20 Years Cocoon Recordings (Cocoon)
Na, immer noch groggy vom fünfzehnten Lockdown? Statt dir und deiner Freunde nun die Lieblingsclubs dicht? Berufliche Grundlage genauso weg wie Perspektiven? Der Staat scheißt drauf? Vor ziemlich genau einem Jahr meinten szenefremde Neunmalkluge noch in den Feuilletons nach einem „Gesundschrumpfen“ der Clubkultur zu schreien – hoffentlich sind sie nun zufrieden. Doch weil es irgendwie weitergehen muss, neue Konzepte erdacht, Künstler, Klubs wie Labels umdenken und autarker werden wollen und mittlerweile alle nach gesamtgesellschaftlichen Veränderungen egalitärer Natur darben, lässt sich auch eine Pult-Ikone Kaliber Sven Väth nicht lumpen und droppt zur Einstimmung auf den kommenden Sommer schon mal den Jubiläumssampler für 20 Jahre Cocoon Recordings. Wie gesagt: positiv bleiben. Genau das passiert hier. Auf weit über 100 Minuten versammelt der DJ und für manche zum Guru aufgestiegene Produzent tatsächlich einige der abgefahrensten Banger, die das geschichtsträchtige Label bislang in sein Repertoire aufnahm. Schon der Opener „2000“ von Rampa ist eine Hymne für Tanzflurekstasen der denkwürdigsten Art: „Wir schweben im Ganzen. Die Zeit steht still. Unsere Welt – ein Gefühl. Unsere Zeit“ lautet die Devise, serviert über bleependem Tech-House inklusive Minimal-Patch. Das geht so gut runter wie damals. Ähnlich euphorisch setzt das famose „Departure“ des Frankfurters Emanuel Satie an, der wie Solomun, Josh Wink, Tiga, Roman Flügel, Luke Slater, Jacek Sienkiewicz, Extrawelt, Petar Dundov, André Galluzzi und andere Vertreter dieser Sammlung auf eine üppige Diskografie sowie Jahrzehnte an Erfahrung hinter den Decks zurückblicken kann. Aber auch etwas jüngere Top-Producer á la Joseph Ashworth, Gregor Tresher oder Sebastian Mullaert bekommen ihren rechtmäßigen Platz. Deshalb sind neben Tech-House und Minimal zusätzlich diverse weitere Spielarten zu hören – von Ambient über Dub bis Industrial Techno. Aus diesem Potenzial holt 20 Years Cocoon Recordings scheinbar problemlos das Maximum heraus, sitzt doch jeder Track am richtigen Platz der Kompilation und bildet stilistische Synergien, für die das Label in zwei Jahrzehnten maßgebend mitverantwortlich war. Filler? Äh äh. Nils Schlechtriemen
Heisei No Oto – Japanese Leftfield Pop From The CD Age 1998 – 1996 (Music From Memory)
In den letzten zehn Jahren wurde japanische Musik aus den 1970er und 1980er Jahre – City Pop, New Wave, Ambient, japanischer Rare Funk und Jazz, aber auch 1990er-Jahre-House etwa von Far East Recordings – wegen des leichteren, digitalen Zugangs auf den DJ-Bar-Tanzflächen und in den kleineren Clubs Europas wieder entdeckt. Durch die stärkere Nachfrage nach den teils seltenen Platten schossen die Preise durch die Decke. Seither konzentrieren sich die beiden Compiler von Heisei No Oto – zwei Plattenläden-Betreiber aus Osaka, Eiji Taniguchi von Revelation Time und Norio Sato von Rare Groove – darauf, Japan nach unbekannten CD-Veröffentlichungen abzusuchen, von denen nun eine Auswahl auf Music From Memory erscheint Gerade mit dem ökonomischen Aufschwung der Heisei-Ära, die mit der Regierungs-Periode des Kaisers Akihito ab dem Ende der 1980er-Jahre einher ging, der popkulturellen japanischen Obsession zu neuen Technologien und sicherlich auch wegen des kulturellen Phänomens des Kawai, der Verniedlichung als Zeichen des Übergangs, ist es nicht verwunderlich, dass die Compilation eine Ansammlung geisterhaft-süßlichen, mopsig-niedlichen, nobel-verspielten Ambient-Synth-Pop-Songs geworden ist. Zwischen japanischer 1980er-Cutting-Edge-Technologie – Roland Synthesizer, Sampler, Vocoder und 808-Drumcomputer, Naturklängen, Zen-Buddhismus, Asian-Balearic, Slow-Italo und New-Beat-Creol-Grooves a lá Wally Badarou entspinnt sich in 16 Tracks eine träumerische Reise, die Cabrio-Fahrten im Sommer-Sonnenuntergang 2021 in allen Spiegel-Wolkenkratzer-Metropolen der Welt in Zeitlupen-triefenden Honig tauchen wird. Mirko Hecktor
London Pirate Radio Adverts 1984-1993, Vol. 1 (Death Is Not The End)
