stehen. Jan Goldmann

Seefeel – Rupt and Flex (1994-96) (Warp)

See? Feel? Hear! Die allererste Gitarren-Band, die jemals auf Warp Records veröffentliche, schlittert mit frischen Reissues aus den 90ern in die Playlist. Seefeel, die Träumelinchen um Sarah Peacock und Mark Clifford, waren schon immer eine Mogelpackung für verkannte IDM-Puristen. Aphex Twin war Fan, remixte ihre Stücke und brachte die Band nach ihrem Debüt zu Rephlex. Kein Wunder, dass Warp-Head Steve Beckett später anklopfte, um die Electronic-Fraktion mit Sack und Pack auf sein Label zu locken. Seefeel tourten mit den Cocteau Twins, drei Alben erschienen bis 1996, dann war Sense. Autechre mischten an einigen Stücken in den 2000ern rum, Richard D. James spulte einen Mix for Cash ab. Ansonsten: Stille. Peacock und Clifford holten 2008 mit DJ Scotch Egg und E-Da neue Leute in die Band. 2011 erschien Seefeel auf Warp Records. Über zehn Jahre später springt man zurück zum Ursprung. Das Set Rupt and Flex (1994-96) zeigt, warum die Band in den 90ern Brücken zwischen Dream Pop und IDM, zwischen Post-Rock und Drone schlagen konnte. Wer sich von den drei Dutzend Tracks nicht einlullen lässst, folgt Spuren von Labradford und Flying Saucer Attack, um dabei zuzuhören, wie My Bloody Valentine mit Portishead ein Kind zeugen – und es auf den Namen Amber taufen. See? Feel! Christoph Benkeser

Now Thing 2 (Chrome)

Seit 2016 setzt der Londoner DJ Felix Hall als Resident bei NTS Radio einmal im Monat frische Akzente in Stilen wie Dancehall, Dub, Lovers Rock und anderen Spielarten des Reggae. Im selben Jahr kompilierte er für das vom britischen Grafikdesigner, Fotografen und DJ Will Bankhead betriebene Label The Trilogy Tapes Warning – ein Mixtape, das sein umfangreiches Wissen über die unendliche Welt der Riddims eindrucksvoll dokumentiert. Nach der Veröffentlichung eines weiteren Kassetten-Mixes für das japanische Label Cav Empt im Mai 2021 erschien nun auf seinem jungen Label Chrome Now Thing 2 – eine Compilation mit instrumentalen Dancehall-Spezialitäten aus den Jahren 1997 bis 2020, die sich als Nachfolger der Mo-Wax-Compilation Now Thing aus dem Jahre 2001 versteht. Die New Yorker Acid-House-Legende Bobby Konders steuert mit „Lickshot Rewind” einen trocken rollenden Dancehall-Stampfer bei und das extrem produktive, von 1988 bis 2009 aktive Produzentenduo Steely & Clevie zeigt mit „Bitter Blood”, wie Dancehall schon 1999 zeitgenössische Genres wie Footwork andeutete.

Neben führenden jamaikanischen Produzenten der betrachteten Zeitspanne wie Byron Murray, Dave Kelly oder Ward 21, die Dancehall-Stars wie Beenie Man, Capleton, Sizzla oder Vybz Kartel mit waghalsigen Riddims versorgten, bekommen auch unbekannte Künstler, Madd Spider etwa oder Crown Star Productions, ein Forum für Bassmusik, die mit minimalen Zutaten maximale Wirkung erzeugt. Der ebenfalls seit 1978 äußerst produktive jamaikanische Produzent Donovan Germain, kreativer Kopf hinter legendären Dancehall- und Reggae-Labels wie Revolutionary Sounds, Rub-A-Dub oder Penthouse Records, enthüllt mit seiner 140-BPM-Version des Aaliyah-Klassikers „Are You That Somebody”, im Original 1998 von Timbaland produziert, wie erhitzend eine einfallsreiche Fusion von Dancehall und Mainstream-Pop klingt. Eine bewegende Compilation, die abgerundet durch die Liner Notes des britischen Autors Lloyd Bradley, Verfasser des Reggae-Standwerks Bass Culture, einen knappen, mitnehmend angelegten Einblick in die jüngste Dancehall-Geschichte und ihre kompetitive Sound-System-Kultur gestattet. Michael Leuffen 

