Kuduro-Event in Sambizanga, Luanda, 2015 (Foto: Anita Baumann)

Tanz ist etwas Internationales – so weit, so binsenwahr. Das Verständnis von dem allerdings, was als Dance Music gilt, wird recht eindeutig von der Verwendung des Begriffes geprägt. Auf der Achse zwischen Nordamerika und Europa zumindest gibt es eine fest definierte und dominante Definition von dem, was weitläufig als elektronische Tanzmusik verstanden werden darf: Disco, House, Techno, Jungle, Dubstep – das wären Genres, die zuerst in den Sinn kämen, wenn er fällt. Nicht unbedingt aber Gamelan, Funaná oder gar Reggaetón. So bildet Sprache kulturelle Hegemonien ab.

Über die Zehnerjahre hinweg hat sich die Musikszene jedoch auf neue Art globalisiert, nachdem die Vertriebswege digitalisiert wurden. Stile und Genres wie Gqom, Kuduro oder Cumbia bekamen erstmalig oder erneut mehr Aufmerksamkeit, das Nyege Nyege Festival ist den meisten mitteleuropäischen Szenekenner*innen genauso geläufig wie der Name von Svbkvlt oder die Grooves von Amapiano. Das Verständnis von dem, was als Dance Music und somit als Clubmusik gelten darf, scheint sich auch endlich zu internationalisieren.

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Zudem ist in den vergangenen Jahren eine Reihe von Büchern erschienen, die populären Musikformen jenseits der nordamerikanisch-europäischen Dominanz des Dance-Music-Weltmarkts gewidmet waren. Während sich Matthew Collin für das 2018 erschienene Rave On auch in die Dance-Music-Epizentren des globalen Nordens begab, lieferte der britische Journalist nicht nur Einblicke in das Treiben in Detroit und Berlin, sondern besuchte genauso die House Nation Südafrika, widmete sich Psytrance in Israel, ging in Shanghai tanzen und fand sich schlussendlich in Dubai wieder.

Der auch als DJ /rupture bekannte Künstler Jace Clayton hatte zwei Jahre zuvor mit dem fulminanten Uproot: Travels in 21st Century Music and Digital Culture einen noch persönlicher geprägten, aber zugleich kulturtheoretisch untermauerten Blick auf die weltweiten kulturellen Auswirkungen der Proliferation billiger (und nicht selten raubkopierter) Technologien in die verschiedensten Regionen der Welt angeboten, von Nordafrika bis Brasilien und darüber hinaus. 

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Sophiatown, Johannesburg, 1955 (Foto: Jürgen Schadeberg)

Die Anthologie Ten Cities. Clubbing in Nairobi, Cairo, Kyiv, Johannesburg, Naples, Berlin, Luanda, Lagos, Bristol, Lisbon. 1960–March 2020 fand ihren Anfang als ein Projekt des Goethe-Instituts und mündet in einer Buchveröffentlichung, welche diese mehr als positive Tendenz weiter auszudifferenzieren verspricht – auch weil die beteiligten Autor*innen sich aus der jeweiligen Region rekrutieren, über die sie schreiben, dem bloßen touristisch-journalistischen Blick von außen also eine fundierte Insider-Perspektive entgegengestellt wird.


Dieser Club mag schon wieder geschlossen und jener Musikstil schon wieder im Absteigen begriffen sein, bevor ihre Geschichte überhaupt erst in den Druck gegangen ist.


Papier ist geduldig – so weit, so binsenwahr. Ein Vorteil daran ist allemal, dass sich Bücher wie die von Clayton und Collin leichter wieder aus dem Regal ziehen lassen als längst im aufmerksamkeitsökonomischen Strudel des Internets untergegangene Online-Artikel über diese oder jene Subkultur wieder aufgestöbert werden können. Zumal Bücher eben auch in ihrer Breite mehr Wissen in sich vereinen und ihren Argumenten in der Tiefe nachgehen, wo im sich schnell drehenden journalistischen Geschäft meist mit 10.000 Zeichen oder etwas mehr alles gesagt sein muss. Auf die Art lassen sich schlecht Geschichten rekonstruieren und nur bruchstückhaft welche erzählen. Dafür indes sind Bücher da: Sie schaffen Mehrdimensionalität. 

Das Ganze hat allerdings genauso einen Nachteil. Groß angelegte Printpublikationen sind immer auf eine Art unzeitgemäß. Insbesondere gilt das für solche, die sich mit rasant entwickelnden kulturellen Phänomenen wie der Clubkultur befassen. Dieser Club mag schon wieder geschlossen und jener Musikstil schon wieder im Absteigen begriffen sein, bevor ihre Geschichte überhaupt erst in den Druck gegangen ist. 

