Hits der Clubszene zu benennen, fällt nicht erst seit der Coronakrise immer schwerer – die durchdiversifizierte Techno-, House- und Breakslandschaft lässt sich längst nicht mehr auf eine Handvoll großer Namen begrenzen. Mit unserer Zusammenstellung von 20 Singles wollen wir vor allem eines: Dance-Kultur 2020 in all ihren Facetten zeigen. Mit Stücken und EPs, die stellvertretend für Entwicklungen wie das Drum’n’Bass-, IDM- oder Electro-Revival stehen oder auch einfach nur an die schönsten Isolations-Rave-Momente erinnern. Dass wir das mit 20 Singles allein nicht erschöpfend abbilden können, sei geschenkt. Das hier ist unsere Auswahl von exzellenter Musik, die 2020 uns und unsere Leser*innen begeisterte. In ganz neutraler alphabetischer Reihenfolge mit aktuellen Lesetipps zum Weiterstöbern.
Azu Tiwaline – Magnetic Service EP (Livity Sound)
Beim Besprechen von Musik gibt es ja ein grundsätzliches Problem: Begeisterung für die Sache ist, in Worte gefasst, von Promo-Verlautbarungen manchmal schwer zu unterscheiden. Weil explizites Tollfinden gern gleichgesetzt wird mit Eine-Sache-Verkaufen-Wollen. Zur Offenlegung sei gesagt: Verkauft wird mit diesem Text nichts. Doch die tunesische Produzentin Azu Tiwaline, die bisher mit nur wenigen Platten in Erscheinung getreten ist, gehört mit ihrer jüngsten EP Magnetic Service definitiv zum Spannendsten, was in der Clubmusik derzeit so zu haben ist. Nordafrikanische Perkussion hat bei verschiedenen Produzent*innen derzeit Konjunktur, siehe etwa Bergsonist. Bei Azu Tiwaline ist vor allem die Berbermusik ein starker Einfluss. Daraus webt sie trippig fließende Patterns, die ihre Komplexität nicht demonstrativ zur Schau stellen, sondern diskret rollen und, wenn man kurz nicht auf die polyrhythmischen Akzente aufpasst, sogar den Boden unter den Füßen wegziehen können. Was einen paradoxen Effekt hat: hypnotisierend und desorientierend zugleich geht es zu, immer auch ein bisschen mysteriös, wie ein Nebel, der sich über das Geschehen zu legen beginnt. Hochgradig anziehende Kombination. Tim Caspar Boehme
Crushed Soul – Family Of Waves (Dark Entries)
Electro-Vibes in dumpfer Techno-Manier liefert Steffi unter ihrem Crushed-Soul-Alias. „Scalar Property” startet mit aufgekratzten, kurzatmigem Drumming mit einer anstachelnden Bassline. Der Groove wird von einer eigentümlichen Soundscape geerdet, die einen interessanten, irrealen Klang hat und nicht die typischen Streicher-Sounds nutzt. Der knarzige Bass lässt vielleicht an Kobosil denken in guten alten Zeiten, angenehm zurückgenommen und lebendig produziert. Leicht dumpf, nicht so brillant und klar wie viele aktuelle digitale Produktionen. „Family of Waves” ist eine ravige, trippige Nummer mit satter MDMA-Note, Donato-Dozzy- oder Planetary-Assault-Systems-Style. Die Einstellungen dieses Pad-Synths hat gefühlt Aphex Twin bereits so vertont. Die Synths erinnern auch an Massimiliano Pagliara, nur in den Abgrund geschleift. Die Kick klingt holzig und bauchig, ohne das Gaspedal durchzutreten. „Diffusion of Heat” ist etwas verspielter, bleibt aber im Peaktime-Bereich. Die obligatorische Snare zieht auch mit wie eh und je, das ist ein Produktions-Merkmal, das Steffi wichtig ist. Nicht zuletzt deswegen bewegt sie sich traumwandlerisch zwischen den Genres, die Snare als eine Weggabelung, die sowohl in Richtung Techno als auch in Richtung House führen kann. Julian Eichelberger, Maximilian Fritz, Alexis Waltz
Danny Daze – Propaganda & Manipulation (Omnidisc)