Diverse – Chill Pill III (Public Possession)

Wie ihre Vorgänger erscheint Chill Pill III mitten im Hochsommerloch. Als Soundtrack zum Stillstand des Spätsommers überwinterte Chill Pill II im CD-Player der Wahl, nun füllen Public Possession das Vakuum mit der neuen Ausgabe einer der bemerkenswertesten Compilation-Serien der Gegenwart – diesmal gleich im Doppelpack. Während auf der ersten Disc der folkige, tageslichttaugliche Unterton von Leftfield-Electronica-Labels wie Claremont 56 gepflegt wird, wirkt die zweite vergleichsweise nächtlichen Formen der Entspannung gewidmet. Ambient, Balearic und Downbeat konstituieren diesen Nu-Disco-nahen Entwurf maßgeblich, zudem spielt der Bezug zu Dub und Reggae in vielen Tracks eine wesentliche Rolle, ebenso eventuell digital erzeugter Lo-Fi-Produktions-Charme und Akustikgitarren-Sounds.Neben Public-Possession-Regulars wie RIP Swirl (traumhaft: „Laguna Beach”), DJ City (grandioser Yacht-Shoegaze: „Cirrus Clouds”), Popp (ohrenschärfend: „Kith”), Nice GirlEden Burns, Vanessa Worm, Andrew Wilson alias AndrasBell Towers und Obalski laden auch wieder viele Neuzugänge zur Entdeckung ein. 6 Undergrounds Cover von Didos „White Flag” besticht als Badalamenti-meets-Lana-Del-Rey-Hybrid, Paul Brändle und Lurie schaffen das mit Akustikgitarren-Solo-Performances, Aiden Ayers mit gelungenem Indie-Soft-Rock-Songwriting. You’re Me und Mogwaa & Xin Seha steuern New-Age-Tunes mit Asia-Touch bei. Spektakulär: Superpitchers neunminütiges „Sometimes”, das Erinnerungen an die hypnotische Magie des frühen Sylvester weckt. Oder „Watermills”, mit dem der französische Producer Turzi den Norman-Whitfield-Gedächtnispreis abräumt, sowie Sofie & Speckmanns fesselndes „Leave”. Chill Pill III ist erneut ein Anwärter auf die Compilation-Polls des Jahres. Kurzum: anders toll! Harry Schmidt

Diverse – Peach Pals, Vol. 2 (Peach Discs)

die Bock auf eine Gartenparty haben, dort aber nicht wie alte Fürze den Weber-Grill angaffen, sondern an zwei Technics-Plattenspielern rumeiern. Das Schöne daran: Alle dürfen mal ran, buen clima schiebt vegane Rippchen bei 150 Grad für neuneinhalb Minuten in den Kreisverkehr, Gramrcy glasiert den Dub mit einer Bassline, die angezuckerter rüberkommt als Oma Beimer nach dem dritten Likörchen und ISAbella zeigt 744 Handyfotos vom letzten Urlaub auf den Balearen her. Weil man nach der privaten Diashow zwei Kurze nachgießt, steigt die Stimmung – Jackson Ryland klopft mit „Hypnotherapy” den Bänger des Grillsaison raus. Mit Knopha zockt man Donkey Kong am emulierten Gameboy Color und überlegt, ob man sich die Zehennägel bei Vollmond schneiden oder mit tondiue doch warten sollte, bis Ninja Turtles mit Cowabunga-Vibes zur Schildkröten-Action aufrufen. Wie auch immer man sich entscheidet – wer mit diesem Sampler Sambuca sippt, verlängert die Sommersaison um sechs Wochen unterm Pfirsichstrauch. Christoph Benkeser

