Jeden Tag werden DJ-Mixe ins Netz geladen. Manche sind besser, manche sind schlechter und nur wenige werden uns jahrelang begleiten. Jeden Monat sucht die GROOVE-Redaktion die fünf besten Mixe des vorangegangenen Monats aus, präsentiert in alphabetischer Reihenfolge. Diesen Monat mit Chino, Eric Cloutier, Hoe_mies, Jonathan Kaspar und Silvia Kastel. Und wer danach noch nicht genug hat, schaut einfach mal beim GROOVE-Podcast vorbei.
Chino – PNKMIX 61 (Pinkman)
Roh und kantig, düster und hart, Wave und Industrial. Attribute, die sowohl auf die polnische Underground-Rave-Szene als auch auf einen ihrer interessantesten Vertreter zutreffen: Der DJ und Produzent Chino ist bekannt für seine renommierte, mit Olivia zusammen kuratierte Partyreihe We Are Radar, die auch schon mal Künstler*innen wie DJ Stingray und The Exaltics nach Krakau bringt. Und als wäre das nicht schon Aushängeschild genug, ist Chino auch noch Resident beim weltweit geschätzten Unsound Festival.
Diesen Monat beschert er der Podcast-Reihe des Rotterdamer Imprints Pinkman einen Beitrag. Zwischen Dark Wave und schonungslosem Techno treibt Chino die sinnbildlichen Maschinen immer weiter voran. Roboterartiges Surren und Schnaufen geht einher mit klirrenden Electro-Synth-Melodien. Satte Acid-Lines, trippy Bleeps, kompromisslose Basslines und irgendwo im Hintergrund heulen gesampelte Vocals vor Freude. Bei einigen wird man vergeblich auf der Suche nach Track-IDs sein. Eigenes, unveröffentlichtes Material lässt jedoch auf spannende Releases hoffen.
Auch technisch zeigt sich Chino gewohnt versiert: Die Tracks sind gut aufeinander abgestimmt und erlauben zwischendrin kurze Atempausen, um danach wieder mit voller Kraft Fahrt aufnehmen zu können. Die Übergänge sind clever und verzichten auf große Experimente. Ein Mix, der sich anfühlt, als könnte es Chino kaum noch erwarten, eine drängelnde Crowd über einen Dancefloor zu dirigieren. Jan Goldmann
Eric Cloutier – Election Night Chill Vibes (Palinoia)
Die Präsidentschaftswahl in den USA war nicht nur für Politikinteressierte ein nervenaufreibendes Event. Weltweit, aber in erster Linie vor Ort, schaute man mit einer ungemütlichen Mischung aus Angst und Hoffnung auf die finalen Ergebnisse. Der inzwischen in Berlin lebende DJ und Produzent Eric Cloutier hat die Wartezeit genutzt und einen knapp dreistündigen Mix aufgenommen, um unsere Nerven zu beruhigen, während wir auf Neuigkeiten aus den USA warteten. Tiefentspannt führt uns Cloutier auf seinem Bürostuhl durch seine Plattensammlung.
Mit dem geisterhaft kriechenden Ambient-Stück „We Live Inside A Dream” von Certain Creatures, oder Stiletti-Anas düsterem „Saturn 02 (Ambient Mix)”, präsentiert er in dieser Session unendlich tiefe Musiklandschaften, die ihn nicht erst seit dem ein oder anderen Corona-Lockdown beschäftigen. Cloutiers musikalischer Output bewegt sich selten in nur einer Nische, was man in dieser Home-Session wunderbar zu hören bekommt. Exaktes Mixing spielt hier keine Rolle. Stück für Stück geben sich die einzelnen Scheiben das Zepter in die Hand, und wir alle können uns voll und ganz auf die Musik konzentrieren. Philipp Thull
Hoe_mies – Foundation FM X HÖR (HÖR)
Here we go again: Lockdown Runde zwei heißt auch Runde zwei für Zoom Partys, United We Stream und Solo-Gin-Tonic im Wohnzimmer. Ebenso verloren wie man selbst, während man in vorbildlicher Isolation allein durch die Wohnung tanzt, fühlen sich sicherlich auch viele DJs, während sie ihre Sets in den nicht-responsiven Äther pumpen. Wohl dem*der, der*die eine*n DJ-Partner*in-in-crime hat – so wie die Hoe_mies. Die Berlinerinnen Lucia Luciano und Gizem Adiyaman sind nicht nur hinter den Decks ein Dreamteam, sondern veranstalten (in Nicht-Coronazeiten) auch Partys, mit denen sie die Repräsentation von Frauen* of colour in der Clubszene erhöhen wollen und sprechen über queerfeministische Themen in ihrem Podcast Realitäter*innen.