Die musikalische Palette von Daniel Gomez alias Danny Daze ist enorm. In seinem Produzenten-Schaffen reicht sie von Electro über klassischen Techno, noisige und experimentelle Electronica bis hin zu Laufsteg-Musik für Modepräsentationen. Und wenn ihm beim Auflegen danach ist, baut er einen Paula-Abdul-Song in sein Set ein – wie seinerzeit im Berghain geschehen! Propaganda & Manipulation zeigt seine rebellische Techno-Seite mit zwei schnellen Tracks voller hinterhältig-fieser Soundschlieren und Stimm-Samples, die jedem Horrorfilm gut stehen würden, und omnipräsenten, meist subtilen Verzerrungen auf allen Frequenz-Leveln. Die beiden anderen Stücke sind Kooperationen mit dem brasilianischen Musiker RHR, der letztes Jahr auf Omnidisc seine hervorragende Debüt-EP Nocturnal Fear veröffentlichte. Beide Kooperationen sind im Vergleich zu Dazes Soloarbeiten auf diesem 4-Tracker relaxter, aber immer noch jenseits des Mainstreams. „Simbiozes” vermengt einen housigen Beat ohne Schmusefaktor mit funky Vocalsnippets und bleepigen Scratches, schlägt also auch einen großen und eher untypischen stilistischen Bogen, dürfte aber trotzdem das spielbarste Stück der EP sein. Das finale „Planet” dreht dann den Pitchregler auf Minus 16, beginnt regelrecht chillig, bringt aber nach wenigen irreführenden Takten auch wieder Distortion, seltsame Stimmen und einen fiesen Bass ins Spiel, um alle Trip-Hop- oder Beach-Bar-Assoziationen schnellstens zu zerstäuben. Tolle Platte mit dem nicht zu unterschätzenden Nebeneffekt, sie auch als Secret Weapon gegen unliebsame Partygäste, Eltern oder Nachbarn einsetzen zu können. Mathias Schaffhäuser
DJ Plead – Going For It EP (Livity Sound)
Der aus dem australischen Melbourne stammende Produzent Jarred Wheeler hat in den letzten Jahren eine wirklich eigene musikalische Sprache entwickelt. Einzuordnen ist seine Musik zwar irgendwo zwischen Bass oder UK Funky, ein ganz zentraler Einfluss seiner Tracks sind aber levantinische Rhythmusmuster aus den Genres Dabke und Mahraganat sowie Percussion-Sounds, die von Instrumenten wie der Oud und der Daf stammen. Erklären lässt sich dieses Faible dadurch, dass Wheeler familiär einen libanesischen Hintergrund hat. Die neue DJ Plead-EP Going for It ist auf dem stets hochinteressanten Londoner Label Livity Sound erschienen. Beinahe vollständig vertrauen die vier Tracks dieser Platte auf Percussion-Sounds, Synthesizer müssen sich mit sehr knapp gehaltenen Auftritten begnügen. Das Thema Dabke geht der Australier natürlich radikal anders an als etwa Omar Souleyman auf seinem letzten Monkeytown-Album – anders heißt hier vor allem abstrahiert. Eine Midschwiz-Klarinette hört man zumindest auf dieser neuen EP von DJ Plead nicht mal in angedeuteter Weise. Vom Titeltrack „Going for It” bis zum UK-Funky-Banger „Ess”: all killers, no fillers, ganz im Ernst. Holger Klein
Eris Drew – Fluids of Emotions (Interdimensional Transmissions)
Fluids of Emotions ist eine typische Debüt-Veröffentlichung; voller Übermut und Esprit, und mit Ideen, die sich viele etablierte Künstler*innen eher nicht trauen: Angefangen beim Stilmix zwischen trancigem Tech-House und britisch angehauchtem Breakbeat (der wiederum fast schon ein Synonym für Fusion ist), aber auch was die Auswahl der Samples anbetrifft, die alte Hasen vermutlich zu platt und zu gewollt fänden. Tja, oft fehlt dem Establishment eben leider der Mut, sich einfach von Lebensfreude leiten zu lassen und undogmatisch zu agieren. Eris Drews Debüt verströmt genau das, und es verwundert nicht, dass der dritte ravig-balearische Track „So Much LoveTo Give” heißt. Aber keine Angst, Drew, die übrigens zusammen mit Octo Octa das Label T4T LUV NRG betreibt, trägt nie zu dick auf, fährt das Emo-Level immer im richtigen Moment wieder herunter und lässt dann statt berauschender String-Kadenzen oder hypnotischer Arpeggios einfach mal einen Drumloop mit einem Flanger-Effekt unverändert über sechzehn Takte laufen. Nonchalant beweist sie damit obendrein ihre Clubkompetenz. Mathias Schaffhäuser