Tolouse Low Trax – Kiosque Of Arrows 2 (Bureau B)

Seit den frühen 1990ern ist der ehedem in Düsseldorf, heute in Paris ansässige Künstler Detlef Weinrich alias Tolouse Low Trax musikalisch aktiv. Zunächst als Mitglied der Band Kreidler, der er der Legende nach einst beitreten durfte, weil seine Plattensammlung so kurios war. Unter dem Pseudonym Tolouse Low Trax wurde er dann ab 2000 als Solokünstler bekannt. Dabei ist seine Plattensammlung noch delikater geworden. Das Hamburger Label Bureau B hat das erkannt und bat ihn, seinen außergewöhnlichen Musikgeschmack, der wesentlich das musikalische Profil der einst von ihm mitgeführten Düsseldorfer Club-Bar Salon Des Amateurs bestimmte, erstmalig mit einer Compilation zu dokumentieren.

Als großer Fan der belgischen Labels Les Disques Du Crépuscule und Made To Measure, dem seit 1984 auf Avantgardekomponist*innen spezialisierten Sublabel von Crammed Discs, ist Tolouse Low Trax immer noch verliebt in legendäre, jüngst erst neu veröffentlichte 1980er-Compilations wie From Brussels With Love oder Made To Measure Vol. 1. Zwei Sampler, die Genregrenzen überwinden, das Experiment schätzen und trotzdem stets raffiniert Pop verbreiten. So nun auch Kiosque Of Arrows 2 – ein mit elf Stücken versehener Sampler, der einer der stimmigsten des Jahres 2021 werden könnte.

Die Musik stammt größtenteils von Künstler*innen aus den 1980ern, wie dem in Barcelona beheimateten Experimentalprojekt Macromassa, der italienischen Minimal-Synth-Band The Stupid Set, japanischen Popsängerinnen wie Viola Renea oder Kaoru Hirose, DsorDNE aus Turin, Venus In Furs aus England oder der US-Amerikanerin Lydia Tomkiw, auch bekannt als ein Teil des legendären Minimal-Wave-Spoken-Word-Duos Algebra Suicide. Dazu zwei verwunschene Arrangements aus der französischen Gegenwart vom mysteriösen Project Bassæ und des Duos Iueke & Lippie. Dass die neuen Stücke exklusiv und die alten als B-Seiten oder One-Off-Samplerbeiträge schwer zu finden sind, versteht sich von selbst. Soviel zu den Fakten. Der Geniestreich liegt aber klar in der Atmosphäre, im Handlungsbogen, der einem nie in Hysterie verfallenden Tolouse-Low-Trax-DJ-Set sehr nahekommt. Ein stilvolles Schweben zwischen vernebeltem Jazz, droniger Dub-Elektronik, dramatischem Sprechgesang-Chanson, Italo-Liebeskummer, japanischer Pop-Avantgarde, waviger Pianoklassik und freier französischer Journey Music in der Tradition von Philippe Doray, Barney Wilen oder Théâtre du Chêne Noir. Tolouse Low Trax bringt all das ungeniert zusammen und webt nebenbei einen anziehend bunten Faden, der experimentelle Schwingungen charmant in Pop verwandelt. Michael Leuffen

Fünfzehn + 1 (Ostgut Ton)

