Die Szene Brüssel mit DJ Marc Grouls, Lawrence Le Doux, Salvatore Ganacci, Soumaya Pheline, Sara Dziri und dem FUSE (Fotos: Presse/ Illustration: GROOVE)

Mit Front 242, New Beat und dem FUSE Club ist Brüssel aus der Technogeschichte nicht mehr wegzudenken. Unser Autor Lars Fleischmann zeichnet das Portrait einer Musikstadt, in der die jüngere Generation von Musiker*innen leisere Töne anschlägt als die Wegbereiter der 1980er und 1990er Jahre. 


Wie Ereignisse, die es in die Nachrichten schaffen, sehr viel und zugleich kaum etwas über die örtliche Szene verraten können, zeigen zwei Beispiele aus Brüssel und seiner Umgebung aus den letzten Jahren. Da war einerseits die riesige Party in einem Brüsseler Park- und Waldgelände, die am 1. April diesen Jahres stattfand. Zwischen 1500 und 2000 junge Menschen trafen sich dort um zu feiern, während die belgische Hauptstadt mit einer Inzidenz von über 500 kämpfte – und in Europa die drittgrößte Zahl von Patient*innen per Capita an Corona starb.

Die gezeigte Ungezügeltheit, die weit über das normale Maß jugendlicher Devianz hinausschoss, steht dabei exemplarisch für eine weit verbreitete Tanz- und Partykultur, die in Belgien und Brüssel weit verbreitet ist. Und vielleicht sogar etwas über die belgische Szene und ihre Anfänge aussagt – eine Szene, die durchaus häufiger auf Krawall und Exzess denn auf Eleganz oder gar Dandytum fußte.

Salvatore Ganacci auf dem Tomorrowland 2019 (Foto: Screenshot)

Ein anderes, auf ganz andere Art und Weise brutales Ereignis – das aber ebenso ins Bild passt – spielte sich 2018 ab, als der schwedische DJ Salvatore Ganacci eine der größten Festivalbühnen der Welt betrat. Beim berühmt-berüchtigten belgischen Vorzeige-Festival Tomorrowland vollführte Ganacci lieber Gymnastikeinlagen als wirklich aufzulegen. Weltweit zeigte sich die Community geschockt: Wie weit hatte sich elektronische Tanzmusik eigentlich von seinen Wurzeln entfernt? Auch in Belgien wurde viel und kontrovers diskutiert. 

Das geschieht gleichwohl schon seit der Gründung des Mega-Festivals. Gerade alten Haudegen, aber auch jüngeren Vertreter*innen der elektronischen Tanzmusik war das Festival immer ein Dorn im Auge – losgelöst von der unklaren Zukunft solcher Veranstaltungen in Zeiten der Covid-19-Pandemie.

Nur wenige Autominuten von der Hauptstadt Brüssel entfernt wurde hier Jahr für Jahr ein Fest gefeiert, das für die Szene rein gar nichts mit deren Werten und Zielen zu tun hatte. Obschon es zeitgleich nicht nur aufgrund seiner megalomanen Bühnenbauten ein weithin sichtbares Zeichen derselben belgischen Tanzszene war und ist. Partyexzesse, ob organisiert oder als ungezügelte Come-Togethers: Sieht so die belgische Szene aus?


Der Kontrast zwischen dem Plague Rave im Brüsseler Wald und jungen Acts wie Cleveland oder Sara Dziri und auch Bildern vom Tomorrowland könnte kaum größer sein. Denn neben dieser Underground-Szene gibt es noch Gabber- und Hardcore-Parties, das FUSE und andere Relikte aus einstigen Glanzzeiten.


Es lohnt sich wahrscheinlich, nochmal kurz zu rekapitulieren, wie die Geschichte des Technos in Brüssel und Belgien überhaupt losging: Parallel zur Entwicklung in England, die zum Acid House hinführte und dem noch etwas kleineren Pflänzchen in Deutschland, gebar auch die belgische Szene Mitte der Achtziger eine Eigenart dessen, was man in Chicago und Detroit gerade spielte und dort House und Techno genannt wurde.

Während sich aber die Engländer*innen, genauso wie ihre transatlantischen Verwandten, vornehmlich alten Disco-Platten aus den Staaten und Italien als Inspirationsquelle näherten, zäumte man in Brüssel, Antwerpen und Gent das Pferd von hinten auf.