Eversines – Plooi (Kalahari Oyster Cult)
Nicht erst seit gestern gilt Kalahari Oyster Cult als Tanzmusik-Label für den*die Connaisseur*in. Klein, aber fein hat sich das Label mit Veröffentlichungen zwischen Techno, House, Trance und Breakbeat, zwischen Electro, Acid, IDM und UK Garage einen mehr als guten Namen gemacht. Und da macht der neueste Release von Eversines und RDS beileibe keine Ausnahme. Mal zwitschert die 303 über rasenden Breakbeats, mal taucht man ab ins tribale Untergestrüpp, um dann wieder von Garage-House-Akkordfolgen emporgespült zu werden und letztendlich seinen Kopf im verschallerten Ganja-Dub-Schwaden zu verlieren. Immer macht das Hören Spaß, zuckt das Tanzbein und das letzte, was hier regiert, ist Langeweile. Und wenn die EP dann zu Ende ist, legt man sie sofort nochmal von vorne auf. Tim Lorenz
E-Unity – Duo Road EP (TEMƎT Music)
Um das Jahr 2010 herum gab es Mittwoch für Mittwoch überhaupt nur eine Sache zu tun. Laptop an, Boiler Room rein und die Sounds der Insel genießen. So hörte vielleicht auch Simo Cell das erste Mal von Livity Sound und wurde von den verschachtelten Beats aus Pevs Jomox-Drum-Machine, den widerhallenden Synths, Strings und extravaganten Soundeffekten von Kowton und Asusu bei ihrer denkwürdigen Live-Show von 2012 geprägt. Dass der Franzose ein paar Jahre später dann von eben diesen Jungs veröffentlicht werden und so seinen Durchbruch feiern würde, hatte er sich wahrscheinlich damals vor dem Laptop vibend nicht mal in seinen kühnsten Träumen ausgemalt. Und jetzt ist es Simo Cell selbst, der mit TEMƎT Music sein eigenes Label startet und vielversprechenden Künstler*innen eine Plattform bietet. Die Katalognummer 001 kommt von E-Unity, ebenfalls Franzose, dessen vier Tracks einige Parallelen zum damaligen state of the art aus Bristol aufweisen. Von diffizilen Drum-Patterns à la Pearson Sound angetrieben und mit zahlreichen Effekten und Dub-Vocal-Samples garniert, präsentiert E-Unity seine bisher stärksten Tracks und liefert mit großem Fokus auf die Clubs ab. Bleibt eigentlich nur zu hoffen, dass die bald wieder aufmachen, damit man dieses starke Release angemessen zelebrieren kann. Andreas Cevatli
Forest Drive West – Terminus EP (R&S)
Joe Baker alias Forest Drive West war in letzter Zeit für eigentlich eher dubbigere Vibes bekannt. Nicht so die neue Terminus EP! Beats werden aufgebrochen, Klänge mehr verzerrt, und so entführen vier Neuschöpfungen in ein wildes Jungle-Abenteuer. Beim Eröffnungs-Track „Impulse” wechseln sich aufgekratzte Perkussionen mit schweren, stampfenden Drums ab, was an manchen Stellen fast schon rituell anmutet. Wenn zwischendurch dann fröhlich die Bässe bauchig von unten nach oben gepitcht werden, fühlt man sich schmunzelnd an die ein oder andere Uralt-Dubstep Stimmung erinnert. In brachialer Manier treiben die Sounds nach vorne, während schreiende Vocal-Samples und abgehackte, bratzige Riffs, wie in „Terminus”, klarmachen, dass die Sache verdammt ernst ist. Darf sich dann bei „Void Control” alles entfesseln, wird in einer Art Druckausgleich der klassische Drum’n’Bass-Hüpf obligatorisch. Das Rad wurde hier bestimmt nicht neu erfunden, trotz alledem ist der Weg zum Dancefloor für die komplexen Produktionen in jedem Fall geebnet. Lucas Hösel
