Borusiade – Misfits of Broken Dreams (Pinkman)

Das beste Argument gegen die immer noch relativ geringe Repräsentation von Frauen in der elektronischen Musik ist gute elektronische Musik von Frauen. Die in Berlin lebende rumänische Produzentin und DJ Miruna Boruzescu alias Borusiade liefert auch mit ihrer jüngsten EP ein solches und zugleich den erneuten Beleg, dass tribalistische Klänge in Gedenken an die Industrial- und Post Industrial-Zeiten der Achtziger als Inspiration weiterhin frische Dinge hervorbringen können. Es ist dabei nicht allein die klug zurückgenommene Weise, wie sie die Parameter Pochen und Wummern einsetzt, sondern auch ihre ebenso zurückgenommene Stimme, die im Titeltrack etwa stets im Hintergrund, dafür als Element gleichwohl spielentscheidend bleibt. Wie sie das fundamentale Unbehagen dieses Vokabulars dann zum Pulsieren bringt, hat nichts Abweisendes, vielmehr verleiht sie ihm etwas Dringlich-Anziehendes, Tanzflächenvitalisierendes. Kaputtes kann auch Trost spenden. Tim Caspar Boehme

Gonno & Nick Höppner – Lost (Ostgut Ton)

House-Freude ist gleich IDM-Freude bei der zweiten Zusammenarbeit zwischen Sunao Gonno aus Tokio und Nick Höppner aus Berlin. Vor allem aber ist hier Spiel-Freude gleich Jam-Freude: Die drei Tracks sind in zig Versionen von Tokio nach Berlin geschickt, editiert, verfremdet und wieder zurück gesendet worden, und tatsächlich haben sie die Rest-Verrätselung des Gonno’schen Werks wie auch das locker Treibende, das Höppners Sounds so ausmacht. „Start Trying” lässt die Synthie-Streicher singen, während zu 124 BPM immer neue Farbtupfer in dieses Aquarell ploppen. „Bangalore” hebt an mit abstrakten Maschinen-Trommeln, wird von schmalen Piepsern und kleinkonturierten Aluminium-Clonks strukturiert, um sich dann langsam zum Ding für auch größere Tanzflächen zu strecken. Der Hit aber ist „Love Lost”. In merkwürdigen, zwischen Downbeat und House pitchbaren 110 BPM ziehen Wolken in Bass- und Midrange auf, beginnen Keyboards zu singen und zu pfeifen und es zeichnet sich eine Ende-vom-Rave-Glückseligkeit ab. Nach der „Fantastic Planet EP” von 2016 erneut eine wundervolle Kooperation der beiden. Christoph Braun

Herbert – I Hadn’t Known (I Only Heard) / So Now (Accidental Jnr)

Wenn über die einflussreichsten Musiker*innen der Techno- und House-Geschichte debattiert wird, fallen regelmäßig die einschlägigen Namen der Chicago- und Detroit-Connection, und danach gerne deutsche, flankiert von belgischen und niederländischen Protagonisten. Matthew Herbert gehört aber ebenfalls in die allererste Reihe der Innovatoren. Die Frischzellenkur, die er House in den mittleren Neunzigern verpasst hat, ist zusammen mit der internationalen ersten Minimal Techno-Welle fundamental für alles gewesen, was die Nullerjahre geprägt hat. Diese Wiederveröffentlichung einer Single von 1998 verdeutlicht dies exemplarisch, fast schon wie ein zu didaktischen Zwecken zusammengestelltes Lehrmittel. Ob, wie nun geschehen, „I Hadn’t Known (I Only Heard)” als Titeltrack angemessen ist und nicht wie seinerzeit das wirklich hinreißende „So Now”, sei dahin gestellt – alle vier Stücke sind grandios, zeitlos und immens inspiriert in ihrer vollendeten Verbindung von Reduziertheit und Soulfulness. Unbedingt erwähnt werden muss aber auch Dani Siciliano, deren Stimme auf mindestens drei der vier Tracks zu hören ist und die erheblichen Einfluss auf Herberts Schaffen dieser Zeit hatte – das sollte nicht unter den Tisch fallen. Mathias Schaffhäuser