New Beat: Electronic-Body-Music-Tänzer, Industrial-Fans und wütende Popper

Der (vermeintliche) Erfinder der belgischen Variation von Rave hat einen Namen: DJ Marc Grouls. Die Legende besagt, dass Grouls 1986 auf dem Plattenspieler daneben griff: Statt „Flesh” von A Split-Second, eine wenig aufregende Synthwave-/EBM-Nummer, mit 45 Umdrehungen zu spielen, landete sie „auf 33” in der Anlage. Das Kind dieser vermaledeiten Verwechslung fühlte sich aber durchaus tanzbar an und übersetzte die „Rock-Nummer” in ein elektronisches Gefühl. Der Name des neuen Projekts: New Beat.

DJ Marc Grouls mit Freunden in den 1980er Jahre (Foto: Archiv GROOVE)

Dass die Geschichte so nicht ganz stimmen mag – geschenkt! Klar, DJs in Brüssel haben schon vorher ihre EBM-Platten runtergepitcht, und auch Bands wie Front 242 experimentierten mit verschiedenen Tempi. Fakt ist aber, dass das Kind in den Brunnen gefallen war. Was fortan die Kids in Brüssel und Lüttich tanzen ließ, klang auf den ersten Blick nicht wesentlich anders als die Raves der Factory in Manchester oder legendärer New-Wave-Läden. Doch New Beat war nicht funky, nicht mal (post-)punkig, New Beat war zuvorderst neu. 

Die belgischen Industrial-Vordenker Front 242 (Foto: Archiv GROOVE)

Und diese Neuartigkeit zog eine ganze Reihe an Sonderlingen an. Im grimmig dreinschauenden Marschschritt, irgendwo zwischen 105 und 115 BPM, fanden sich Electronic-Body-Music-Tänzer*innen, Industrial-Fans genauso wie wütende Popper*innen wieder. Die Folge: Nicht nur Eurythmics werden auf den Sound aufmerksam, sondern vor allen Dingen Diskotheken-Betreiber.

Und natürlich Bands, Bands, Bands. Denn New Beat zog etliche Formationen wie Erotic Dissidents an. Der Mythos ist immer noch riesig: Im Interview erzählt der Brüsseler DJ und Produzent Cleveland, der mit seinem zurückgenommenen und komplexen Sound für ein ganz anderes Verständnis von Clubmusik steht, dass er bis heute mit dem Klischee des belgischen New Beats konfrontiert ist.

Erotic Dissidents (Foto: Archiv GROOVE) 

Gleichzeitig ist es aus heutiger Sicht vielleicht erstaunlich, dass Belgien und speziell Brüssel mal eine der wichtigsten Koordinaten der Techno-Landkarte war. An die Zeit erinnert wenig. Man muss schon Spurenleser*in sein. In den DJ-Sets der 2ManyDJs ließ sich in den 2000ern bei aller Vorliebe für Bastard-Pop auch immer ein Hang zum New Beat raushören. Am offensichtlichsten selbstverständlich im Mixtape Cherry Moon On Valium.


Ganz geschickt wird hier gleich zwei belgischen Techno-Trends gehuldigt: Neben New Beat eben auch dem darken, sauschnellen Hardcore-Sound, der sich ab ’92/’93 durchsetzte. Statt 115 hieß es hier 150 BPM. Was aber Mitte der Achtziger funktioniert hat, klappt auch hier. Nicht auf 45, sondern auf 33 gespielt, gewinnt man Größen wie Yves de Ruyter wieder eine neue Intensität ab. Aber klar, die Neunziger gehörten in Belgien verschiedenen Spielarten von Hardcore, unter anderem Hard Trance und etwas später Hardstyle.

FUSE: Ordnerweise Booker*innen aus der ganzen Welt  

Zur selben Zeit entsteht an Ort und Stelle auch einer der wichtigsten Clubs der Techno-Geschichte: FUSE. Schnell wird der Laden mit seiner Größe, seiner Anlage und vor allen Dingen mit seinem darken Ambiente zur stilprägenden Institution – und ist es bis heute. Einige der Features, die man nicht nur in Berlin, sondern mittlerweile überall in der Welt mit Techno-Partys verbindet, entstehen damals an Ort und Stelle.