Anderthalb Jahre wurde nicht im Berghain getanzt, anderthalb Jahre lief damit auch der Betrieb auf dem hauseigenen Label Ostgut Ton auf Sparflamme. Statt Klubnacht gab es Kunstausstellungen, statt DJ-Tools auf dem Mutterschiff Klangkunst von Emeka Ogboh und die nachträgliche Veröffentlichung des Bonking Berlin Bastards-Soundtracks und eine LP von Luke Slater in Kollaboration mit Artists aus dem erweiterten Dunstkreis auf dem Ableger A-TON zu hören. Mit der Neueröffnung des Clubs allerdings wird nun die im letzten Jahr durch ebenfalls Luke Slater im Mega-Remix erledigte Jubiläumswerkschau wieder im Compilation-Format ausgebreitet. Schon das Format ist ein Besonderes: Ähnlich wie zuletzt Labels wie Mother’s Finest in Kollaboration mit Midnight Shift oder Hausu Mountain und Deathbomb Arc setzt Fünfzehn +1 auf im Duo oder als Trio gemeinschaftlich entstandene Arbeiten von Residents, clubnahen Produzent*innen oder sogar bisher kaum im Berghain-Umfeld wahrzunehmenden Künstlerinnen wie Jessica Ekomane und Zoë McPherson. Die personelle bringt auch eine stilistische Erweiterung mit sich: Über gut 20 Tracks klingt hier kaum etwas wie gewohnt, auch wenn sich alles buchstäblich auf vertrautem Terrain bewegt – die fünf LPs des umfassenden Box-Sets seien fünf verschiedenen Räumen im Club gewidmet beziehungsweise ziehen ihre Inspiration dorther, heißt es. 

Wo genau die Reise beginnt, das scheint sich leicht am Personal der ersten Stücke ablesen lassen: MMM, Avalon Emerson und Roi Perez, Tama Sumo und Lakuti sowie Substance und Soundstream starten wohl “oben”. MMM mit einem knochentrockenen Groove und understated Melodieführung, die sie sich nur durch wahre Hits leisten können, Emerson und Perez mit einem gut gemeinten, aber doch sehr zerfahrenen Stück und Tama Sumo und Lakuti mit einer funkgetriebenen Verbeugung vor Audre Lorde. Das reißt mit seiner Killer-Bassline in jedem Fall die Lamellen der Panorama-Bar-Jalousien hoch und wird von Substance und Soundstream mit einem verspielten Ausdauer-Jam abgefangen, der langsam aufs Closing vorbereitet. Zuerst aber geht es auf der nächsten LP im „Temple of Love” weiter, wie das bei Len Faki und Honey Dijon heißt, vulgo “unten” mit entsprechenden Sounds: JASSS und Silent Servant, Barker und Luke Slater, Ben Klock und Etapp Kyle sowie Marcel Dettmann und Norman Nodge tun sich außerdem jeweils zusammen, um den Berghain-Floor zu bedienen. Wo Faki und Dijon noch klassisches Opening-Material liefern und JASSS und Silent Servant langsam auf die Peak zusteuern, wagen Barker und Luke Slater ein vertracktes rhythmisches Experiment, das auf dem Floor sicherlich Proteste nach sich ziehen würde – was uneingeschränkt für diese verschlungene, perkussive Etüde in Sachen Die-Dinge-mal-anders-machen spricht. Klock und Kyle halten sich zwar rhythmisch und dramaturgisch ans Altbewährte, garnieren ihren Track aber mit psychedelischen Sounds, der für jedes sirenenhafte „Subzero”-Zitat entschuldigt. Die wahre Überraschung kommt von Dettmann und Nodge, die einen furztrockenen Acid-Electro-Stampfer präsentieren, der gleichermaßen bräsig und energetisch ist – reiner Purismus, alte Schule und ein Instant-Klassiker.