Hooversound Presents: Private Caller & Mani Festo (Hooversound)
Mit jeweils zwei Tracks zollen Private Caller und Mani Festo unter anderem der Mutter aller Ravesignale, dem ikonischen „Mentasm”-Staubsauger-Sound, Tribut, der erstmals 1991 von Joey Beltram – unter seinem Second Phase-Pseudonym – auf dem Roland Alpha Juno programmiert wurde. Und das auch noch auf dem Label, das sich nach eben jenem Klang benannt hat: Hooversound. Auch sonst fliegen einem die Frühneunziger-Rave-Reminiszenzen hier nur so um die Ohren, von hyperventilierenden Proto-Jungle-Breakbeats bis nordenglischen Bleeps und Clonks und MC-Befehlen ist hier alles vertreten. Glücklicherweise verstehen sowohl Private Caller als auch Mani Festo ihr Handwerk, sodass der Spaß nicht in schalen Retroklischees versumpft, die nach vorne preschenden Hommage-Tracks vielmehr jede Menge Spaß machen. Tim Lorenz
James Bangura – James Bangura EP (Vanity Press)
Eine der Neuentdeckungen dieses noch jungen Jahres haben wir dem Label Vanity Press aus Ann Arbor in Michigan zu verdanken. James Bangura ist ein Newcomer mit einer Vorliebe für Electro, Juke, Techno und Bass Music zwischen UK- und Detroit-Prägung. Bei Soundcloud ist er schon länger recht umtriebig, doch ansonsten ist der junge Produzent aus Washington, D.C. bisher im internationalen Techno-Zirkus nicht wirklich aktenkundig gewesen, obwohl er bereits 2018 ein Album mit dem Titel Transitions veröffentlichte und mit PercussionFunctions im letzten Jahr sein eigenes Label gründete. Dass wir auf all das aufmerksam werden, ist nun seiner ersten Vinyl-Veröffentlichung zu verdanken. Hier ist die Handschrift von James Bangura schon deutlich eigener als auf Transitions. „Broken Mind” verbindet fliegende Juke Hi-Hats mit dezenten Dub Techno-Andeutungen, „Color of Rhythm” beherrscht die Disziplin des Weglassens meisterhaft, dubby kommt dann „Lucid Memory” daher und den Schlusspunkt dieser hervorragenden EP setzt „2129” mit seinem „Think”-Breakbeat. Ganz gleich wie quirlig das Rhythmusgerüst ist, irgendwie klingt James Bangura dabei immer Zen. Holger Klein
Johannes Volk – Extra Dimensions (Running Back)
Mehr als 30 EPs hat Johannes Volk veröffentlicht, seit er 2006 auf dem Axis-Sublabel 6277 seinen Einstand gab. Unter anderem auf Sistrum, Cocoon, Token und seinem eigenen Imprint Exploration. Auch auf seinem Running-Back-Debüt verleugnet der im Umfeld der Frankfurter Techno-Szene sozialisierte Producer seine Vorliebe für Detroit Techno Jeff Mills’scher Prägung nicht, was sich insbesondere an der konzeptionellen Haltung sowie der metallischen Härte der Percussion-Elemente festmachen lässt. Dennoch geht Volk über diese Setzung hier weit hinaus, auf jedem der sechs Tracks in eine andere Richtung. Lotet das Titelstück noch die Schnittmenge von Techno und Moroder-Disco aus, fächern die folgenden beiden Nummern unterschiedliche Facetten im Werk von Kevin Saunderson auf: Während die gärende Bassline unter „Reload Love” Anklänge an manche E-Dancer-Produktionen evoziert, darf „An Old Android On A Broken Piano” wohl getrost als Verbeugung vor den House-Projekten des Belleville-Three-Pioniers aufgefasst werden. Italo Disco ist das Thema der B-Seite: „Hypno Hypno” weckt ganz bewusst und systematisch Erinnerungen an Who’s Whos „Hypnodance”, „Rainbow Rockets” an Charlies „Spacer Woman”. Trotz ihrer Referenzialität wirken die Tracks jedoch nicht epigonal – stets gelingt Volk eine zugleich höchst kreative und kohärente Umsetzung der historischen Ideen in eine eigene Formensprache. Wie es Gerd Janson bewerkstelligt, jenseits aller Genre-Schubladen ein makelloses Labelprofil zu modellieren, ohne je auch nur für einen kurze Moment einen Qualitätseinbruch zu erleiden, wird allerdings von Release zu Release rätselhafter. Harry Schmidt