Das FUSE überzeugte schon sehr früh durch sein ausgereiftes Booking-System. Die Kontakte aller Booker*innen weltweit wurden in etlichen Ordnern gesammelt. Außerdem verstand das FUSE früh, dass es neben dem Techno-Hype auch einen elektronischen Underground gibt, der zwar wenig vom Loveparade-Scheinwerferlicht abbekommt, aber dennoch mit den gleichen Vorurteilen zu kämpfen hat.

FUSE (Foto: STYN)

Techno war damals immer noch ausschließlich die durchgeknallte Musik für Drogis. Also professionalisierte man sich fortan immer schneller. Und schuf damit auch Strukturen, die vor allen Dingen den Loveparade-Bubble-Burst um das Jahr 2000 überstanden und etlichen DJs, besonders aus den USA, eine sichere Heimstatt boten auf ihren Europa-Ausflügen. Auch wenn er in der Brüsseler Szene selbst eher eine red flag darstellt: Für die heutige Generation von DJs gilt der Club der Inbegriff des Ausverkaufs. Ins FUSE geht man eher nicht.

So sagt Soumaya Phéline heute: „Anfang der 2000er ging ich viel auf Partys. Wenn es dann Techno war, dann ins FUSE oder ins P3P, nach Leuven ins Silo, in die Soundstation Liège.” Heute sehe sie das ein wenig anders: „Wenn ich heute an die Szene denke, dann rede ich nicht vom FUSE. Das ist ein Mainstream-Laden, der nichts mehr mit der lokalen Community zu tun hat. Touristen gehen dahin. Wir nicht. Die haben es schon vor Jahren aufgegeben, sich mit den Brüsseler Künstler*innen überhaupt auseinanderzusetzen.”

Soumaya Pheline: Wir haben uns den Platz in der Szene erkämpft

Wer die charismatische DJ und Promoterin kennt, der weiß, dass sie das nicht ohne Wehmut sagt, denn Phéline ist nicht interessiert an Distinktion, sondern war schon immer aufgeschlossen. Sie habe sich in ihrer Jugend alles angehört: Hip Hop, Noise, Punk, Techno. Mitte der Nullerjahre machte Soumaya aber halblang, ging an die Kunstakademie, fing in einem Videoladen an und schaute lieber nächtelang Filme anstatt wegzugehen.

Daraus ergab sich ein Projekt mit Freund*innen, man nannte sich die Petulas, legte vornehmlich Soundtracks auf – und machte sich einen Namen. Doch recht schnell war Soumaya die Einzige, die übrig blieb. Was sie nicht abhielt weiter aufzulegen – und Leute kennenzulernen. Sie gründete mit Mitstreiter*innen wie Guillaume Bleret die High Needs Low. Eine Party, die genauso queer war, wie sie versuchte, Hoch- und Subkultur zusammenzubringen.

Installationen, Kunstfilme- und Videos gehörten zum Konzept wie der damals vorherrschende Deep-House-Sound. 2013 legte man nach fünf erfolgreichen Jahren – für die Party fuhr man selbst aus dem Rheinland in die belgische Hauptstadt – das Projekt ad acta. Bleret ist heute Teil des Gay-Haze-Kollektivs, das unter anderem eine der wichtigsten Queer-Partys des Landes organisiert – Phéline legte ihren Fokus auf das eigene DJ-Leben.

Soumaya Pheline (Foto: Selene Alexa)

„Als ich anfing, war ich vielen Partygängern ein Dorn im Auge. Zumindest fiel ich extrem auf. Das war nicht immer schön. Es verstörte scheinbar die Menschen, dass ich arabische Wurzeln habe, dass ich ein Arbeiterkind und eine Frau bin. Das wurde nicht immer wohlwollend aufgenommen – was, glaube ich, eher klassistische als sexistische Gründe hatte.” Aufgeben stand dennoch nie zur Debatte: „Es war nicht immer leicht. Aber wir (nicht-weiße, nicht-männliche DJs, Anm. d.Aut.) haben uns den Platz in der Szene erkämpft.”

Lawrence Le Doux/Laurent Badoux: Ich war auf der Suche nach einem Elektroschock

Während Soumaya Phéline zu einer Zeit anfing, sich in Szene-Kontexten zu bewegen und Musik zu machen, als der Fokus in Europa längst auf Berlin, Paris und London lag, zog es Laurent Badoux nach Brüssel, als die Stadt noch ganz heiß war. „Ich bin in den Neunzigern aus Lüttich nach Brüssel gezogen, weil ich wollte, dass mein Kopf explodiert. Ich war auf der Suche nach einem Elektroschock. In Brüssel sah man immer, was in der Welt passierte.”