Pom Pom, das Trio Oren Ambarchi / Konrad Sprenger / Phillip Sollmann, Martyn im Verbund mit Duval Timothy, Ekomane und McPherson sowie Atom™ und Tobias. sperren schließlich die versteckte Tür unter der Eisbar zur Halle hin auf. Pom Pom bettet an B12 erinnernden, entschleunigten Ambient Techno in Dubschwaden, die – durch Kazoo-ähnliche Sounds ergänzt – weirde Trip-Gefühle wecken. Der freundliche Kraut-meets-Minimal-Jam der drei Supernerds Ambarchi, Sprenger und Sollmann kommt da als Runterkommmittel gelegen wie ein KiBa nach Rave-Stunde Zwölf. Martyn und Timothy können sich schwerlich zwischen Bar-Jazz, Mo’-Wax-inspiriertem Downbeat und Dub entscheiden und werden von Ekomane und McPherson mit gleichermaßen generativ-slick und muffig-industriellen Sounds weggepustet. Bleibt Atom™ und Tobias nur noch „One Final Thing” zu sagen. Sie tun das in Form einer etwas überambitionierten Spoken-Word-Manipulation – mehr Sound-Art als Musik, angemessener und besser aufgehoben im Kontext einer Ausstellung wohl als inmitten einer solchen Compilation. Schließlich? Steht wohl das Lab.Oratory auf dem Itinerary. Oder geht es doch wieder zurück zur Panorama Bar? Der Opener der dritten LP von Answer Code Request und Gerd Janson wäre wohl auf jedem dieser Floors sowie überall sonst gut aufgehoben: waviger Techno, der mit großzügig gestreckter Bassline viel Pathos verströmt – wie ein Innervisions-Tune aus dem Gefrierfach. Ryan Elliott und – lange nicht mehr im Berghain-Umfeld gesehen – André Galluzzi lassen dann sogar den Sound der späten Nullerjahre wieder aufleben: stur und doch verspielt, minimalistisch und ausdauernd. Für die discoiden Basslines und hüpfenden Melodien ist schließlich die jüngere Generation zuständig: Paramida und Massimiliano Pagliara sorgen mit „Ride Out the Wave” für gedämpfte Euphorie, wenn es so etwas denn gibt – ein House-Tune, der gleichermaßen balearisch wie aseptisch klingt. Toll.

Und das Finale? Findet dann wohl auf dem jüngsten Floor, der Säule statt – zumindest hat es den Anschein. Zwar sind nd_baumecker und Nick Höppner ebenfalls ganz klare Panorama-Bar-Bewohner, für „Labskaus” wagen sie sich aber in IDM-Gebiete vor. Eine sehr willkommene Abwechslung. Was sich nur eben nicht unbedingt vom gemeinsamen Beitrag Terence Fixmers und Phase Fatales sagen lässt: Hier klingt alles ganz genauso, wie es vom intergenerationalen EBM-Gipfeltreffen zu erwarten war – stinklangweilig, aber effektiv. Bei wem es sich allerdings um Comets handelt? Das lakonische Spoken Word mit dem gesingsangtem Refrain “I remember the future” lässt deutlich an Wolfgang Tillmans denken, um seine Stimme handelt es sich allerdings nicht. Und darunter röhrt dann eine Acid-Bassline, die im Chorus von satten Rave-Pianos ergänzt wird, derweil darunter ein Italo-Disco-Beat abläuft. Eine gleichermaßen rätselhafte wie einnehmende Schlussnote für diese Compilation, deren Qualität kaum überrascht – es ist Ostgut Ton, verdammt, die haben nunmal nur die Weltklasse auf der Schnellwahltaste – und die aller Zuordnungsschwierigkeiten zum Trotz, welcher Track nun auf welchen Floor gehört oder sich dort seine Inspiration abholte, dafür umso mehr ungewohnte Experimente und spannende Perspektivwechsel bietet. Denn zwar mögen sich all diese Produzent*innen im „Klub” am wohlsten fühlen – für Fünfzehn + 1 verlassen die meisten aber mit Erfolg ihre Komfortzone. Kristoffer Cornils 

DJ Sprinkles – Gayest Tits & Greyest Shits 1998-2017 (Comatonse Recordings)

DJ Sprinkles als das schlechte Gewissen der Szene zu bezeichnen, wäre zu einseitig. Denn zwar sind Alben wie das monumentale Midtown 120 Blues allemal als bitterböse Abrechnungen mit der Kommodifizierung und Sinnentleerung subkultureller Errungenschaften und Codes zu verstehen, lassen sich zugleich aber ebenso als Verteidigung derer ursprünglichen Potenziale hören. Ein großer Zwiespalt prägt also das Werk von Terre Thaemlitz. Die geäußerte Kritik ist in ihrer Bissigkeit nicht als Entweder/Oder zu verstehen, sondern als Sowohl-als-Auch: Ja, alles ist in kultureller und sozioökonomischer Hinsicht grundlegend beschissen, aber zugleich ist der Club immer noch von politischer Bedeutung – im Schlechten wie im Guten.

