Pessimist (Foto: Chris Hoare)
Pessimist war nur zu Zeiten seines musikalischen Durchbruchs vorrangig unter diesem Alias bekannt. In den letzten Jahren reihte Kristian Jabs, so sein bürgerlicher Name, Projekt um Projekt, Künstlername an Künstlername aneinander und sprühte dabei vor Kreativität. Mit Boreal Massif frönte er umweltbewusster Bass Music, mit Karim Maas verlor er sich in der Schwerelosigkeit der Dub-Schleifen und als Soft Boi erweiterte er seinen Sound zuletzt nicht nur stilistisch, sondern auch inhaltlich: Neben Vocals feierte der Humor Einzug in Jabs’ Musik.
Im Gespräch mit dem Musiker aus Bristol geht es nur partiell um die Coronakrise, vor allem um ihre Auswirkungen auf Musiker*innen und die verwertungslogischen Schlüsse, die sich aus ihr ergeben. Natürlich ist auch Jabs’ Heimatstadt Thema, ebenso wie Trip-Hop, den sie hervorbrachte und der für viele spätere Stilrichtungen Pate stand. Auch was in der Drum’n’Bass-Szene falsch lief, als er sie enterte, erklärt Jabs – und analysiert außerdem, wieso sich Online-Dating hervorragend als humoristische Inspirationsquelle eignet.
Kein Gespräch, das man innerhalb des letzten Jahres mit Künstler*innen führte, kommt ohne das leidigste aller Themen aus: das Coronavirus. Auch Kristian Jabs schneidet es zumindest an. In der ihm ureigenen Gelassenheit, die nicht nur sein Wesen, sondern auch seine Musik durchdringt, kommentiert er die Krise allerdings nur lakonisch und scheint sich dabei innerlich zurückzulehnen: „Es sind verrückte Zeiten, in denen wir leben.”
Vor allem haben diesen Zeiten ihm Missstände aufgezeigt. Missstände, die im Verwertungssystem der elektronischen Musik schon länger evident waren, deren Wirkmacht das Virus aber potenzierte. „Mich hat das vor allem finanziell getroffen. Und mich dazu gebracht, mir die Frage zu stellen, warum 90 Prozent meines Einkommens vom DJing und Touren abhängen. Das ist eigentlich gar nicht meine Stärke. Die liegt darin, Musik zu machen.”
In der Aussage finden sich Wahrheit und Bescheidenheit gleichermaßen. Als Pessimist begeisterte Jabs mit einem innovativen Gebräu aus Drum’n’Bass und Techno Clubgänger*innen rund um den Globus, diese Gelegenheit erspielte er sich aber mit eigenen Produktionen, die zuvor genau diese Genre-Mixtur zur stilbildenden Formel erhoben. Als Durchbruch bezeichnet er seine EP Balaklava von 2016, deren Titeltrack das Fundament für den dubbigen und zeitweise doch kristallklaren Pessimist-Sound legt, der in den Jahren darauf Hochkonjunktur haben sollte.
„Damit habe ich viele Leute außerhalb der Drum’n’Bass-Blase dazu gebracht, Pessimist zu hören”, konstatiert Jabs unaufgeregt. Noch mehr wurden es mit dem selbstbetitelten Debütalbum Pessimist, das 2017 auf Blackest Ever Black erscheint und dem Namen des Labels alle Ehre macht. Auf zehn schlurfenden, ungemein tiefschürfenden Tracks breitet Jabs darauf eine Klangvision aus, die in den Folgemonaten untrennbar mit ihm verbunden sein wird – auch auf Spotify, was zurückführt zur Schieflage zwischen Reichweite und Ertrag.
„Von mir gibt es dort Tracks, die 50.000 Plays haben. Das ist nennenswert. In anderen Industrien machen Leute aus ihren Fähigkeiten gutes Geld. Wieso ist gerade das Schreiben guter Musik so unterbewertet?” Jabs hat zu seiner Musik und ihrem kulturellen wie monetären Wert einen intimeren Bezug als viele andere Producer. Das liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit daran, dass er mit ihr schon seinen Lebensinhalt bestritt, bevor er von Bristol aus in der Dance Music Widerhall fand.
„Ich habe für die BBC Bristol gearbeitet. Dort werden viele dieser Naturdokus gemacht. Du kennst David Attenborough, oder? Auch für den Discovery Channel habe ich Dokus vertont, die Hintergrundmusik für sie geschrieben.” Dieser Hintergrund überrascht nur auf den ersten Blick, sind die Tracks als Pessimist zwar von einer unnatürlichen Düsterkeit geprägt, aber mindestens ebenso detailversessen und präzise arrangiert. Auf jüngeren Veröffentlichungen wie der Burundanga EP von 2019 fließen außerdem tropische Geräuschkulissen aus dem Amazonasgebiet ein, die Jabs den ihm zur Verfügung stehenden Klangarchiven entnommen hat.