Er schaue manchmal zurück auf die Zeit und sehe, dass heute alles nicht mehr so ostentativ gehandhabt werde. „Wir waren nicht interessiert an der Vergangenheit, sondern wollten Neues schaffen. Wir hatten gar nicht so viele Möglichkeiten, an alte Stücke zu kommen wie die heutige Digger-Generation – durch Discogs und so weiter. Manchmal ist ein Reissue für die Szene viel bedeutender als aktuelle Produktionen.”

Lawrence Le Doux/Laurent Badoux (Foto: Brieuc Weulersse)

Ein wenig Melancholie schwingt da mit. Gleichsam kann er der Konservierung des Alten auch etwas abgewinnen. Er sei immer mal wieder mit den Spuren der Glanzzeiten der belgischen Szene konfrontiert. So finde er abgefahren, dass das Museum für moderne Kunst die Neonreklame des berühmten Boccaccio-Clubs aus Gent in seine Sammlung aufgenommen hat. In gleichem Maße erstaune ihn aber auch, dass das FUSE standhaft wie alte ägyptische Bauten immer noch da sei, unzerstörbar hat es alle Katastrophen überstanden.

Das Alte und das Neue – wenn man Badoux fragt, dann geht es immer um diese beiden Pole. Früher ging es um Innovation, Musik habe man stets mit einem Auge für das Unbekannte produziert. Alles sei viel kleiner und lokaler gewesen – wenn man sich die totale Verfügbarkeit von Platten, Internetradios und Stream anschaue, dann werde man gleich neidisch.

Lawrence Le Doux/ Laurent Badoux (Foto: Brieuc Weulersse)

Was sich dennoch nicht so sehr verändert hätte, sei der Austausch mit anderen Zentren: Auch bei Badoux war die Nähe zu Köln ein wichtiger Faktor. Gerade der Plattenladen A-Musik und das Label Sonig (inklusive Mouse-On-Mars-Connection) war eine Anlaufstelle. Sein Durchbruch gelang ihm in der Zwischenzeit losgelöst von seinen experimentelleren Produktionen: Als Lawrence Le Doux veröffentlichte er vielbeachtete Platten auf Hivern Discs, Kalahari Oyster Cult und Nous’klaer.

Seine eigene Diskografie ist so vielfältig wie konsequent frei von Trends. Spielerisch verbindet er House, Soundtrack, afrokaribische Drumpatterns von Dub bis Soca. Er sei eben auch nur ein Kind einer Stadt, die unzählige Szenen, Party-Crews und -Kollektive beheimate und nie konform sei. Und wenn es mal in Brüssel nicht reiche, so komme ihm entgegen, dass man hier immer noch Connections aufbaue: Das Festival Supervue in Lüttich zum Beispiel. Dazu geselle sich etwa auch das LYL-Radio, das in Lyon und Paris beheimatet ist und eine Brüsseler Dependance aufgebaut hat.


Alle Gesprächspartner*innen verweisen zwar darauf, dass es immer noch coole Clubs gebe, die besten Orte aber versuchen, mehr als bloße Clubs zu sein. 



Besondere Bedeutung hat für ihn das Meakusma-Projekt. Ein Verein, der hauptsächlich in Eupen tätig ist, dem deutschsprachigen Teil des Landes. Einer der Mitgründer des Projektes heißt Christoph, er wird aber ausschließlich DJ soFa genannt. Mit einer Handvoll weiterer Ostbelgier hat er 2002 von Brüssel aus den Verein gegründet, der heute zu Festival und Label gewachsen ist. Das Festival ist eines der absoluten Highlights im avantgardistischen und experimentellen Soundkalender Europas.

DJ soFa: In Eupen war nicht viel los


Bis 2006 habe er sich um Workshops für Musikproduktion gekümmert. Danach wurde er musikalischer Leiter des Europalia-Festivals, einem europäischen Austauschprogramm, das Belgien und die EU mit Ländern wie Georgien und Indonesien verbindet. Mittlerweile ist er „hauptamtlich“ DJ und macht Musik. Nach einigem Erfolg als Compilation-Zusammensteller – die Platten gingen unter dem Titel Elsewhere zuhauf über die Kassentische und beinhalteten stets einen organischen, analogen Underground-Sound – geht es nun eben auch als Musiker los. Letztes Jahr landete die EP von Mameen 3, einem Projekt das soFa mit seinem Brüsseler Kollegen Cheb Runner ins Leben gerufen hat, in den Bestenlisten.