„Hey Mädels, wenn ihr Boy-Raver für Socializing oder eine langanhaltende Beziehung sucht, ruf einfach unter der folgenden Nummer an.“ Easy-mobeasy, nur mit der „Ravers Dateline“. Was sich wie eine geile Start-up-Idee von schwanzgesteuerten Hans-Jörgs anhört, ging irgendwann in den späten 80ern on air. Auf Pirate Radio Stations. Zwischen Hackney und Soho. Zu einer Zeit, in der man den nächsten Bumms noch nicht von links nach rechts wischen konnte. Was ham’ die Leute wohl den ganzen Tag gemacht? Radio gehört, ham’ se. Und weil die britischen 80s dank Neoliberalisierung und Quotendruck denselben gleichgeschalteten Formatradio-Schaß spielten wie in der BRD, kletterte die wirklich Oargen auf Plattenbauten, um dort ihre Antennen aufs Dach zu klatschen. Radiospaß mit DIY-Ethos – „everyday on Kiss FM“. Pirate Stations waren der Schaltkreis für die Rave-Szene. Man hielt Kassettendecks im Anschlag, um Tapes zu recorden und an Friends auszuborgen. Das klingt heute nach Geschichten aus dem Paulanergarten, war aber wirklich so. London Pirate Radio Adverts 1984-1993, Vol. 1 schlittert mit der Zeitkapsel zurück zu Nachmittagen, an denen einfach mal gar nix los war – und gräbt Werbungen aus. Die klingen heute wie Aliens aus der Zukunft. Oder Zombies aus der Vergangenheit. Jedenfalls rutscht man mit ihnen auf der Nostalgie-Welle in die nächste „Under 18s Disco“ oder checkt sich „High Fashion“ für ein paar Pennys. Wie auch immer: Mit Death Is Not The End haben die Dinger das richtige Label gefunden. Christoph Benkeser
Ten Years of Serendeepity (Serendeepity)
Modefreundlich und Techno-affin? Bevor der Virus sich auch in der italienischen Millionen-Stadt Mailand breit machte, war sie gerade dabei einen Ruf für ihre elektronische Musikszene aufzubauen, dank einer starken Clubszene und einer Vielzahl von Underground-Promotern. Der Plattenladen Serendeepity nimmt dabei schon fast einen historischen Platz ein. Bis heute ist er einer der wichtigsten Bezugspunkte für musikbegeisterte Besucher*innen der Stadt, für lokale Aficionados und für alle Arten von kreativen Köpfen. Seredeepity wurde als Concept Store geboren, erzählt Besitzer Nicola Mazetti. Der Laden hat neben Schallplatten immer auch andere Produkte angeboten, von Magazinen, Büchern, Equipment bis hin zu Kleidung, die ihre eigene Etage auf einer Ebene im Untergeschoss haben. Dort befindet sich auch ein Musikstudio mit einer großen Auswahl von analogem Equipment, in dem im Laufe der Jahre viele Aufnahme-Sessions stattgefunden haben, auch mit auf der Compilation vertretenen Künstler*innen. Die Idee für die Compilation entstand in Amsterdam, im Wohnzimmer eines Freundes von Mazetti. Dieser Freund hatte die Idee für eine Compilation mit Musik von allen Künstler*innen, die Serendeepity über die Jahre unterstützt haben.
Das Ergebnis sind 18 verschiedene Tracks, verteilt auf vier 12-Inches, die im Monatsrhythmus erscheinen. Die ersten beiden Parts glänzen mit organischen Rhythmen von Detlef Weinrich alias Toulouse Low Trax und zackigem Electro von Egyptian Lover oder Neil Landstrumm. In Part 3 nimmt uns Techno-Pionier Thomas Brinkmann mit auf eine philosophische Reise durch die Astrologie, passend dazu der Track-Titel „Apollo 11”. Ein weiteres Highlight ist die Bass-Sequenz in JD Twitch’s „Maria Roda”, die sich nahtlos in das lebendige Drum-Gerüst einfügt. Im finalen Part bringt Local Artist Kreggo in „TICTIC” die Maschinen zum Glühen, während Ellen Allien alte Trance-Vibes mit gewohnt viel Energie wieder zum Leben erweckt. Simon Geiger
Two Synths, A Guitar (And) A Drum Machine (Soul Jazz Records)
Wie aus der monotonen Bassline des Punk Rock die repetitive der elektronischen Tanzmusik wurde, das wäre die Eselsbrücke für den sperrigen Begriff Post Punk Dance. Die Sache hier schwingt und tänzelt von Beginn an. Dafür ist das eine Instrument verantwortlich, das im Titel dieser Compilation mit hauptsächlich Tracks aus der Gegenwart nicht vorkommt: die Bassline von Automatic’s „Too Much Money“ könnte auch einem Buzzcocks-Song entliehen sein, doch der Rest macht synthetisch, und wenn Zongamin übernehmen, dann geht das Frequenzspektrum noch deutlich derber in die Tiefe.
Den Pokal für den besten Band-Namen gewinnen die New Fries aus Kanada, deren Klang an die Peaking Lights erinnert. Mit dem Dub gelangt die Zusammenstellung auch an den anderen großen Vereinheitlicher.
Vex Ruffin arbeitet neben der Stimme des legendären Rap MC’s Fab Five Freddy gleich eine aus den Tiefen einer Echomaschine rausspitzenden Melodika ein, bei IXNA aus San Francisco klingt (eher klang, Soul Jazz hat auch deren verspielt-verspultes „Knot Pop“ aus dem Jahr 1981 wiederveröffentlicht) das gleiche Gerät, als würde es rückwärts laufen, und sowohl Charles Manier als auch Gramme umgarnen ihre Gesangsstimmen mit Wolken und Wölkchen, um ihrem konturierten Synthie-Dance etwas Weiches zu verpassen. Schöne Geschichte, die zeigt, wo diverse Mudd Club-, Madchester-, DFA-Muster weiterverwebt wurden und werden. Christoph Braun