Ihr Set für HÖR ist nicht nur musikalisch Balsam für die Seele: In Höchstgeschwindigkeit rasen die Hoe_mies durch hochenergetische, basslastige Edits gefühlt aller 90s-Klassiker; von Crystal Waters’ „Gypsy Woman (She’s Homeless)” über Aaliyah und Missy Elliot hin zu Fergie und Justin Timberlake. Highlight: Eine kurze Performance zum No-Angels-Edit von „Daylight”. Coolness-Attitüde: Fehlanzeige! Hier wird jeder Track begeistert abgefeiert, ausgelassen tanzen die beiden durch die winzige geflieste Kabine und performen, als hätten sie 500 Leute zu unterhalten. Mit roughen Cuts und unerwarteten Remixes quer durch die Genres schaffen die Hoe_mies Querverbindungen zwischen Electro, R’n’B, House, Hip Hop und Funk. Mit ihrer ungebremsten Spielfreude gelingt ihnen, was nicht vielen gelingt: Die Begeisterung und den energetischen Funken auch durch den Stream überspringen zu lassen. Eine Stunde ungebremste gute Laune, die wir diesen Monat dringend nötig haben! Laura Aha
Jonathan Kaspar – Kottenforst (RAMBALKOSHE)
Rambalkoshe beschreibt sich selbst als eine kleine Gruppe kollaborierender Individuen aus Armenien. Sie gilt als Zuhause für Konzerte, moderne Kunst und Künstler*innenmanagement zugleich. Ihr Ziel ist es, die irgendwo zwischen Klang und Form verborgenen Emotionen aufzudecken. Aktuell beteiligten sich schon über 100 DJs und Musiker*innen an Rambalkoshe, darunter Sebastian Mullaert, Acid Pauli oder Christian Löffler.
„Kottenforst” ist der Titel des diesmonatigen Mixes von Jonathan Kaspar und erstreckt sich über beinahe drei Stunden. Der in Köln ansässige DJ und Produzent hat eine Residency im Gewölbe und ist vor kurzem der Kompakt-Crew um Labelchef Michael Mayer beigetreten. Sein Mix erstreckt sich von klassischen Deep-House-Tunes über rhythmischen Afro House bis hin zu melodiösem Electro. Die Übergänge sind angenehm fließend und könnten musikalischer kaum sein. Genau das Richtige, um positive Energie für die kommenden Lockdown-Tage zu tanken, tagträumend durchs Herbstlaub zu schlendern oder sich in der Küche gemütlich zu bewegen. Simon Geiger
Silvia Kastel – Fact Mix 785
Experimentalmusiker*innen und DJ-Sets – eine liaison dangereuse. Ein Mindset voller verkopfter Sound Art und eine bekömmliche Abfolge von Tracks gehen eben nicht zwangsläufig zusammen. Bei Silvia Kastel verhält sich das grundlegend anders. Die Italienerin, die 2018 mit Air Lows ein faszinierendes Debütalbum vorlegte, kredenzt mit ihrem FACT Mix ein 50-minütiges Bouquet aus zugänglich-abseitigem Spaß.
Los geht’s mit Nelly Furtado, der Schnittstelle zwischen pflichtbewussten Radiohörer*innen und Hipster*innen mit Hang zur sentimentalen, großkalibrigen Pop-Geste. Mit im Mix tummelt sich selbstredend auch eine stattliche Dosis Underground-Credibility. DJ Plead, Rrose, Mans O oder Svbkvlt-Säule Hyph11e im Kode9-Remix geben die grundlegende stilistische Ausrichtung vor: Experimentelle Bass Music mit jeder Menge Schlenkern in atonale Gefilde, durch die Kastel aber behände einen roten Faden webt. Grandios auch 6SISS’ „No Isms” oder Gafaccis „Sweetest Taboo Remix”, der Sades Soul angstlos entrückt, ohne dabei wirklich respektlos zu wirken.
Kastel nähert sich konzeptioneller Extravaganz, wie sie Festivals wie das Unsound oder das Berliner CTM propagieren, verträglicher, zutraulicher als üblich. Aufgesetzte Subversion scheint ihre Sache nicht zu sein. Gehirn und Körper tanzten hier in trauter Einheit – wenn sie denn dürften. Verdient hätte es dieser späte Mix des Jahres. Maximilian Fritz