Lårry – Kauz (Super Hexagon)
Die Shopseite von Juno Records listet Lårrys EP Kauz unter Electro, Deejay.de stellt Detroit und Techno als Stichworte davor und Beatport sortiert die EP im Fach Electronica/Downbeats ein. Fehlt eigentlich nur noch Breakbeat/Drum’n’Bass, denn davon finden sich auch mehr als nur Spurenelemente auf diesem 5-Tracker. Aber vermutlich hat irgendeine andere Downloadplattform diese Genrebezeichnungen auch im Angebot. Und alle haben sie recht, allerdings immer nur bezogen auf einzelne Stücke von Kauz oder gar nur Ausschnitte davon. Also der Reihe nach: Der Titeltrack ist softer Electro mit Flächen in Detroit-Tradition auf fast schon Jungle-Tempo, Stück zwei sehr schneller Techno auf hohem Reduktions-Niveau kurz vor der Implosion, und Track drei geht als experimentelle Bass-Music-Fusion durch. Auf Vinyl folgt dann der „Cocktail Party Effect Remix” des A2-Tracks „Derdach”, der klingt wie Dubstep auf 45 statt 33 RpM und sowohl die stilistische Offenheit als auch die alle Originale verbindende eigentümliche Sanftheit der Stücke fortführt. Für die unphysische Fraktion gibt es dann noch einen digitalen Bonustrack namens „Bessernach”, der ohne Beats, aber keinesfalls ruhig daherkommt und gut als nervös-euphorisierender Breakdown eines speedigen Technokrachers funktionieren könnte. An die Arbeit, Edit-Schmiede! Mathias Schaffhäuser
Nikki Nair – Number One Slugger (Banoffee Pies Records)
Nikki Nair will es wissen. 2019 überhaupt erstmals auffällig geworden, hat er binnen eines Jahres sechs Releases auf sechs verschiedenen Labels vorgelegt: Gobstopper Records, Scuffed, Tram Planet, Muy Muy, Pretty Weird und nun Banoffee Pies. Number One Slugger heißt der 5-Tracker und präsentiert einen Musiker, der mit Schlagwerk tatsächlich gut umzugehen versteht. Das Ergebnis auf der A-Seite ist eine eigenwillige, erfrischende Version von Electro-funk. Afrika Bambaataa, Mantronix und Egyptian Lover sind die Urahnen dieser Musik, die der aus Knoxville, Tennessee stammende Nikki Nair modern interpretiert. Das macht er, in dem er zum Beispiel Elemente aus Drum’n’Bass („Super”) oder Rave („Slug”) einstreut. Die B-Seite ist minimaler, verzichtet fast durchgängig auf die Bassdrum, bleibt aber rhythmisch. Gleichzeitig streut Nikki Nair die Einflüsse weiter, öffnet sich für afrikanische Sounds und asiatische Zurückhaltung. Auf früheren Releases hat er durchaus auch House oder Minimal Techno bedient. Davon ist hier direkt nichts zu hören. Macht nichts. Dafür erleben wir einen Musiker, der sein Repertoire sukzessive erweitert und sich zu eigen macht. Und das in einem krassen Tempo. Mal sehen, wo das noch hinführt. Sebastian Hinz
Nite Fleit – The Film Just Breaks (Return To Disorder)
Überlebensgroßes Drumming fährt die in Australien geborene Londoner Producerin Alysha Fleiter alias Nite Fleit, Sternzeichen Düsenantrieb, Aszendent Senkrechtstarter, auf ihren vier Tracks für Helena Hauffs Label Return To Disorder auf. „My mind is going” stöhnt HAL 9000, während zu dramatischen, metallischen Drumrolls zugespitzte Monster-Beats in „Empty Nest Syndrome” eine gradlinige Schneise durch den Technofloor fräsen. Ähnlich dark zwischen Rave und Industrial gelagert, zerhäckseln die beiden Electro-Tunes „Naive“ und „Can’t You See“ kompromisslos alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Den im zweiten Fall dominant wirkenden Acid-Faden nimmt „Rebel Faction“ sogleich auf, um, nun wieder metrisch etwas stranggepresster, jedoch unter Akzentuierung der geraden Taktteile, mit verwaschenen Choral-Stimmen ein sinistres EBM-Feel zu erzeugen. Unaufhaltsam, dieser Filmriss. Harry Schmidt