Jabs agiert also nicht ausschließlich im Morbiden. Ein Stiefvater, der in Cornwall den Hippie-Lifestyle inklusive Permakultur zelebriert, und eine brasilianische Stieffamilie haben ihm eine tiefe Naturverbundenheit eingeimpft. Neben dem Alias, das ihn berühmt gemacht hat, sein Naturell als Gesprächspartner aber keineswegs widerspiegelt, hat er 2019 zusammen mit Reuben Kramer als Boreal Massif das Album We All Have An Impact veröffentlicht, das mit schwerfälligem Drum’n’Bass und Trip-Hop die Zerstörung der Umwelt thematisiert und mit „Angel Of Dub” wohl eine der am epischsten hallenden Gitarren der jüngeren Musikgeschichte beinhaltet.
Mit seinem aktuellsten Alias, Soft Boi, kehrt Jabs hingegen eine Qualität nach außen, die in seiner Musik bislang höchstens implizit durchschimmerte: Humor. Klar nannte er auf Pessimist beispielsweise einen Track „Peter Hitchens” nach dem zuerst anarchischen, später radikal rechten, konservativen Theoretiker. „Die Nummer ist so ravig, quasi ein musikalischer Anti-Peter-Hitchens. Der Name hat keine tiefere Aussage, ich wollte damit eigentlich nur Leute verarschen.”
Taking the piss out of people, wie Jabs es in bester britischer Mundart nennt, mausert sich auf dem im letzten Juli veröffentlichten Soft-Boi-Album So Nice aber von der vornehmlich privaten auch zur musikalischen Lieblingsbeschäftigung. Das sinistre, grummelige Klangbild weicht darauf einem bittersüßen Cocktail aus Trip-Hop, Dub, brasilianischen Einflüssen wie auf „Jealous Type”, und, eine gänzlich neue Zutat im Mix, Jabs’ Stimme. Sie erlaubt ihm erst, seinen Humor, laut eigener Aussage „eine der wichtigsten Säulen des Selbstausdrucks”, zu kanalisieren.
Das Singen, besser gesagt das Sprechen, fiel nur anfangs schwer, als er mit zu großer Gravitas ans Werk ging: „Ich mag den Klang meiner Stimme nicht, wenn sie sich zu ernst anhört. Wenn ich versuche, poetisch zu wirken. Deswegen habe ich versucht, so zu klingen, wie wenn ich mit dir oder meinen Kumpels rede. Ich probiere sogar, mich dümmer anzuhören, als ich wirklich bin.” Beim Hören allerdings lassen die Sprechstücke nicht unbedingt einen Rückschluss auf die intellektuelle Kapazität ihres Aussenders, sondern eher auf seinen Bewusstseinszustand zu, den stark sedierende Substanzen in den Ohrensessel zu drücken scheinen.
„Massive Attack und Portishead waren sowas wie meine erste Liebe als Kind. Wenn du in Bristol aufwächst, kommst du gar nicht daran vorbei.”
Behäbig und gleichzeitig mit dem entwaffnenden Gestus des Hofnarren macht sich Soft Boi nicht nur über die Szene lustig wie etwa auf dem selbsterklärend betitelten „Guestlist”, semantisch vergleichbar mit Galcher Lustwerks „Wristbands”, sondern nimmt sich mit Häme und Selbstironie überraschenderweise auch dem Thema Liebe an. Besonders Online-Dating hat es ihm dabei angetan: „Du wirst aufgrund eines Fotos beurteilt, wie du sprichst, auf eine ganz komische Art und Weise. Total oberflächlich. Da ist viel Platz für Humor.” Die albernen Balzrituale auf den einschlägigen Apps fungieren als Petrischale für giftige Spitzen. Ein Zeichen dafür, dass Soft Boi nicht allein ins Leben gerufen wurde, um Leute zu verarschen.
Die Kunstfigur verschafft ihm zuvorderst nämlich „totale Freiheit”, die nach dem Ende einer langen Beziehung bitter nötig war. Lachend verneint er die etwas persönliche Frage, ob er die Inspiration für seine total freien Texte aus aktuellen Erfahrungen mit Online-Dating bezogen habe. „Der Pressetext war so geschrieben, ich selbst habe damit seit Jahren nichts mehr am Hut!” Vereinzelte Erlebnisse von vor einigen Jahren seien aber mit eingeflossen, aus vielen Mosaiksteinen entstand letztendlich so etwas wie ein Narrativ. Seinen Kummer offen vor sich herzutragen und dem*der Hörer*in aufzubürden, vermeidet Jabs.
„Manche Leute haben sich einfach nicht hinter mich gestellt, mir nicht geholfen”
Pessimist über die britische Drum’n’Bass-Szene
Seine Musik ergeht sich nicht in oberflächlicher Coolness, schichtet aber trotzdem zu viele Abwehrmechanismen von Sarkasmus bis hin zu Provokation übereinander, um so etwas wie unverfälschte Emotionalität zuzulassen. Das handhabten die beiden wichtigsten Bands des Trip-Hop fundamental anders, der für Jabs womöglich die prägnanteste Inspirationsquelle für So Nice darstellte. „Massive Attack und Portishead waren sowas wie meine erste Liebe als Kind. Wenn du in Bristol aufwächst, kommst du gar nicht daran vorbei.” Schon Jabs’ Mutter war Stammgast im Dug Out, jenem wichtigen Bristoler Nachtclub der Achtziger, wo regelmäßig The Wild Bunch spielten – die späteren Massive Attack.
