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November 2023: Die essenziellen Alben (Teil 1)

Actress – LXXXVIII (Ninja Tune) 

Über die Jahre hat sich der Produzent Darren Cunningham alias Actress in seinen eigenen Kosmos eingesponnen. Anfangs mit mehr House und Bass Music, später mit mehr Ambient und Spielereien rund um die Genres herum. Passt daher, wenn er sein aktuelles Album nach dem vor drei Jahren erschienenen 88 betitelt, statt der arabischen jedoch die römische Zahlschrift verwendet.

Mit der Musik hält er im Grunde Kurs, wobei das mit dem Kurs sich bei ihm nicht unbedingt auf einen einzelnen Begriff bringen lässt. Luftige Klaviertastereien stehen weiter neben rhythmisch straffer strukturierten Nummern, die meistens mehr nach Erinnerungen an Clubtracks klingen als nach etwas, zu dem sich Menschen entschlossen bewegen sollen. Dieses tönende Nachdenken über das, was einmal House und Verwandtes war, bringt diverse Höhepunkte hervor, darunter die Single „Push Power (a1)” mit ihrem Kontrast zwischen trocken stockendem Beat und introspektivem Klavier. Zu Letzterem kehrt Cunningham dann in unterschiedlichen Konfigurationen zurück. Das Ganze ist von Schach inspiriert, daher die Buchstaben-Zahlen-Kombinationen in den Tracktiteln, Vergleiche mit Manuel Göttsching drängen sich aber kaum auf. Actress bleibt sein eigenes Beast, was bei ihm nach wie vor eine gute Nachricht ist. Und im anfangs von einem verzerrten Monolog dominierten „Typewriter World (c8)” dreht er am Ende richtiggehend auf wie früher. Tim Caspar Boehme

Anatolian Weapons – Earth (Subject to Restrictions)

Kommen wir gleich zum Punkt: Earth von Anatolian Weapons ist eine sehr gute Platte. Sie hat so ein bisschen den Vibe von einem Mittelaltermarkt, wo helle Barden einmal im Jahr Game of Thrones spielen, indem sie auf antiquierten Trommeln rumklöppeln und lustige Röcke tragen, um dann so was wie Honigwein aus Tonbechern zu süffeln. Das ist lustig, wenn man gern mal die Klingen kreuzt. Und das sollte man ja regelmäßig tun. Bis man es dann nicht mehr tut. Und dann fährt man, so wie diese Platte, auf Urlaub – also eigentlich nimmt man den Flieger, weil man ja nicht zwei Wochen unterwegs sein will, bis man endlich da ist, wo die Sonne scheint. Das ist alles eine große „Evolution”, man sieht plötzlich „Three Suns” und irgendwelche Klugscheißer beginnen, sich über polyrhythmische Überlagerungen auszutauschen. Also wird die Sehnsucht nach den Schwertern größer, bis man sich zurückwünscht ins Mittelalter. Dort war zwar nicht alles besser, aber zumindest hat man solche Barden noch geteert und gefedert. Das geht heute nicht mehr, aber das ist ja auch ok. Christoph Benkeser

Ayesha – Rhythm is Memory (Kindergarten)

Auch Zitieren will gelernt sein. Für die New Yorker Produzentin Ayesha scheint das keine Schwierigkeit darzustellen. Auf ihrem Debütalbum Rhythm is Memory geht sie Clubmusik einerseits sehr eigensinnig, andererseits durchaus traditionsbewusst an. Unter anderem spielt tribalistische Perkussion für sie dabei eine nicht unwichtige Rolle. Die setzt sie dann auf die für sie am besten geeignete Weise ein. Mal im Goa-Trance-Sinne, mal versorgt sie Techno-Strukturen mit frischer Luft. In „Lurk” etwa kommt der Hooversound regelmäßig zum Einsatz, doch als so knapp abgeschnittenes Sample, dass man ihn kaum erkennt. Raubeinige Breakbeats mag sie ebenfalls, in „Mother Tongue” werden sie mit Hi-Hat-artigem Zischen zur heftig fordernden Rhythmusattacke. Eine wiederkehrende Konstante der Platte ist der Yell von Loleatta Holloway aus „Crash Goes Love”, den seinerzeit zum Beispiel Armand van Helden in seinem „Witch Doktor” verewigte. Bei Ayesha wird Holloways Stimme ausgiebig gewürdigt, ohne zu ermüden. Überhaupt viel Kraft, die sich da eine Dreiviertelstunde lang Bahn bricht. Tim Caspar Boehme

comforter2 – Tell Me Something Happy (Before I Fall Asleep) (Nous’klaer)

Ich gebe es zu: Beim Hören der ersten drei Stücke dieses 16-Track-Albums dachte ich: „Hier mag einer die Achtziger aber sehr gern” und „Wenn das alles ist, ich weiß ja nicht recht”. Denn, man muss es sagen, besagte drei Stücke des Projekts comforter2, das aus Tammo Hesselink, Ricky Cherim alias Meetsysteem und Marianne Noordzij besteht, klingen wie eine Mischung aus The Cure, The The und Joy Division. Das ist okay, aber halt auch ein wenig abgeschmackt. Glücklicherweise bleibt es aber nicht dabei.