Die Dualität dieser unzeitgemäßen Breiten- und Tiefenerzählung prägt auch Ten Cities. In 20 ausschließlich englischsprachigen Texten werden die titelgebenden Metropolen – Nairobi, Kairo, Kiew, Johannesburg, Neapel, Berlin, Luanda, Lagos, Bristol und Lissabon – mit je zwei längeren Artikeln bedacht, die zwar ungemein ergiebig, aus heutiger Perspektive aber mal in ihren Details oder gar grundsätzlich veraltet sind. Das liegt in der Natur des Projekts, das seinen Anfang in den frühen Zehnerjahren und nach einigen kollaborativen Events im Jahr 2014 mit einer umfassenden Compilation auf Soundway seinen (vorläufigen) Abschluss fand. 

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Robert de Naja alias 3D in Bristol, 1985 (Foto: Beezer)

So geht es etwa in den offenkundig zu derselben Zeit fertiggestellten Texten über Johannesburg von Rangoato Hlasane und Sean O’Toole kein bisschen ums Aufkommen von Amapiano als neuestem südafrikanischen House-Ableger. Auch Tony Benjamin sowie Rehan Hyder und Michelle Henning lassen ihre Geschichte(n) von Bristol beim Siegeszug von Young Echo aufhören, damals also, als Idle Hands nur ein Plattenladen und Livity Sound etwa lediglich ein neues Projekt des Dubstep-Pioniers Peverelist waren.

Die Berlin-Essays des ehemaligen GROOVE-Redakteurs Florian Sievers und des Lost-and-Sound-Autors Tobias Rapp enden derweil mit einer hoffnungsvollen Note, die nach über 100 Clubschließungen in den Zehnerjahren rückblickend mindestens fatalistisch wirkt. Die im Untertitel beigegebenen Jahreszahlen 1960–March 2020 erscheinen deshalb etwas vollmundig: Weiter als bis zu den Jahren 2014 oder 2015 erstrecken sich nur wenige Erzählungen.

Persönliche Geschichtsschreibung und akademische Essays

Auch die Aufteilung der Essays unter den Schlagworten „Music/Spaces” und „Spaces/Politics”, also einem Fokus auf die Entwicklungen musikalischer Strömungen und die Clubs, die ihnen eine Heimat boten, und einem anderen auf größere soziale und auch politische Entwicklungen, die sich auf eben jene Clubs und Stile auswirkten, ist in jeder Hinsicht gut gemeint. Sie sorgt in der Praxis dennoch manches Mal für Redundanzen. Denn wie sich die Geschichte der New Yorker Disco-Szene nicht ohne Stonewall erzählen und der Siegeszug von Techno nicht ohne Mauerfall erklären lässt, greifen Musik und Politik immer ineinander und lassen sich auf Papier dementsprechend nur schwerlich voneinander trennen.

Während also einige Autor*innen die erstere Kategorie dafür nutzen, eine persönliche Geschichtsschreibung der musikalischen Entwicklungen zu verfassen, greifen die eher akademischen Essays aus der zweiten Sparte häufig dieselben Stichworte und Geschehnisse auf. Hier und dort unterscheiden sich die Doppeltexte zu jeder Stadt nur stilistisch oder durch die Anzahl von Fußnoten, nicht jedoch durch merklich verschiedene inhaltliche Betrachtungsweisen. Wer sich das großformatige, 560 Seiten starke Buch an einem Stück geben möchte, muss sich auf die eine oder andere Informationsdopplung einstellen.

Loveparade Berlin 1994 by Tilman Prembs
Loveparade Berlin, 1994 (foto: Tilman Brembs)

Das wiederum schadet allerdings auch nicht immer, und es gibt bemerkenswerte Ausnahmen. Ali Abdel Mohsens Geschichtsschreibung des Nachtlebens in Kairo beispielsweise ist dermaßen umfassend, gut recherchiert und lebendig erzählt, dass sich darüber das Panorama einer ganzen Gesellschaft und ihrer historischen Entwicklung wie von selbst rekonstruiert. Ähnlich Kateryna Dysas Ausführungen zu den großen Veränderungen, die in Kiew zuerst von der Ankunft westlicher Rockmusik, später der Perestroika und schließlich dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Installation kapitalistischer Marktlogik in der Stadt bedingt wurden.

Ebenso ergeben sich in der Gänze spannende Wechselwirkungen zwischen den einzelnen Narrativen. Die Geschichte von Kuduro in Luanda taucht als Spiegelreflex in den beiden Essays über Lissabon auf, wo der Sound von Buraka Som Sistema und später Príncipe Discos wieder aufgenommen wird. Kolonialismus und seine immer noch anhaltenden Auswirkungen auf das globale Musikgeschehen – wobei natürlich diese Ten Cities allerhöchstens ein paar Längengrade voneinander trennen, über Europa und Afrika hinaus geht es nicht – sind ein zentrales Leitmotiv dieser umfassenden Sammlung.


Es vermittelt sich ein Verständnis über die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Hintergründe, vor – und nicht selten: wegen – denen überhaupt getanzt wird.