Nikki Nair – Morphism (Gobstopper Records)

Gestartet 2010 von Mr. Mitch als Next Level-Instrumental-Grime-Label stand Gobstopper Records stets für die avantgardistische Seite des Genres. Folgerichtig also, dass es die engen Genregrenzen bald hinter sich ließ. So hat Nikki Nairs Morphism EP kaum noch etwas mit traditionellem Grime zu tun, vermengt vielmehr geschickt Aspekte aus Electro, Techno und Dub zu etwas Neuem. Die ersten beiden Tracks zum Beispiel sind durchaus Dancefloor-taugliche Electro-Roller. Danach wird es abstrakter, sozusagen Cyberdub und Bass-Ambient für die nächste Evolutionsstufe des Breakbeat-Kontinuums. Musik, die altbekannte Genres hernimmt und sie mit dem futuristischen Glanz der modernen Grime-Soundästhetik zu etwas gänzlich Unerwartetem verarbeitet. Tim Lorenz

Pessimist – Burundanga EP (UVB76)

Als Kristian Jabs vor zwei Jahren sein Debütalbum als Pessimist bei Blackest Ever Black veröffentlichte, hielt es kaum jemand für relevant, minimalistischen Drum’n’Bass und industriellen Techno zu gleichen Teilen miteinander zu verschmelzen. Warum, fragten sich nach dem Release von Pessimist viele, war die Kombination doch ein rhythmischer Gänsehautgarant sondergleichen. Im vergangenen April legte Jabs zusammen mit dem Producer-Frischling Thomas Cooper aka Karim Maas dann eine düstere Illbient-Kollaboration nach und drehte die Schlagzahlen auf ein Minimum herunter. Burundanga geht zwar im Bereich 160-175 BPM wieder deutlich schneller zu Werke, bleibt mit seinem rituellen Tenor aber im Bereich atmosphärischer Drum’n’Bass-Produktionen, zu denen Mensch abzappeln kann, doch nicht muss. Der Einstieg „Ten Eight Seven” hätte genau so auch auf dem Debüt Platz gefunden, beschwört mit Regenwald-Recordings und muldenartigen Breaks die Atmosphäre eines Wellblech-Clubs am Rande Bogotás, ohne direkt Partystimmung aufkommen zu lassen. Dafür sind alle im Raum einfach viel zu voll. Denn Burundanga ist nichts anderes als der Szenename für das Tropan-Alkaloid Scopolamin bzw. Hyoscin, das sowohl im Stechapfel als auch in der Alraune oder der Engelstrompete enthalten ist, und vor allem in Lateinamerika und Spanien als KO-Tropfen einen zweifelhaften Ruf genießt. Es wirkt dämpfend, beruhigt den Magen, kann in hohen Dosen aber auch zu Willenlosigkeit und extrem intensiven Halluzinationen führen. „Lithosphere” scheint diesen Übergang von Apathie zu sich aufbäumender Unruhe mit raunender Distortion und schnalzenden Kicks zu vertonen. Simon Shreeves Remix von „Paian”, ein Track der gleichnamigen Pessimist-EP von 2016, lässt dann langsam aber sicher Panik aufkommen. Der Bodyload setzt ein, Kicks und Hi-Hats signalisieren Übelkeit und Desorientierung, der Beat fährt hoch während der Raum zur Schwitzhütte mutiert. Es dampft noch, als „Thug” diesen Rausch auf die Zielgerade führt: Wummernde aber dennoch ruhende Tiefenspuren, Amen Breaks nach Maß und ein konzises Sampling industrieller Klänge lassen wieder die Pessimist-Signatur aufglühen. So muss das. Atmosphärischer hält derzeit niemand das krustige D’n’B-Erbe am Leben. Nils Schlechtriemen

Vorheriger ArtikelElectronic Beats Podcast: Die Visual-Designerin Leigh Sachwitz im Gespräch
Nächster ArtikelShed kündigt neues Album auf Ostgut Ton an