Otik – Wetlands (InterGraded)
Der britische Produzent Otik ist Spezialist für verfeinerte Nervosität. Von London vor kurzem nach Bristol gezogen, gibt er auf InterGraded, Midlands Graded-Sublabel, ein paar Kostproben seines aktuellen Entwicklungsstandes. Sind es im Titeltrack dichte afrikanische Perkussion und im Hintergrund rhythmisch geloopt murmelnde Stimmen, die den Großteil der Nummer im Alleingang bestreiten, lockert er in „Clairvoyant” mit zwei himmelwärts zirkulierenden, ineinander verschränkten Synthesizer-Figuren das unruhig flackernde Beatfundament mächtig auf. In „Gravel” wird das ruckelige Rhythmus-Geflecht dann noch einmal – durch stroboskopartig flirrende elektronische Flächen – heftig geschreddert. Mit „Whole Wide Worlds” schließlich kommen wieder Field-recording-artige Stimmen ins Spiel, dazu Akkorde in wattiger Ambient-Manier, die hektisch programmierten Trommeln geben sich hingegen wie ein Drum’n’Bass-Update. Musik, die einem beim Tanzen Raum zum Nachdenken gönnt. Tim Caspar Boehme
Overmono – Everything U Need (XL)
Hier kommt eine richtig gute neue EP der Gebrüder Russell alias Overmono. Der ältere der beiden, Tom, ist schon seit rund 15 Jahren unter dem Namen Truss als Techno-Produzent aktiv, während sein zehn Jahre jüngerer Bruder sich unter dem Namen Tessela als Breakbeat-Spezialist einen Namen gemacht hat. Die Tracks dieser Platte simulieren eine dieser wunderbaren Rave-Afterhours, die man sich mit all ihrer Romantik und diesem Wechselbad aus weltumarmender Euphorie und zum Sterben schöner Melancholie derzeit so gerne erträumt. Stets weht ein Hauch von 90s-Techno-Rave durch die Tracks, immer wieder sind Referenzen an den klassischen UK-Electronica-Sound der frühen Neunzigerjahre zu hören. Im nächsten Moment fragt man sich, ob man sich nicht verhört hat, also ob die ganze Sache nicht viel eher eine Referenz an Border Community ist. Und ja, „Aero” ist ein riesengroßer Hit, genauso wie der Bassline-Tune „Clipper (Another 5 Years)” mit seinen Breakbeats und diesen entrückten Keys. Holger Klein
Pearson Sound – Alien Mode EP (Hessle Audio)
Pearson Sound gehört seit 15 Jahren zu den zuverlässigsten Produzenten aus Großbritannien. Spannend ist dabei gerade in Bezug auf seine aktuelle EP, wie seine Ursprünge im Dubstep mit der Zeit gut hörbar in einem modernen Entwurf von Techno aufgegangen sind. Der geht spielend mit Referenzen aus IDM und Breakbeats um, ohne dabei klischeebeladen zu wirken. Dieses Zusammenspiel zeigt sich im titelgebenden Track, in dem UK Hardcore und Bleeps über einem düster-metallischen Vocal shaken, das sich an modernen Großraum-Techno anlehnt. „Cowebs” wiederum erinnert an die hyperaktiven Stücke von Forest Drive West wie „Cut and Run” und „Cannibal”. Pearson Sounds Faible für allerhand Cowbells und Bongos ist schon auf seinen Arbeiten als Ramadanman zu hören und kommt hier im Sampling von nigerianischem Folk von Adewale Ayuba vollumfänglich zur Geltung. In die über 150 BPM schnellen Grooves kann man sich förmlich den darauffolgenden Jungle oder Footwork Track auf großer Bühne hineindenken. Auf „Everything Is Inside Out” wird es dann tracky. Wieder konterkarieren die Drums die Synths, nur diesmal andersherum. Während sich letztere in der Tradition klassischer IDM-Tracks aus den 90er Jahren bewegen und jene melodiösen Spitzen zeigen, die Pearson Sound auch auf seinen letzten Platten in „Our Spirits Soar” oder „Robin Chasing Butterflies” immer wieder eingeflochten hat, bedienen die Drums eher das aktuelle Pearson-Sound-Credo. Einfach gut. Wie immer. Tim Caspar Boehme