Dass die Erzählungen alle um das Jahr 1960 herum ihren Anfang nehmen, hat sicherlich viele verschiedene und je nach Region soziale, politische und kulturelle Gründe. Dass in dieser Zeit allerdings die von der Musikindustrie eingeleitete Globalisierung gerade Hochtouren angenommen hatte, findet kaum Erwähnung und damit auch nicht ihr Anteil an den Entwicklungen der einzelnen Städte. Selbst in Kiew aber, können wir lesen, entstand die Rockszene nicht etwa aus dem Nichts, sondern wurde die Musik unter dem Eisernen Vorhang hindurch geschmuggelt. Dass die – vermeintliche – Internationalität von Dance Music somit immer in die globalen Zirkulationsprozesse des Kapitals eingebunden ist, das sein Zentrum im globalen Norden hat, wird nur selten direkt kritisch hinterfragt. 

Stattdessen konzentrieren sich die Texte lieber auf die positiven Bindungen zwischen sozialen Gruppierungen vor Ort oder verschiedenen Szenen und ihren Mitgliedern in aller Welt. Verkehrt ist das nicht unbedingt. Es könnte über geografische Aspekte hinaus jedoch durchaus als Erklärung dafür dienen, warum Kuduro aus Luanda nicht zum Soundtrack für hippe Berliner Clubs mutierte und die geupdatete Lissabonner Variante schon.

Teils veraltete, aber umfassende Narrative

“In the clubs things will not always be all different or better, but they will be clearer and more readable”, schreibt Mitherausgeber Johannes Hossfeld Etyang allerdings im zweiten Teil seines Doppelessays, das die Beiträge einrahmt. Der von ihm herausgestellte Ansatz der 20 Texte, Clubs als politische Orte lesbar zu machen, und zwar im Guten wie im Schlechten, gelingt Ten Cities allemal.

Denn nicht nur lässt sich einiges über die Eigenarten von Musikszenen, Städten und Kulturen lernen, um die es in dem Buch geht. Sondern es vermittelt sich genauso ein Verständnis über die gesellschaftlichen Zusammenhänge und politischen Hintergründe, vor – und nicht selten: wegen – denen überhaupt getanzt wird. Darüber, wie und warum auf dem afrikanischen Kontinent Taxen ein Teil der Musikindustrie sind. Wie in Lagos der Kampf um religiöse Vorherrschaft so manche Kirche zum Club gemacht hat. Welche Rolle Musik darin spielte, ab den sechziger Jahren zwischen der britischen Gesellschaft und den Neuankömmlingen von den Westindischen Inseln zu vermitteln – und wo, wann und warum das bisweilen auch scheiterte. 

Mermaid in Lagos by Mike Calandra
Mermaid, Lagos, 2018 (Foto: Mike Calandra)

Das ist dann wieder einer der Vorteile eines Buchs, das bei seiner Veröffentlichung stellenweise bereits veraltet scheint: Die großen historischen Narrative können nur auf diese Art wirklich ausgebreitet werden. Das Verdienst der Herausgeber*innen Hossfeld Etyang, Sievers und Joyce Nyairo und den Autor*innen liegt darin, sie aus dem Kleinen heraus entwickelt zu haben. Denn Tanz mag etwas Internationales sein. Doch zeigt Ten Cities ebenso eindrücklich wie ausgiebig, dass die Wurzeln jeder wirklichen Internationalität im Regionalen liegen. Induktiv ist das gerade in einer Zeit, in welcher in den meisten Regionen der Welt kein Miteinander im physischen Raum und somit auch keine soziokulturellen Wechselwirkungen mit politischen Konsequenzen möglich sind, wie sie im Zentrum dieser 20 Texte stehen. Was bleibt, ist die Musik: Mahraganat, Fuji, Dub, manchmal auch Techno und House.

Papier mag geduldig sein. Doch zeigt Ten Cities auch in der jetzigen Situation, wie zwiespältig diese vorinstallierte Unzeitgemäßigkeit sein kann. Während sich die Geschichte der globalen Dance Music gerade angesichts der Coronakrise komplett neu kalibriert und die Zukunft ungewisser scheint denn je, eröffnet das Buchprojekt Perspektiven auf eine Vergangenheit, in der globale Krisen ihre Spuren auf dem Dancefloor hinterließen. Es bleibt nicht allein nach der Lektüre allemal ein bitterer Beigeschmack zurück: Diese Geschichten in diesem Buch, die aus heutiger Perspektive so früh abbrechen, sie könnten mittlerweile ihr endgültiges Ende gefunden haben.


Disclaimer: Der Autor hat im Jahr 2020 ein gemeinsames Projekt des Magazins GROOVE und dem Goethe-Institut organisiert und wurde dafür vom Goethe-Institut bezahlt. Anfang 2021 ist ein Text von ihm in einer Anthologie erschienen, die bei Spector Books veröffentlicht wurde, wo auch Ten Cities publiziert wurde. Als vormaliger Redakteur von SPEX hat er bis Anfang 2020 unregelmäßig mit Ten-Cities-Mitherausgeber Florian Sievers zusammengearbeitet.


Ten Cities erschien am 1.11.2020 bei Spector Books.

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Kristoffer Cornils war zwischen Herbst 2015 und Ende 2018 Online-Redakteur der GROOVE. Er betreut den wöchentlichen GROOVE Podcast sowie den monatlichen GROOVE Resident Podcast und schreibt die Kolumne konkrit.