DJ soFa (Foto: Presse)

Warum es ihn überhaupt nach Brüssel gezogen hatte? „In Eupen war nicht viel los, danach war ich in Lüttich und musste trotzdem dreimal die Woche nach Brüssel, um Konzerte zu sehen. Dann zog ich einfach gleich dahin.” Danach musste er gleichwohl erkennen, dass in der Hauptstadt viel hinter verschlossenen Türen stattfinde. Es gebe eben viele kleinere und private Veranstaltungen. „Das RecycleArt war der erste Club, in dem ich häufiger abhing. Das war aber weniger ein Club als mehr ein soziokulturelles Zentrum.”

Ein wiederkehrendes Motiv: Alle Gesprächspartner*innen verweisen zwar darauf, dass es immer noch coole Clubs gebe (das C12 etwa in einer seltsamen Mall zwischen dem zweitrangigen Zentralbahnhof und der Altstadt), die besten Orte aber versuchen mehr als bloße Clubs zu sein. Besonderer Bedeutung kommt heute der Beursschouwburg zu.


Wie kann der Stadt möglichst gut Künstler*innen unterstützen? Wie kann man Geld, das eigentlich zur Erhaltung alter Museen gedacht sei, ummünzen, um die Szene zu stützen?


Cleveland: Klandestin und am Rande der Legalität 

Ausstellungen, Performances, Konzerte, ein Café, Partys – hier kommt alles unter einem Dach zusammen. Für viele ein passender Ort, der stellvertretend für die ganze Stadt sei: Irgendwie Underdog (für Badoux unbedingt ein Teil der Brüsseler DNA), andererseits urban, divers, großstädtisch.

So vielfältig wie seine Künstler*innen: Phéline hat Kunst studiert, soFa kam als Kulturmanager, Badoux ist Grafikdesigner. Und dabei gleichzeitig der Dozent von Andrea Mancini alias Cleveland. Der Luxemburger mit italienischen Wurzeln kam für das Studium nach Brüssel und arbeitet nicht nur als Musiker, sondern auch als Künstler.

Auch er deutet an, dass die Geheimnistuerei der belgischen Hauptstadt ein Problem sein kann: „Ich hatte das Glück früh an gut informierte Locals zu geraten.” Vorher habe er zwar die typischen touristischen Orte wie eben das FUSE besucht, aber keinerlei Ahnung von der eigentlichen Szene gewinnen können.

Für diese habe er mittlerweile vor allem Liebe übrig: KIOSK.Radio, der Plattenladen Crevette und das Listen!-Festival machen gute Arbeit. Mika Oki ist eines der größten Talente. Bei Cleveland, der selbst ja mit Platten auf Hivern Discs, ESP Institute und Kalahari Oyster Cult begeistern konnte, merkt man, dass es ihm um mehr als nur den eigenen Erfolg geht. Er sehe, gerade auch für die Monate „nach Corona” einiges an Arbeit auf die Stadt und die Szene zu kommen.

Zwar habe er gemerkt, dass die Kreativität in der Stadt auf einem hohen Level geblieben sei, aber dennoch müsse man jetzt Fragen klären: Wie kann der Staat möglichst gut Künstler*innen unterstützen? Wie kann man Geld, das eigentlich zur Erhaltung alter Museen gedacht sei, ummünzen, um die Szene zu stützen?

Cleveland (Foto: Presse)

Gerade in der Legislatur müsse sich einiges ändern: Brüssel leide sowieso unter starken Restriktionen, was Konzessionen und Ausschankgenehmigungen angeht. Anders als man es etwa aus vielen deutschen Städten kennt, gibt es noch Sperrstunden. Das ist für ein modernes Club-Erlebnis, das mitunter auf 24-Stunden-Programme baut, nicht gerade zuträglich.

Das erklärt zum Beispiel auch die häufig genannten „geschlossenen Türen” in der Szene. Vieles muss klandestin und am Rande der Legalität veranstaltet werden. Aber gerade hier könne man schnell den Vorsprung, den Paris, Amsterdam und Berlin immer noch vor der Stadt hätten, aufholen, wenn sich die Gesetze ändern würden.