So erklärt es sich wohl, dass Thaemlitz dem Dancefloor nie vollständig den Rücken gekehrt hat. Obwohl, und das ist allemal prosaischer, sich mit Deep House und DJ-Gigs im Zweifel auch mal mehr verdienen lässt als mit elektroakustischen Sounds und Konzeptkunst, wie sie vor allem mit dem Klarnamen verbunden sind. Das allerdings ist nur insofern als Widerspruch zu verstehen, wie unter kapitalistischen Wertschöpfungszwängen jede Kunst inhärent widersprüchlich ist – auch und gerade jene, die marxistisch geprägte Kritik an der Gesamtscheiße äußert. Sonderlich viel Kompromisse macht Thaemlitz ja sowieso doch nicht: Was beispielsweise auf dem selbstbetriebenen Bandcamp-Account erhältlich ist, wird ebenso streng kontrolliert, wie nur selten Zugeständnisse an die große Ausbeutung im Streaming-Geschäft gemacht werden: Eine Spotify-Suche nach DJ Sprinkles liefert nur sehr wenige Resultate.

Bei der Compilation Gayest Tits & Greyest Shits 1998-2017 12-Inches & One-Offs handelt es sich dementsprechend um einen ähnlichen (Nicht-)Kompromiss: Die sich über zwei CDs erstreckende Sammlung zum Teil vergriffener 12”-Releases und verstreut veröffentlichter Stücke, von denen das Gros unter dem bekanntesten Thaemlitz-Pseudonym DJ Sprinkles erschien, wird nicht als Download oder per Stream erhältlich sein. Ebenso werden alle Wünsche nach Vinyl-Reissues der Tracks auf der ComatonseWebsite trocken abgeschmettert: „please spare us your shade”, wird Format-Fetischist*innen entgegengehalten, „Sprinkles holds by her opinion that CD sounds better: less noise, greater spectral range, wider stereo field (especially regarding bass), etc.” Weshalb übrigens auch nie mit einem Midtown-120-Blues-Reissue auf Vinyl zu rechnen sein wird.

Fans wird auf Gayest Tits & Greyest Shits 1998-2017 12-Inches & One-Offs dementsprechend wenig Neues, das aber in bester Soundqualität frisch vom Master-Tape geboten. Es sollte ebenso als Erinnerung daran dienen, dass die Disco kein diskursfreier Raum ist – im Guten wie im Schlechten. In ihrer Gesamtheit verdeutlicht die Zusammenstellung, wie gleichermaßen konzise und komplex Thaemlitz’ Kritik aus dem Dancefloor-Handgemenge ausfällt.

Dazu braucht es nicht unbedingt wie auf „Useless Movement” aus dem Jahr 2007 das Voiceover von Laurence Rassel, die über den Widerspruch zwischen identitätspolitischem Essentialismus und dem poststrukturalistischen Mord an der Figur des Autors referiert. Es reicht auch der enervierende Vocal-Loop „There’s some whores in this house” auf „Glorimar’s Whore House” von einer der früheren DJ-Sprinkles-EPs, „Bassline.89”, der gerade durch seine Direktheit unter dem Rave-inspirierten Stück einen doppelten Boden aufmacht:

Wo Clubszene ist, da findet sich auch Prostitution, das heißt Ausbeutung und Gewalt. Dass der Track wunderbar zu Prime-Time-Zeiten laufen könnte und durchwegs mitgrölbar ist, macht die Ironie nur noch feinsinniger. Und dass das Sample erst kürzlich in Cardi Bs und Megan Thee Stallions Welterfolg „WAP” eingesetzt wurde, allemal. Machtstrukturen dort, Empowerment-Versprechen hier: Allein der Abgleich der beiden Stücke offenbart die ihren jeweiligen Kontexten eingebetteten Ideologien.