Denn im weiteren Verlauf öffnet sich die Klangästhetik des Albums, wird interessanter. Mal clubbiger, mal mehr in Richtung Electronica. Und dazwischen auch mal ein kleines Noise-Ambient-Zwischenspiel. Der Gesang erinnert dabei ein wenig an Death Cab For Cutie oder Dntels Indie-Electronic-Projekt The Postal Service. Die sind vielleicht auch eher der Bezugspunkt als oben genannte Achtziger-Ikonen. Hübsche, melancholische Song-Vignetten, irgendwo zwischen Indie-Pop und IDM in topmodernem Sounddesign. Und dass zum Ende des Albums wieder E-Bass und -Gitarre die Führung übernehmen, ist dann auch okay. Tim Lorenz

Credit 00 – Midnightlife Crisis (Pinkman)

Pinkman hat sich ja sonst eher der düster-krachigen Seite kontemporärer Electro-Musik verschrieben, Credit 00 zieht aber mal ein paar andere Saiten auf. Wobei: düster ist seine Electro-Sicht auch, jedoch eher düster-melancholisch als düster-krachig.
Das macht sofort der hymnische, fantastische Opener „Music Is A Spiritual Thing” klar. Und in diesem Stil geht es weiter, auch wenn viele Tracks weniger hymnisch denn Peak-Time-ready wirken. Mal wird so sehr mit Electro-Klischees gespielt, dass jede Puritanerin die Flucht ergreift, mal einfach nur hypnotisch losgestampft, zwischendrin für einen veritablen Electro-Pop-Hit auch mal der Gesang ausgepackt. Und auch der Humor kommt nicht zu kurz, wie man an Tracktiteln wie „Outtabahn” oder „My Utopia Is Your Dystopia” erkennen kann. Kurz gesagt: ein perfektes, höchst abwechslungsreiches Electro-Album, dass dem mittelalten Kraftwerk-Fan genauso begeistern dürfte wie den jüngeren Bass-Music-Enthusiasten. Tim Lorenz

Danny Daze – ::BLUE:: (Omnidisc)

::BLUE:: ist unter anderem als Show fürs Planetarium konzipiert, entsprechend im Tasten-und-Erforschen-Modus beginnt das Debütalbum des Danny Daze aus Miami, Florida, USA. Sie, also die Aliens, werden uns am Klingeln erkennen. Denn „Tone Ring” funkt sachte Signale hinaus ins blaue Himmelszelt, wo die grünen Persönchen wohnen. Es brutzelt und knuspelt, bis irgendwann die Menschmaschine herumdruckst.

Selbst auf Stino-Kopfhörern ist Präzisionsklang herauszuhören; die Auflösung ist hoch wie ein Weltraumbahnhof. Das Mastering hat Joshua Eustis von Telefon Tel Aviv übernommen. Er bringt endlose Ambience in einen prädefinierten akustischen Raum von ungefährer Wohnzimmergröße (ca. 2,20 Meter hohe Decken; viele Teppiche). So nimmt ein Electro-Album zum Hören und Erkunden Gestalt an: „Smack” enthält quadratische Bässe, deren Verläufe sich von all jenen tanzen lassen, deren Körpermasse aus Gummi besteht. Lediglich den Punch fühlen, ohne ihn zu hören, macht die Floor-Tauglichkeit von „I’m Fallin’” mit seinen eleganten Detroit-Sounds ohne Beat aus. Ein weiteres typisches Stück für ::BLUE:: ist „Entity” mit grazilen Synthie-Verästelungen und Beats aus der Ferne.

So ist der Miami-B-Boy Daze einen weiten Weg gekommen. Anwendungsbeispiele für diese Aufnahmen sind Herbstabende, Winterabende, Aussicht vom Berggipfel. Und die Planetariumsshow könnte interessant werden. Christoph Braun

DJ Manny – Hypnotized (Planet Mu)

Verliebt sein kann so schön sein. DJ Manny ist es offenbar, in seine Musik und seine Partnerin SUCIA!, die ebenso an den Reglern steht und mittels Footwork die nervösen Beine therapiert. Das treibt ihn auf Hypnotized in neue kreative Bahnen.

Und gemeinsam macht man es experimentell, deep: „Hard Drive” ist eine Zusammenarbeit mit SUCIA!, mit bolden Vocal-Samples und ballernden Drums – abgeschmeckt, typisch Manny, mit einer süßen, irgendwie etwas kauzig-skurrilen Melodie und – nach kurzem Drum’n’Bass-Intermezzo – einem Chor. Super Rezept, lecker. „WTF Goin On”: noch so ein Ding, ähnliches Rezept, ähnlicher Geschmack. Wieder eine knuffige Tonfolge. „Ooh Baby”: Obligatorisches DJ-Rashad-Feature. Ist doch klar! „I Can Luv You”: Noch ein Liebeslied. „Und was für eins!”, möchte man hinterhertippen. In diesem Fall mit interessanter Percussioneinlage. Was im Reggae das „I’n’I“ („Wir“), ist bei Manny „You N You“ und im gleichnamigen Track verewigt. Liebe und Gemeinschaft: offenbar Teil seiner Religion, und seine Musik Soundtrack der legendären Chicagoer Footwork-Get-Together. In Zusammenarbeit mit DJ Phil wird sich geschmackvoll ein Lamar-Sample angeeignet – was ein Hit! Es herrscht kein Bangermangel. „Overnight Flight” ist bewusst ein wenig düsterer gehalten, Manny weiß seine Alben wohlig zu kuratieren. „Want U Bad” vibet mit Techno-Sounds. Sagt Manny „Turn Me Up”, sagt niemand nein, wie albern die Message musikalisch auch verpackt ist. Auf „Opera” ist tatsächlich eine Opernsängerin zu hören, das ist zumindest etwas kurios. „Lost In Da Jungle” ist ein sehr feiner Jungle-Track (er kann alles). Mit „Deep In My Mind“ schließt das Album, und wir schließen es direkt deep in unsere hearts. Lutz Vössing

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