Sara Dziri: Erkennen, was ich will 

Neben Grafik, Kunst und Kultur kann man aber auch in der Szene etwas werden, wenn man aus einer ganz anderen Ecke stammt. Etwa aus der Soziologie: Sara Dziri ist der aufsteigende Stern am Club-Firmament. Die tunesischstämmige Belgierin ist derweil eine Spätstarterin.

Nach dem Soziologie-Studium in Lüttich arbeitete sie in einigen Büro-Jobs, merkte aber schnell, dass das nicht das Richtige sei. Sie ging nach Toronto: „Das war wichtig, um zu erkennen, was ich will und wo meine Heimat ist.” Zurück in Brüssel ging es zu einem Rave, dem ersten ihres Lebens: „Das war im Catclub und ein lebensveränderndes Erlebnis. Ich hatte nie so eine Musik gehört, nie solche Menschen gesehen.”

Sara Dziri (Foto: Presse)


Obwohl sie in dieser Vielfalt aufging, erkennt sie noch heute, dass gerade auch die Szene in Brüssel noch nicht ganz so weit sei, wie sie sein könnte: „Als eine queere PoC-Frau sieht man einige Sachen anders. Das hat auch zur Gründung meiner Plattform Not Your Techno geführt.”

Dahinter verbirgt sich eine Party und eine Gemeinschaft an Produzent*innen und DJs, die versuchen, die elektronische Tanzmusik nachhaltig zu ändern und zu diversifizieren. Es geht um den Austausch zwischen marginalisierten Positionen im Techno, im House und artverwandten Genres.


Auch abseits davon startet Dziri durch: Ihre Vague Realities-EP auf Lurid Music war einer der Underground-Tipps der ersten Jahreshälfte. Ungeschliffen, hart, Synthie-mächtig – der tribalistische (und durchaus auch von orientalen Samples durchsetzte) Jam-Sound ist heiß begehrt.

Sara Dziri (Foto: Presse)


Noch ist Brüssel ein Geheimtipp; auch seine Orte sind nicht die klassischen großen Highlight-Läden (zumindest nicht für die Locals), sondern eher enthusiastische Community-Places wie Beursschouwburg und C12 – oder kleine Schatztruhen wie das Bonnefooi, wie soFa betont. Die wenigen Pubs und Wohnzimmer-Clubs mit guten Anlagen, die lange DJ-Nächten veranstalten können.

Daneben gibt es immer noch nicht viel. Das ist aber vielleicht auch okay, wenn man sich anschaut, wie offen und von gegenseitiger Wertschätzung die Szene geprägt ist. Alle Befragten konnten gleich mehrere Orte, Partys, Kollektive und Künstler*innen nennen, die sie als hervorragend empfinden.

Es ist dieser Zusammenhalt, der Brüssel in der Zeit nach der Pandemie durchaus auf das Radar der europäischen Szene (zurück)bringen könnte. Gleichsam fällt auf, dass objektiv betrachtet die Szene sehr schöngeistig wirkt. Ein Großteil der Beteiligten hat einen akademischen Hintergrund, arbeitet in den klassischen Feldern der Kreativwirtschaft: Veranstalter, DJ, Musik, Grafik, Kunst.

Der Veranstaltungsort Beursschouwburg in Brüssel (Foto: Presse)

Der Kontrast zwischen dem Plague Rave im Brüsseler Wald und jungen Acts wie Cleveland oder Sara Dziri und auch Bildern vom Tomorrowland könnte kaum größer sein. Denn neben dieser Underground-Szene gibt es noch Gabber- und Hardcore-Partys, es gibt noch das FUSE und andere Relikte aus alten Glanzzeiten.

Interessanterweise ähnelt Brüssel damit eher einer Stadt in der nationalen Peripherie (wie etwa Hamburg in Deutschland oder Lyon in Frankreich), obwohl es das absolute kulturelle Zentrum Belgiens darstellt. Damit sich das ändern kann, müssen vor allen Dingen von Stadt und Land einige Akzente in der Post-Corona-Zeit gesetzt werden. Die Aufhebung überkommener Gesetze und neue Unterstützungs- und Förderstrukturen sollten da vorne an stehen.

Vorheriger ArtikelSuperbooth: Musiktechnik-Messe gibt vollständiges Line-Up bekannt
Nächster ArtikelSven Väth: Trackpremiere von „Feiern”