Wiedererkennbare Basslines grollen unter Gegenwartskritik

Auch wenn der „Broken Record Mix” von „Hush Now” – der überragende Hardrock-Striker-Remix ist nicht enthalten – auf dem Schlachtruf der AIDS-Bewegung endet, „Silence = Death”, aktualisiert sich Thaemlitz’ Kritik in Pandemiezeiten aufs Neue: Derweil seit mittlerweile gut anderthalb Jahren fast die gesamte Welt fiebrig versucht, ein Mittel gegen die Ausbreitung einer Infektionskrankheit zu finden, schmeckt der Gedanke umso bitterer, dass die HIV/AIDS-Pandemie selbst zu ihrem Höhepunkt weitgehend buchstäblich totgeschwiegen wurde. Wie damals werden sozial Benachteiligte und die Regionen im sogenannten Globalen Süden weitgehend übergangen, und aus den graduell immer mehr durchgeimpften Wohlstandszentren ist dahingehend kaum ein Mucks zu hören. Die Geschichte wiederholt sich – nicht aber als Farce, sondern als die zynische Grausamkeit, die sie schon immer war.

Auch wenn DJ-Sprinkles-Stücke ohne ihren Kontext nie gänzlich zu verstehen sind, so funktioniert die Musik an sich doch genauso ohne alle Explikationen und den in der Regel den Veröffentlichungen beigegebenen Essays: Hinter einem Titel wie „Meditation On Wage Labor And The Death Of The Album (Sprinkles’ Unpaid Overtime)” verbirgt sich eben nicht nur ein Edit von Thaemlitz’ monumentalem – 29 Stunden Laufzeit, das ist eine Ansage – Stück Soullessness, sondern auch einer der feinsten Deep-House-Tracks des 21. Jahrhunderts. Obwohl die stilistischen Eckpunkte des DJ-Sprinkles-Sounds weitgehend den formativen neunziger Jahren entstammen, ist der Sound doch immer auf der Höhe der Zeit, soll heißen dem technologischen Status Quo, und Thaemlitz selbst eigenwillig geblieben. Eine Sprinkles-Bassline ist auch wegen ihres bauchigen Sounds und bouncenden Grooves unter Tausenden zu erkennen, ihre Einbettung in ein komplexes und doch eingängiges Klangbild erleichtert die Zuordnung allemal.

Das große Finale von Gayest Tits & Greyest Shits 1998-2017 12-Inches & One-Offs bilden zwei Remixe zu Thaemlitz’ letzter großen Multimedia-Arbeit, Deproduction. Hier ein Stück, das mit Stimmengewirr einen Diskurs über die Absage an die heteronormative Struktur der Familie eröffnet, dort ein ad nauseam geloopter Ausschnitt aus einem Stand-Up-Set, in dem sich der Comedian Paul F. Tompkins über Homophobie aus dem konservativen Lager lustig macht, und den Thaemlitz doch als eine Stimme vorführt, die im selben Zug ein nicht minder konservatives und heteronormatives Bild queerer Familien impliziert.
Das fasst nochmals zusammen, dass Thaemlitz eben nicht nur das schlechte Gewissen dieser Szene ist, sondern in alle Richtungen austeilt, Komplexität als solche anerkennt und auf nicht minder vielschichtige Art und Weise kritisiert. Es handelt sich um eine Form von Gegenwartskritik, die ihre Inspiration im Gestus einer radikalen Nostalgie aus der Vergangenheit schöpft und doch alles andere als vorgestrig wirkt. Sondern konsequent zeitlos. Kristoffer Cornils

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