„Trip-Hop hält meine Musik zusammen”, gibt Jabs an. Selbst als er Drum’n’Bass produzierte, wollte er Elemente daraus integrieren. Zum Beispiel die markanten Lo-Fi-Snares aus Massive Attacks Mezzanine und „dieses dunkle, soulige Moment”. Doch nicht nur Trip-Hop, auch Bristol selbst beeinflusst Pessimist, Boreal Massif und Soft Boi gleichermaßen. Jabs motiviert es, im Schatten der übermächtigen Hauptstadt London zu stehen. In diesem Schatten, so scheint es, fühlt sich die raue Küstenstadt im englischen Südwesten wohl. „Ich liebe es, Underdog zu sein”, empfängt Jabs diese Losung mit offenen Armen.
Bristol denke out of the box, sagt er – immer noch. Die musikalische Diversität, den Einfallsreichtum, der die Stadt seit Dekaden auszeichnet, gebe es nach wie vor. Das liegt zuvorderst an der riesigen karibischstämmigen Gemeinde, die in den Siebzigern Straßen und Gärten mit Soundsystemen bestückte. Dazu gab es inoffizielle Clubs, die Blues Houses, in denen etwa Dub lief. Diese Kultur brachte auch Musik wie die von Jabs hervor und blieb Bristol bis heute erhalten, wenngleich sie auf den Tanzflächen praktisch nicht stattfindet: „Wenn du gute Musik aus Bristol hören willst, gehst du in kleinere Bars oder Pubs. Die Clubs sind eher kacke. In kleinen Locations entdeckst du die Szene. Clubs sind was für Studenten und haben ziemlich schlechte Soundsysteme.”
So ergibt sich ein Paradoxon: Bass Music, Dubstep und Drum’n’Bass aus Bristol, Tracks von Künstlern wie Ossia und dessen Kollektiv Young Echo, natürlich auch von Jabs selbst, laufen in distinktionswilligen und experimentierfreudigen Clubs auf der ganzen Welt, dröhnen aber kaum aus den örtlichen PAs. Das scheint Jabs aber nicht großartig zu stören. Er reiht Querverweise und Musiktipps aneinander, als versuche er, mir sein musikalisches Bristol in wenigen Minuten vollumfänglich zu zeigen. Viele der Locations seien runtergekommen, vor allem, weil die Leute so entspannt sind. „In Bristol stinkt es überall nach Gras, wirklich überall. Als wäre es hier legal.” Wie die Kausalität gelagert ist, ob das Gras die Entspannung bedingt oder das entspannte Naturell der Bristolianer*innen dessen Konsum, bleibt offen.
Neben den unverkennbaren Sympathien für Trip-Hop ist Jabs’ Kerngeschäft aber noch immer Drum’n’Bass, auch wenn er sich eine Zukunft im Songwriting erträumt. Wohlgemerkt nicht im Fernsehen oder in der Werbung, weil er „Musik für sich genommen” schätzt. Die funktioniert für den Puristen vor allem über die Gemeinschaft. Genau diese hat er im Drum’n’Bass vermisst, als er anfing. „Manche Leute haben sich einfach nicht hinter mich gestellt, mir nicht geholfen”, beklagt er und klingt dabei nicht beleidigt, sondern nachdenklich und enttäuscht.
In der Szene, die ihn seit dem zwölften Lebensjahr begeistert, gebe es „viel Verbitterung. Viele der Älteren machen nur noch beschissene Musik, weil sie’s fürs Geld tun.” Mit den Kollektiven Ruffhouse und Abstractions haben er und Gleichgesinnte sich eigene Umfelder geschaffen, in denen ihre musikalischen Visionen – übrigens ein Wort, das im Gespräch häufig fällt – auf offene Ohren stoßen. Visionen, die einen Paradigmenwechsel im Drum’n’Bass antizipierten: „Der Fokus auf technische Aspekte hat die Musik ihrer Seele beraubt. Man sollte nicht nur auf den Mixdown hinarbeiten.”
Jabs konzentriert sich in seinen Tracks vor allem auf Rhythmen und Basslines, huldigt die Grundtugenden der Genres, die er bedient – und fährt damit gut. Ob als Pessimist, mit Boreal Massif und Karim Maas oder als Soft Boi, ob humoristisch oder in sinistrem Trott, ob in kreativer Entfesslung oder in der Spotify-Matrix: Jabs trotzt jeder Stilrichtung, jedem Zustand etwas Eigenes ab, für ihn die größte Kunst: „Jeder kann gute Musik machen, wenn er sich genug YouTube-Tutorials anschaut. Innovativ zu sein ist hingegen schwer. Das ist für mich am wichtigsten: Die Leute zu überraschen.”