Peder Mannerfelt – Like We Never Existed (Voam)
Karenn gaben mit ihren letztjährigen Releases den Takt auf ihrem neugegründeten Label Voam vor: Höllisch treibender Maschinentechno, so elaboriert und gleichzeitig reduziert, dass damit gleich schon Referenzpunkte gelegt wurden. Nur konsequent, dass die dritte Voam-Veröffentlichung jetzt Peder Mannerfelt bestreitet, gilt der Schwede seit ein paar Jahren doch selbst als Referenz für ebenso eigenwillige wie eindringliche Maschinenmusik jedweder Art. Auf Like We Never Existed schaltet er mehrere Gänge nach vorne und liefert vier pumpende Techno-Stücke. Das geht mal Acid-induziert wie bei „Black Alert”, mal rumpelnd überbordend wie bei „Everywhere, Everywhere”. Beim letzten Stück „A Queen” fühlt man sich an einen weiteren Sonderling der Maschinenmusik erinnert: Im Zusammenspiel von scharfkantig-metallischen Beats und sphärischen Synths blitzt kurz der früh-analoge Aphex Twin der 90er auf, seines Zeichens bekanntlich selbst die Referenz schlechthin. Steffen Kolberg
Shed – Tectonic (Tectonic)
René Pawlowitz war stets ein Anhänger des Bristoler Labels Tectonic, einem der originären und wegweisenden Grundsteine der frühen Dubstep-Szene. Und auch wenn sich diese leider längst aufgrund von EDM aufgelöst hat, hält Labelhead Pinch seine Plattform tapfer am Leben und versucht, den Sound weiterzuentwickeln oder wenigstens an die guten Zeiten zu erinnern. Kein besserer Ort also, um für Shed eine neue Version der kreativen Bass-Musik-Mutationen zu veröffentlichen, die vor etwa zehn Jahren noch so hoch im Kurs standen und desorientierte Dancefloors aufmischten! Auf „Try” fängt er die schwermütige Atmosphäre der bassgewaltigen UK-Stepper haargenau ein, komplett mit Streicher-Breakdown und Reese-Bass. „Box” traut sich mit Half-Time-Kicks und scharfkantigen, metallischen Snares in die experimentelle Grauzone zwischen Techno und Bass, während das fiepende Schlusslicht „Sweep” mit seinen stolpernden Bollerbeats und hochfrequenten Piano-Piepsern die intensivste Seite von Rave herausstellt. Nachdem sich Shed auf seinem 2019er-Album Oderbruch streckenweise für ein organischeres, ambientes Sounddesign entschieden hatte, kehrt er auf Tectonic passenderweise wieder zum brachialen Industrial-Standard zurück. Leopold Hutter
Tobias. – 1972 (Ostgut Ton)
Mit 1972 setzt Ostgut Ton einmal mehr qualitative Maßstäbe. Tobias Freund alias Tobias. brilliert mit hervorragendem Mixing eines von ihm lang entwickelten warmen Sounds, der trotz aller Verspultheit konstant stimuliert. Beim Titelstück darf man sich beispielsweise über die im Panorama hin- und herflackernden Hihat-Rolls mit brüchigen Streichern freuen, die in einem vokalen politischen Einspieler enden. Bei allen Tracks changiert die Stimmung stets zwischen zarter Ernsthaftigkeit und einer Art somnambulen Losgelöstsein. Leicht herausragend ist dann aber doch noch „The Wisdom Of No Escape”. Hier verbindet sich ein treibenderes Beatgerüst mit organisch tropfenden Glasperlenklängen. Der extrem feinfühlige und leicht drohende Bass, den nur von beschwörerische Stimmeingaben unterbrechen, erzeugt so eine kontrastierende Stimmung, die absolut fasziniert.
Dieser Beitrag ist Teil unseres Jahresrückblicks REWIND2020. Alle Artikel findet ihr hier.